Aktuelle Rezensionen
Peder Plaz/Romano Plaz/Sepp Waldegg
Hotel Piz Mitgel. Geschichte & Geschichten
Chur 2022, Somedia, 285 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-907095-55-3
Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.08.2024
Um es vorwegzunehmen: Der Titel der Veröffentlichung stapelt viel zu tief; es handelt sich nicht um eine reine Würdigung eines Hotels in Savognin/Graubünden, sondern um viel mehr. Die drei Autoren, ein Unternehmensberater (geboren in Savognin), ein ehemaliger Bankdirektor (neben dem Hotel aufgewachsen und intensiv mit der Geschichte des Ortes vertraut) sowie der ehemalige Hotelier des Hotels Piz Mitgel (von 1961–2021) haben eine Veröffentlichung vorgelegt, die über eine gewöhnliche Hotelgeschichte weit hinausreicht und auch unter dem Titel „Das Haus, der Ort, die Welt“ hätte publiziert werden können.
Was ist gemeint? Es geht auf der ersten Ebene um die Geschichte des Hotels Piz Mitgel, wie üblich benannt nach einem Berg in der Nähe des Ortes Savognin, im Surses gelegen, heute eine halbe Stunde mit dem Auto von Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden, in Richtung Süden gelegen. Das Haus wurde 1870 von ehemaligen Schweizer Offizieren errichtet, die in ihre Heimat zurückkamen. Die wechselvolle Geschichte mit An- und Umbauten, Zeiten des Erfolgs und solchen des Überlebens umfasst 150 Jahre und kann exemplarisch für Schweizer Hotels gelesen werden: Zu Beginn stand der Gedanke des Aufbruchs in das touristische Zeitalter mit Postkutschen, die entlang der örtlichen Fernstraße von Norden (Chur) nach Süden (über den Julierpass) verkehrten und Gäste aus der Fremde in den Ort brachten, die bei einem Zwischenhalt Erholung in den Höhenlagen suchten. Es folgte ab 1903 durch die Eröffnung der Eisenbahnstrecke im Nebental der Zusammenbruch der Pferdepost und für die Hotels eine Ära des Niedergangs, der mit Werbemaßnahmen und neuen Ideen begegnet wurde. Ab 1929 kam mit dem Skifahren in Savognin der Wintertourismus ins Spiel, eine neue Einkunftsquelle. Der Einbruch im Fremdenverkehr durch den Zweiten Weltkrieg war deutlich zu spüren; ihm folgten Jahre des Ausbaus der Skilifte sowie ganzer Siedlungen mit Zweitwohnungen in den 1950er und 1960er Jahren, die viele Touristinnen und Touristen in den Ort brachten. Die letzten vierzig Jahre waren durch zurückgehende Übernachtungszahlen gekennzeichnet, was unter anderem mit sinkenden Flugpreisen und vermehrten Fernreisen sowie dem Verfall des Euros gegenüber dem Franken zu tun hat. Umbauten, Kooperationen mit Busunternehmen und spezielle Themenwochen, aber auch die über Jahrzehnte bestehende feste Verankerung des Hauses in der Dorfkultur mit zahlreichen Festen, Familienfeiern, Vereinssitzungen, Konzerten und Theateraufführungen konnten diese Entwicklung kaum aufhalten – das Hotel schrieb rote Zahlen. Schließlich übernahm eine eigens zu diesem Zweck gegründete Stiftung das Hotel, um es für die Nachwelt zu retten. Nach einem erneuten umfangreichen Umbau erfolgte die Eröffnung Ende 2021. Die Passagen dieser von Hochs und Tiefs geprägten Hotelgeschichte sind durchwoben von persönlichen Geschichten vor allem des Hoteliers Sepp Waldegg. Es folgen die Würdigung der Vorgängerfamilie Spinas (1902–1961), Erinnerungen an die Leitung durch die Eltern Waldegg, die Übernahme, der Zusammenhalt unter der Direktion und den Mitarbeitenden aus vielen europäischen Ländern sowie Begegnungen mit Stammgästen.
Die zweite Ebene umfasst die Ortsgeschichte, geprägt durch den Überlebenskampf der Bewohnerinnen und Bewohner, angesichts der geringen wirtschaftlichen Möglichkeiten vor Ort, vielen Auswanderern, einer Passstraße, aber auch Pionierinnen und Pionieren und Visionärinnen und Visionären, wie den Hotelgründern des „Piz Mitgel“, die für die Aufgabe des Söldnerwesens stehen und Investitionen in das neue, aufstrebende Gewerbe des Fremdenverkehrs tätigten. Ortspläne und Fotografien sind zu sehen, aus denen die Veränderungen durch die Neubauten hervorgehen: Städtisch geprägte Architektur hielt Einzug in das Dorf, das damals 500 Einwohnerinnen und Einwohner umfasste, ebenso ein Telegrafenamt, eine Arztpraxis (für die Tuberkulosekranken, denen das Hotel anempfohlen wurde); weitere „Villen“ folgten, unter anderem mit „Billardsaal“. Auch ist von dem berühmtesten Gast des Ortes die Rede, dem Maler Giovanni Segantini (1858–1899), der mit Frau und vier Kindern von 1886 bis 1894 in Savognin lebte. Einige seiner größten Werke, wie „Das Pflügen“, seit 1896 im Besitz der Neuen Pinakothek München, entstanden in dieser Zeit und stellen Ortsbewohnerinnen und Ortsbewohner, die heimischen Berge, das von ihm bewohnte Haus und sogar das Hotel Piz Mitgel dar. Lebten die Bewohnerinnen und Bewohner Savognins bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem von Landwirtschaft und Holzverkauf, änderte sich das mit dem Ausbau des Fremdenverkehrs: 1958 wurde der Kur- und Verkehrsverein Savognin gegründet, der den ersten Skilift errichten ließ mit „Eisbrecher-Funktion für die kommende Entwicklung“ (183); ein Hamburger Investor baute Ferienhäuser – das deutsche Wirtschaftswachstum bescherte Käuferinnen und Käufer. Eine eigens gegründete Aktiengesellschaft trieb den Ausbau der Skilifte voran, was sich als großer Erfolg darstellte. Dieser währte jedoch nicht lange, denn Fernreisen wurden populärer. So begann eine Spirale nach unten für Hotels und Bergbahnen. Weil Mittel für Reinvestitionen fehlten, mussten viele Betriebe schließen. Der Bauboom der 1970er und 1980er Jahre schätzen viele Schweizer Bergdörfer heute problematisch ein, weil es sich – wie in Savognin – bei rund 80 % der Wohnungen um Zweitwohnungen handelt, für die eine teure Infrastruktur aufrecht erhalten werden muss, auch wenn diese nur wenige Wochen im Jahr benutzt wird.
