Aktuelle Rezensionen
Manfred Seifert/Thomas Schindler (Hg.)
Wohnen jenseits der Normen
(Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, 56 [2021]), Ilmtal-Weinstraße 2022, Jonas, 261 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-89445-592-7
Rezensiert von Christiane Cantauw
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.08.2024
Eine Auseinandersetzung mit den Rändern des Feldes Wohnen ist nicht nur angesichts der politischen Diskussionen um Mietpreisbremse oder das Wohnen im Einfamilienhaus aktuell. Zu diesem Feld historische und alltagskulturelle Zugänge zu finden, ist eine Stärke unseres Faches und kann die Perspektive auf das Wohnen erweitern. Hier setzt der vorliegende Sammelband „Wohnen jenseits der Normen“ an. Er beinhaltet insgesamt neun Referate zur gleichnamigen Tagung, die 2019 an der Philipps-Universität in Marburg stattfand. Initiatoren der Tagung waren der Arbeitskreis „Das Haus im Kontext. Kommunikation und Lebenswelt“ und das Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Im Call wurde um Tagungsbeiträge gebeten, die „die Vielgestaltigkeit längerfristig praktizierter Wohnarrangements ‚jenseits des ‚Mainstreams‘“ beleuchten sollten. Zur theoretischen Rahmung wurden im Call das Raumorientierungsmodell von Eric Cohen und Ina-Maria Greverus sowie Hartmut Rosas Konzept der Resonanzerfahrung herangezogen.
Der Tagungsband gliedert sich in die vier Segmente „Rechtliche Ambivalenzen und milieuspezifisches Mittelmaß“, „Wohnarchitektur jenseits der Normen – Sonderbauten“, „Wohnentwürfe von Künstlern und Visionären“ sowie „Wohnpraxis in Um- und Sondernutzung“.
In seiner Einleitung, die zugleich eine inhaltliche Rahmung des Feldes vornimmt, charakterisiert Manfred Seifert den Wohnbegriff als wissenschaftlich nur schwer handhabbar. Weder die Auffassung vom Wohnen als konstanter Größe noch die kultur- und sozialwissenschaftliche Relativierung des Feldes hätten in der Vergangenheit dazu beigetragen, das Forschungsfeld deutlicher zu konturieren. Das gelingt aber leider auch nicht über die Sammlung von Beispielen, die Seifert aneinanderreiht. An ihnen lässt sich zwar zeigen, dass Normen und die Abgrenzungen von ihnen fluide sind und waren, zur Beschreibung und Konturierung des spezifischen Zugriffs, der hier gewagt werden soll, trägt das allerdings nicht viel bei. So ist der Zugewinn an Erkenntnissen am Ende doch eher gering: „Versteht man so gesehen das Wohnen als Referenzbereich des lebensweltlichen Kontextes, so erscheint es beinahe selbstverständlich, dass die gelebten Wohnpraktiken nicht nur gesetzten Normen und gesellschaftlichen Üblichkeiten folgen, sondern sich fallweise auch über diese hinwegsetzen.“ (35)
Der erste Abschnitt der Publikation nimmt „Rechtliche Ambivalenzen und milieuspezifisches Mittelmaß“ in den Blick. Hier geht es erklärtermaßen um grundsätzliche Positionen, die für die Vormoderne (Daniel Schläppi) und das beginnende 20. Jahrhundert (Stefan Groth) analysiert werden. Am Beispiel der Schweizer Kleinstadt Zug geht Daniel Schläppi der Frage nach, wie Interessen der Allgemeinheit und der Individuen im Kontext des Wohnens gegeneinander abgeglichen wurden. Für das 16. bis 18. Jahrhundert hat er hierzu Ratsprotokolle ausgewertet, die erkennen lassen, wie beispielsweise feuerpolizeiliche Verbote in der Praxis immer wieder aufgeweicht wurden. Im Ergebnis zeigt sich eine Verzahnung von öffentlichen und privaten Einflussnahmen, die offenbart, dass ressourcenschonendes „Wohnen bzw. Hausen […] jenseits der Normen in der vormodernen Kleinstadt Zug die Norm gewesen“ ist (61), dass also für den Untersuchungszeitraum die Frage nach „‚Wohnen‘ dies- oder jenseits von Normen“ (46) nicht relevant ist.
