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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Jens Wietschorke

Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde

Ditzingen 2023, Reclam, 345 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-15-011442-1


Rezensiert von Simone Egger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.08.2024

Im vorliegenden Band setzt sich der Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke mit einer „interurbanen Beziehungsgeschichte“ (8) auseinander, es geht um die konkurrierenden Metropolen Wien und Berlin und deren spannungsreiche Konjunkturen in den Jahrzehnten von 1870 bis etwa 1930. Wenngleich sich die „Anziehungs- und Abstoßungsgeschichte“ (7) der beiden Städte sogar bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen lässt, liegt der Fokus dieser fulminanten histoire croiseé auf der klassischen Moderne, „der Zeit, in der die Konstellation ,Wien – Berlinʻ ein absoluter Dauerbrenner des Feuilletons, der Literatur- und Kunstszene beider Hauptstädte war“ (12). Jens Wietschorke hat sich im Zuge seiner Forschungen über einen langen Zeitraum hinweg intensiv mit den Biografien von Wien und Berlin befasst, auch in seiner Geschichte spielen die Städte eine nicht unwesentliche Rolle. Entsprechend umfangreich ist sein Wissen um Capua und Spree-Athen und deren wechselseitige Bezüge.

Das skizzierte Geschehen wirkt dabei wie ein Gesellschaftsspiel, das der kenntnisreiche Autor nicht nur einer historischen Kulturanalyse unterzieht, sondern zugleich auch inszeniert. In Gestalt einer dichten Beschreibung urbaner Sequenzen mit allerlei schillernden Figuren auf den unterschiedlichsten Positionen gelingt es ihm, eine Vielzahl von Eindrücken, Erfahrungen und Akteurinnen wie Akteuren, die sich in der einen oder in der anderen, aber auch zwischen den beiden kontrastreichen Metropolen bewegen, im Moment der Gegenüberstellung miteinander zu verknüpfen. Die Atmosphären der beiden pulsierenden Großstädte vermitteln sich über divergierende und kontinuierlich im Vergleich zueinander ausdifferenzierte ästhetische Qualitäten. Während Berlin in Zeiten der klassischen Moderne als Stadt der Gegenwart galt, war Wien im Vergleich dazu die Stadt der Vergangenheit. Der Kulturwissenschaftler nimmt dabei generell an, „dass man mehr über Berlin und Wien erfährt, wenn man beide im Zusammenhang denkt“ (9). In der Rivalität von zwei an sich schon außergewöhnlichen Städten „spiegelten sich“, wie Jens Wietschorke konstatiert, „zeitgenössische Positionen von Modernismus und Antimodernismus, Beschleunigung und Entschleunigung. […] Man könnte sogar sagen, der Diskurs der technischen und ästhetischen Moderne im deutschsprachigen Raum benötigte die Chiffren Wien und Berlin, um seine Programme zu formulieren und seine Widersprüche bearbeiten zu können.“ (13)

Unterteilt ist die doppelte Biografie in acht Kapitel, unter der Überschrift „Klischee und Wirklichkeit“ führt der Kulturwissenschaftler grundlegend in Feld und Forschungsgegenstand ein. In dem Kontext diskutiert er auch das von Rolf Lindner entwickelte Konzept eines städtischen „Habitus“ und die daraus resultierende Frage nach der Bedeutung von Dispositionen für die Textur einer Stadt (12). Auf welche Weise sind Klischee und Wirklichkeit nun miteinander verbunden? Wie der Autor feststellt, ist dafür die Ausdehnung eines weit gefassten Kulturverständnisses von Nöten, denn die „Magie des kulturellen Imaginären ist mit historisch-kulturwissenschaftlichen Methoden allein nur unzureichend zu erschließen“ (27). Wer sich Wien und Berlin annähern will, muss Äußerungen aus der bildenden und der darstellenden Kunst, der Architektur, der Literatur und auch der Musik in die Auseinandersetzung mit den Städten und ihren Beziehungs- und Bedeutungsgeflechten einbeziehen. Die kulturelle wie soziale Schnittstelle, von der der Kulturwissenschaftler in seinem Band ausgeht, ist folglich das Feuilleton, ein ambivalentes Medium, „[s]eit jeher Ort des Ästhetischen im publizistisch-ökonomischen Pressewesen, entfaltet es seine komplexe Poetik bis heute im Spannungsfeld von journalistischer Sachgebundenheit und literarischer Verwandlungsfreiheit, von (kultur-)politischer Debatte und flüchtigem Sprachspiel, von sachlicher Kritik und subjektiver Gestimmtheit“, wie die Medienwissenschaftlerinnen Hildegard Kernmayer und Simone Jung in ihrem 2018 erschienenen Tagungsband zum Thema „Feuilleton“ festhalten.

