Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Holger Finze-Michaelsen

In diesem wilden Tal. Geschichten aus der Geschichte von St. Antönien

Ennenda/Chur 2022, Somedia, 181 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-907095-57-7


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.08.2024

Im Schweizer Kanton Graubünden, in einem Seitental zwischen Landquart und Davos, liegt St. Antönien, eine Streusiedlung mit circa 350 Einwohnerinnen und Einwohnern. Der Ort ist heute im Sommer Ausgangspunkt von Bergwanderungen, im Winter von Skitouren. Benannt nach dem Heiligen Antonius, einem Einsiedler und Begründer des christlichen Mönchtums aus dem 3. Jahrhundert, wurde St. Antönien im 13. Jahrhundert zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Die Besiedlung erfolgte durch die Walser oder, wie sie auch nach ihrer Herkunft genannt wurden, Walliser. Sie stammten aus dem Gebiet der damaligen Grafschaft (heute Kanton) Wallis im Südwesten der Schweiz und waren die ersten, die ab dem 11. Jahrhundert in größeren Höhen dauerhaft lebten. Ab Ende des 12. Jahrhunderts verbreiteten sich Walser über das ganze Alpengebiet, vor allem in entlegene Täler. Sie rodeten die Wälder, machten das Land urbar und erhielten die Flächen als Erblehen, später auch als Eigentum. Ein weiteres Privileg der Siedler war die Befreiung aus der Leibeigenschaft.

Die Höhe des Dorfes St. Antönien auf 1 420 Metern über dem Meeresspiegel deutet an, welchen Witterungen und Lebensbedingungen die Bevölkerung vor allem im Winter ausgesetzt war und ist: lange, schneereiche Monate, kurze Wachstumsperioden, ein geringer Baumbestand, Vieh- und Subsistenzwirtschaft. Bis zur Erschließung des abgelegenen Tales durch den Verkehr und die damit verbundene „Entdeckung“ des „Wilden“ durch den Tourismus herrschte eher Armut – Arbeitsmigration ins sogenannte Unterland oder gar ins Ausland stand auf der Tagesordnung.

Der vorliegende Band wurde von Holger Finze-Michaelsen, einem Ostfriesen, der für mehrere Jahre die Pfarrstelle in St. Antönien inne hatte, zusammengestellt beziehungsweise verfasst. Als Kenner der regionalen Archive hat der Autor auf Grundlage dortiger Quellen bereits Monografien über andere Lokalereignisse wie Hexenverfolgungen oder die Geschichte der örtlichen Lawinen publiziert. Im Zusammenhang dieser Forschungen kam Material zu Tage: schriftliche und mündliche Quellen und – nach 1890 – zahlreiche Fotografien. Auf dieser Basis beruht „In diesem wilden Tal“, ein Zitat, das in Fremd- und Selbstbeschreibungen der Gegend vorkommt.

Es beginnt mit Schilderungen von Akademikern; hier fallen Zuschreibungen und Idealisierungen der Bewohnerinnen und Bewohnern wie „einfach“, „fleißig“ oder „kernig“: ein „Volkscharakter“, fernab der Städte. Besonders in der Zusammenstellung längerer Zitatpassagen von Aufsätzen des pietistischen Pfarrers Johannes Baptist Catani/Cattaneo (1745–1831), die in der Zeitschrift „Der Sammler“ ab 1783 erschienen, verdichtet sich die Ortsgeschichte für das ausgehende 18. Jahrhundert. 1772 in das Tal gekommen, hat Catani eine Volkszählung durchgeführt, die Gegend erkundet, Gebirgsformationen und Tierwelt beschrieben, botanische Sammlungen angelegt, unter anderem die Alpwirtschaft genau beobachtet, aber auch Arbeits- und Wetterverhältnisse dokumentiert sowie Fruchtfolgen und Wissen um Heilkräuter festgehalten. Die Alpen von St. Antönien wurden zu dieser Zeit intensiv genutzt, mehr als 2 000 Stück Vieh standen auf den örtlichen Weiden. Mit dem angrenzenden Montafon (Österreich) bestand reger Handel von Tieren und Butter gegen Getreide über die Berge hinweg, vor allem aber mit Italien. Schon damals war der fehlende Bannwald ein großes Problem, weil dies die Gefährdung durch Lawinen deutlich erhöhte; das Holz war für Dächer, Zäune, Bewässerungsrohre und Häuser gebraucht worden. Die Bewohnerinnen und Bewohner arbeiteten hart und schwer: in der Landwirtschaft im Sommer, in Heimarbeit im Winter beim Spinnen, Herstellen von Wolltuch oder Stricken. 1784 folgte Catani der Anwerbung der russischen Kaiserin Katharina der Großen und zog mit seiner siebenköpfigen Familie in das 4 500 km entfernte Wolgagebiet, um dort die neu gegründeten Kolonistendörfer seelsorgerisch zu betreuen. Auch über ihn hat der Autor ein Buch geschrieben (Von Graubünden an die Wolga. Das Leben des Bündner Pfarrer Johannes Baptista Cattaneo. Chur 1992).