Stefan Groth widmet sich in seinem Beitrag dem „kleinen Wohnen“ und fragt danach, wie das Leben auf kleinem Raum konkret legitimiert wurde. Beispielgebend sind die Siedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen, die 1930 bis 1932 als Mustersiedlung des Neuen Bauens errichtet wurde, und das Rathenauviertel in Zürich. Auf eher dünner Quellenbasis diskutiert Groth das Wohnen auf kleinem Raum zwischen Notwendigkeit (hohe Mieten) und Konsumkritik.
Das Segment zur „Wohnarchitektur jenseits der Normen – Sonderbauten“ umfasst die Beiträge von Michael Schimek und Stefan Zimmermann. Michael Schimek beschreibt das behelfsmäßige, meist übergangsweise Wohnen in selbstgebauten Hütten aus Grassoden oder Heideplaggen zwischen dem 18. und beginnenden 20. Jahrhundert auf Basis von obrigkeitlichen Quellen. Er arbeitet gut heraus, dass es vor allem sich verändernde Konzepte von Hygiene, Sicherheit, Fortschritt und regionaler Identität waren, die den behördlichen Feldzug gegen diese Erdhütten, die eigentlich ein Randphänomen waren, befeuerten. Die amtliche Intervention verhinderte letztlich nicht prekäres Wohnen, sondern ersetzte eine prekäre Wohnform durch eine andere. Dass dabei synthetischen Baustoffen der Vorzug gegeben wurde, ist eine spannende Erkenntnis. Die Rolle der Erdhütten in den regionalen Museen wird leider nur angerissen. Hier besteht noch Forschungsbedarf.
Finnischen Fertighäusern in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1970 wendet sich Stefan Zimmermann zu. Am Beispiel des Holzrahmenbaus kann er belegen, wie die Normen des Bauens im Laufe weniger Jahrzehnte um den Holzrahmenbau respektive das Fertighaus erweitert wurden. Diese Entwicklung verlief allerdings nicht konfliktfrei. Vorwürfe gegen den Holzrahmenbau, wie die Häuser seien ja nur ‚bessere Barracken‘, belegen, welche normative Rolle die regionale Baukultur in diesem Zusammenhang spielte.
Den „Wohnentwürfe[n] von Künstlern und Visionären“ gehen Ute Sonnleitner, Jens Wietschorke und Anne D. Peiter in ihren Beiträgen nach. Unter dem Titel „Bohème im bürgerlichen Heim?! Wohnformen darstellender Künstler*innen“ diskutiert Ute Sonnleitner die Funktion des Wohnraumes von Kunstschaffenden als Bühne privater und öffentlicher Inszenierung. Sie kann herausarbeiten, dass dem Wohnen im Rahmen von ihren (Auto)Biografien eine Rolle als Nachweis von Erfolg zukommt. Dabei geht es auch darum, die eigene Wohnbiografie als Erfolgsgeschichte zu beschreiben und die erreichte Wohnform als bürgerliche Normen übertreffend darzustellen. Wohnen jenseits der Normen wird dementsprechend von denjenigen Künstlerinnen und Künstlern gelebt, die es sich wegen ihrer beruflichen Erfolge leisten können, einen bürgerliche Normen hypertrophierenden Lebensstil nach außen zu repräsentieren.
Der Beitrag von Jens Wietschorke zur Wohnbiografie des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard, der als Theoretiker des Bauens und Wohnens bekannt ist, belegt den Zusammenhang zwischen Wohnform und Wohnort auf der einen Seite und Selbst- und Weltbezug auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: Hier zeigt sich der von den Tagungsorganisatoren als theoretische Rahmung vorgegebene Resonanzraum (Hartmut Rosa) – dies allerdings nicht als Baustein eines ‚guten Lebens‘, sondern als Problemzone.