In Jens Wietschorkes Buch geht es in diesem Sinne um Alltägliches, vornehmlich in Verbindung mit bekannten und weniger bekannten, mitunter auch exzentrischen Figuren der Geistes-, Kultur- und Kunstgeschichte, um wechselnde Situationen und um besondere Vorkommnisse im gesellschaftlichen Leben der jeweiligen Stadt. Der Autor zeichnet Bilder und lässt Räume imaginieren, in denen Zuschreibungen und Realitäten ineinander aufgehen. Hinzu kommt sein breites Wissen um so viele – gewöhnliche wie ungewöhnliche – Dinge, Orte und Zusammenhänge, die für die Städte bedeutsam sind. Die Komplexität des Urbanen wird faktisch wie ästhetisch greifbar, wenn er beispielsweise den ruhelosen Gustav Mahler auf gepackten Koffern mit der Journalistin und Salonnière Berta Zuckerkandl über die städtische Psyche sinnieren lässt, wobei sich der Wiener Komponist und Hofoperndirektor gleichzeitig auf ein Gespräch mit dem Analytiker Sigmund Freud bezieht. Freud denkt Jahre später auch selbst über die „Analogie von Stadtgeschichte und Lebensgeschichte“ (16) nach und hebt, wie Jens Wietschorke herausarbeitet, mit der Verknüpfung ein zentrales Moment der Psychoanalyse hervor: „die Kopräsenz des Vergangenen im Gegenwärtigen, wobei das Vergangene zwar stets bearbeitet und umgewandelt wird, aber nicht ausgelöscht werden kann“ (16). Am Exempel dieser Episode – mit der Überschrift „Eine Stadt auf der Couch“ – zeigt sich, wie der Autor städtischen Texturen nachspürt: indem er in Herrenzimmer, Theaterfoyers und Vergnügungslokale schaut, Menschen über ihre Art der Wahrnehmung nachdenken lässt und in seinem Text immer wieder – ganz unterschliche – Ereignisse und Informationen kombiniert.

Zunächst arbeitet Jens Wietschorke die „Konturen einer Städtekonkurrenz“ heraus. Während Wien einem sich permanent überschreibenden Palimpsest zu gleichen scheint, ein Begriff, den auch die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann mit Blick auf die Stadt verwendet, ist Berlin offenkundig stets under (de)construction, ein niemals abgeschlossener Turm zu Babel, ein Ort, der tausend Sprachen spricht. Jens Wietschorke verfolgt die Biografien beider Städte im Wechsel, an einer Stelle geht es etwa um das Wechselspiel tatsächlicher und zugeschriebener Baustile und Architekturen. Es folgen Ausführungen zum „glatte[n] und gekerbte[n] Raum“, verbunden mit der Frage, wo sich „das Berlinerische“ ebenso wie „das Wienerische“ in die physische Gestalt der umgebenden Landschaften einschreibt oder auch hervorgebracht wird. Immerfort werden beide Städte miteinander verglichen und, gerade was Takt und Geschwindigkeit angeht, zu Gegenpolen stilisiert. In Berlin rast die Zeit, in Wien bleibt sie stehen. „Ein Feuilletonstoff par excellence“ tut sich auf, wenn es um die goldenen 1920er Jahre geht, die zunächst noch vom Ende des Ersten Weltkriegs überschattet werden, während sich das drohende Unheil durch den erstarkenden Nationalsozialismus bereits anbahnt. Jens Wietschorke schreibt über Themen wie das Nachtleben, die Gastronomie und die alltägliche Not. Großstadtreportagen aus Berlin und aus Wien – „Was nicht im Baedeker steht“ – erfreuten sich zu der Zeit großer Beliebtheit. Im Kapitel „Leben und Schreiben zwischen den Städten“ geht es um Musik und Literatur, und der Autor legt dar, was Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ jeweils mit der Textur ihrer Stadt zu tun haben und wie sie ihre Narrative zugleich fortschreiben.

Ein türkischer Boxtrainer mit Verbindungen zur Kunstszene machte sich indessen auf dem realen Kurfürstendamm einen Namen. Sabri Mahir trainierte Sportler- und Künstlerinnen wie Marlene Dietrich und Vicki Baum und lud nebenbei in seinen Ring zum Tee, wo auch Bertolt Brecht anzutreffen war. Der Stellenwert des Theaters und insbesondere der Operette – Jens Wietschorke spricht vom „Wiener Wirbel im Kulturbetrieb“ – ist in jener Phase gerade auch für die Verknüpfung der Städte und ihrer Protagonistinnen und Protagonisten gar nicht hoch genug einzuschätzen, gleichzeitig gewinnt der Nationalsozialismus immer mehr an Boden. Mit der diesmal als Untertitel wieder aufgenommenen Überschrift „Klischee und Wirklichkeit“ – da capo – fällt der Vorhang, und die Leserinnen und Leser müssen die Welt der modernen Großstadt angesichts veränderter Machtverhältnisse unmittelbar verlassen: „Babylon Berlin“ erwacht aus seinem Rausch, schlagartig ernüchtert durch politische Kräfte, die mit Vielheit, Mehrdeutigkeit und Urbanität nichts anfangen können. Auch der langsame Walzer stockt. Vormals geprägt von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern, die noch im Exil mit einer der Städte oder auch beiden Metropolen verbunden waren, wird die glanzvolle Ära der Stadtkultur in den 1930er Jahren jäh unterbrochen. Wie das facettenreiche kulturelle Leben in der langsamen und in der schnellen Stadt zum Erliegen gebracht wurde, endete auch die wechselseitige Bezogenheit abrupt.

In den „Transformationen einer Städtekonkurrenz“ widmet sich Jens Wietschorke abschließend verschiedenen Narrativen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Ausführungen bestechen durch den Fokus auf die Ästhetik der Städte. Von Seiten des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung ist Jens Wietschorkes Band deshalb vollkommen zurecht in der Kategorie Geistes- Sozial-/Kulturwissenschaften als Wissenschaftsbuch des Jahres 2024 ausgezeichnet worden. In den ausgewählten Biografien und Geschichten werden die Verhältnisse in und zwischen beiden Metropolen evident. Deutlich wird aber auch der konstruktive Charakter von Interpretationen und Lebensstilen. Die wechselseitig aufeinander bezogene „Tale of two cities“ schließt am Ende mit der Erkenntnis, dass man womöglich einfach beide braucht: Wien und Berlin.