Auf die Zitate aus den Quellen folgen thematische Kapitel, zum Beispiel zu einzelnen, bedeutsamen Objekten wie den Glocken oder der Orgel; weitere beziehen sich auf alltägliche Ereignisse, zum Beispiel: Schulbau, Kindheit im Tal, Bau der ersten Hotels nach Eröffnung der Eisenbahnstrecke zwischen Landquart und Klosters 1889, Einführung des Automobils oder Raub des Viehs – das kostbarste Gut der Bergbauern und die fast einzige Möglichkeit, durch dessen Verkauf Bargeld zu erhalten. Insgesamt kommt vieles zur Sprache, was exemplarisch für andere (Berg-)Dörfer gelten kann: Auswanderung, Besuche in der alten Heimat, finanzielle Unterstützung der Gemeinde; die harte körperliche Arbeit auch der Frauen, deren gesundheitliche Gefährdung durch viele Geburten, das Heiratsgeld für „frömde inkauffte weiber“ (59) aus anderen Gemeinden; der stets weiter geführte Familienname; praktikable, selbst hergestellte Kleidung aus Holz (Schuhe), Schafwolle (gestrickt als Strümpfe, gewalkt für Stoffe) oder Fell (ein Schafschwanz als Schal); hohe Arbeitsbelastung für die ganze Familie in der Erntezeit, Spinnen in Heimarbeit im Winter; ab dem 18. Jahrhundert der Anbau von Kartoffeln als Rettung vor dem Verhungern; die sogenannten „erweckten“ Gläubigen der Herrnhuter Brüdergemeinde, die von Missionaren betreut wurden; Fremdarbeiter aus Italien im Straßenbau des 20. Jahrhunderts; regelmäßige Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Lawinen, damit verbunden Missernten und Hungersnot.

Ein weiteres Thema aus der Ortsgeschichte, das sicher auch exemplarisch zu lesen ist, sei herausgegriffen: der Schulunterricht. Erst 1830 erließ der Pfarrer ein Schulgesetz für Jungen und Mädchen zwischen sechs und zwölf Jahren, um, wie es in der Quelle heißt, „Unterricht und Zucht“ (118) durchzusetzen und „was einem Christen zu wissen nöthig ist, an Kenntnissen (zu) erlangen“ (118). Das Lesebuch, das die Kinder zur Verfügung hatten, war fünfzig, der Katechismus zweihundert Jahre alt. Die Quellen berichten von Schulzeiten zwischen 16 und 24 Wochen im Jahr und vielen Schulversäumnissen, weil die Kinder als Arbeitskräfte gebraucht wurden oder sie keine geeigneten Schuhe hatten, um den weiten Schulweg auf sich zu nehmen.

Aus dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sticht die Entwicklung des

Fremdenverkehrs hervor und damit die beginnende Umwertung der Wahrnehmung des Dorfes

 

St. Antönien: vom „Inbegriff der Rückständigkeit [… zum] starken Magneten“ (171). Durch den Bau der Eisenbahnlinie nach Davos entdeckte man auch die Seitentäler; Hotels und Straßen wurden gebaut, damit privilegierte, urlaubsberechtigte Feriengäste kommen konnten. Es folgten die Einrichtung einer regelmäßigen Fahrpost, eine Telegraphenleitung und 1901 die Gründung des „Kurvereins“. Die Sommergäste, unter anderem aus Deutschland, brachten Bräuche wie Weihnachtsbäume und -geschenke in Privathäusern, St. Nikolaus-Umzüge oder Ostereier mit, und sie führten zum Nationalfeiertag ein Theaterstück auf, um zum Beispiel die Schulglocke zu finanzierten. Die neugebauten Hotels erfüllten alle Bedürfnisse der anspruchsvollen Gäste aus den Städten und verfügten über die neuesten technischen Errungenschaften wie elektrische Beleuchtung und Warmwasserleitungen. Hier konkretisierte sich baulich der Widerspruch zwischen den Anforderungen nach Komfort und einer gleichzeitigen Suche nach Ursprünglichkeit.

Holger Finze-Michaelsen ist mit diesem Band eine sehr gut lesbare und anschauliche Geschichte von St. Antönien vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert gelungen, die aber gleichzeitig weit über den Ort hinausweist, weil sich hier viel Typisches vom Leben in Schweizer Bergdörfern widerspiegelt. Pro Kapitel enthält der Band Literaturangaben und am Schluss noch eine detaillierte Aufstellung der verwendeten Quellen: eine überzeugende Aufforderung zur weiteren Lektüre und Beschäftigung mit dieser Region.