Genormtem Leben unter der Erde wendet sich Anne D. Peiter zu, indem sie „Bunkerphantasien und Baukonzepte in der Science-Fiction-Literatur“ der 1950er und 1960er Jahre analysiert. Solche Fantasien durchziehen die Science-Fiction-Literatur in unterschiedlicher Form. Die Autorin fragt danach, wie sie funktionieren: Was wird ausgeblendet (z. B. Abwasser, Abfall), für was steht der Bunker im Allgemeinen und im Besonderen? Dabei stellt sich heraus, dass die Bunkerfantasien immer herkömmlichen Konzepten und Normen verhaftet bleiben und auf kollektive Ängste reagieren.
Im Segment „Wohnpraxis in Um- und Sondernutzung“ finden sich die Beiträge von Thomas Spohn und Bettina Barthel. Thomas Spohn belegt anhand zahlreicher historischer Beispiele von untypischen Wohnformen, dass obrigkeitliche Bestrebungen zur Normierung des Wohnens historisch betrachtet keine Seltenheit darstellen. Sie dokumentieren einen alltäglichen Aushandlungsprozess um Normen des Wohnens, in dessen Zentrum der Autor die Miet- und Untermietverhältnisse sieht, die teils vorübergehenden (Einquartierungen), teils auch längerfristigen Bestand (Schlafgänger) hatten.
Der Beitrag von Bettina Barthel zur „diskursiven Mainstreamisierung“ gemeinschaftlichen Wohnens beschließt den Tagungsband. Sie widmet sich darin der Frage, wie gemeinschaftliches Wohnen diskursiv verhandelt wird. Diese Frage ist relevant und aktuell, lässt sich daran doch unter anderem auch ein transformatorisches Politikverständnis aufzeigen, das die Rolle des (Wohlfahrts)Staates in der Post-Wachstumsgesellschaft neu verhandelt. Die Autorin arbeitet den Zusammenhang zwischen der „Mainstreamisierung“ und der Entpolitisierung des Feldes Wohnen gut heraus. Hier werden wichtige virulente Fragen nach der Bedeutung der Überführung einer Wohnform in eine Sphäre, die als Normalität beschrieben wird, gestellt.
Die Beiträge des Tagungsbandes finden disparate Zugänge zur Eingangsfrage, deren Zuschnitt ich allerdings als schwierig bezeichnen muss. Letztlich stellt sich die Frage, welchen Erkenntnisgewinn der Blick auf „Wohnen jenseits der Normen“ potentiell erbringt. Lassen sich Normen über diesen Zugang deutlicher konturieren? Lässt sich das Feld Wohnen besser beschreiben? Grundsätzlich hat mich die „Matrix aus Norm und Devianz“ (Manfred Seifert im Call for Papers), die der Tagung und der Veröffentlichung zugrunde liegen sollte, nicht überzeugt. Sie wurde dem Untersuchungsgegenstand vielfach nicht gerecht, weil oft keine klaren Grenzen zwischen Normen und Abweichungen gezogen werden können. So ringen viele Autorinnen und Autoren letztlich mit der Frage, ab wann und warum Abweichungen wirklich problematisiert wurden (und von wem). Auch schien mir die thematische Engführung, die das Feld Bauen weitgehend ausgeschlossen hat, nicht sinnvoll. Die Beiträge von Groth, Schimek, Zimmermann und Wietschorke belegen, dass es durchaus ertragreich ist, Wohnen und Bauen als Resonanzräume zu begreifen.
Alles in allem zeigen die meisten Beiträge, dass es diesseits und jenseits von normativen Konzepten historisch und aktuell eine große Bandbreite an Wohnformen gab und gibt, die zu analysieren durchaus spannende Ergebnisse erbringt. Nicht in allen Fällen sinnvoll ist es, die Frage nach wie auch immer gearteten Normen und einer Abweichung von denselben in die Betrachtungen miteinzubeziehen.