Auf der dritten Ebene handelt der Band von Weltgeschichte, zum Beispiel Herrschern, bei denen Schweizer über Jahrhunderte als Söldner dienten. „Zehntausende Schweizer Soldaten für verschiedene Könige und Kaiser in ganz Europa [standen] auf allen Seiten in Diensten“ (5) – so, wie die aus Savognin stammenden Hotelgründer Sebastian (1826–?) und Leza Wasescha (1829–1907). Diese Brüder, so vermuten es die Autoren, setzten nach ihrem Dienst in der päpstlichen Armee nach deren Auflösung einen Teil ihrer Pensionen des italienischen Staates für das Eigenkapital zum Hotelbau ab 1870 ein. Die Verflechtungen zwischen Weltgeschichte und Ortsgeschichte gehen noch weiter: 1816, als der Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa ausbrach, hatte die lavabedingte Verschattung der Sonne in Europa Missernten und eine große Hungersnot zur Folge. Wegen fehlender Straßen in den Bergdörfern Graubündens konnte nicht genug Getreide aus Italien geliefert werden, woraufhin die Kantonsregierung ab 1820 den Bau der Julierstraße vorantrieb, was – bezogen auf Savognin – den historischen Ortskern zerstörte, mit anhaltenden negativen Folgen für das Ortsbild. Weitere Beispiele für internationale Verflechtungen seien angedeutet: Geschichten von Rückkehrern wie die des höchst erfolgreichen Pariser Zuckerbäckers Laurent Carisch, der millionenschwer aus Paris in das Nachbardorf Riom zog; anderen Bündnern, die nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs enteignet wurden und wieder ortsansässig wurden; Kriegsinternierte, die im Hotel Piz Mitgel untergebracht wurden; Auswirkungen der Olympischen Spiel 1928 in St. Moritz und die darauf folgende Begeisterung für Wintersport im Tal, wie auch die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und Japan, die 2007 im Hotel „Piz Mitgel“ stattfanden, eingefädelt von Luzius Wasescha, einem Schweizer Diplomaten und Namensvetter der Hotelgründer.
Drei Erzählstränge vermischen sich somit überzeugend in „Geschichte und Geschichten“. Sie werden außerdem ergänzt durch zahlreiche (Archiv-)Quellen: die Schilderung der Rekrutierung eines Schweizer Soldaten für den Dienst am Königshof von Neapel, den Nachruf auf den Hotelgründer aus dem Bündner Tagblatt von 1900, zeitgenössische Anzeigen, Auszüge aus Gästebüchern, die Chronik des Ski-Clubs und Ego-Dokumente von Savogninern. Zur Qualität des Bandes tragen außerdem die historischen Fotografien erheblich bei: Eine erste Ortsansicht von Savognin von 1863 ist darunter, ein Gruppenbild Bündner Offiziere aus derselben Zeit, der durch Postkutschen „verstopfte“ Nachbarort um 1900, Szenen mit ersten Skifahrerinnen und Skifahrer, aber auch unbekannte Abbildungen von Kaufverträgen, Anzeigen, Prospekten, Grundrissen, Menükarten des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts sowie Fotos von Bergbahnbauten, Hotelinnenräumen oder verworfenen Planungen bis 2000. Um die häufig vorkommenden Kaufsummen, Investitionen oder Gehälter einordnen zu können, wurden diese jeweils in aktuelle Preise umgerechnet – auch das erhöht den Wert des Bandes, ebenso die Literatur- und Quellenangaben und zahlreiche Graphiken, die drastisch vor Augen führen, wie zum Beispiel die Anzahl der Reisenden mit der Pferdepost durch den Bau der Eisenbahn 1903 von circa 27 000 im Jahr 1902 auf unter 2 000 zurückging. Nicht zuletzt sei die dem Buch beigelegte Zeittafel erwähnt – eine graphisch gut nachvollziehbare Verschränkung der „Geschichte und Geschichten“ des Hotels Piz Mitgel. Wer sich nur für die Hotelgeschichte in Kürze interessiert, sei auf die chronologische Auflistung wichtiger Ereignisse rund um das Hotel auf den vorderen und hinteren Vorsatzblättern verwiesen, aber es wäre schade, sich nur mit diesen Zahlen zu begnügen, angesichts der vielfältigen oben genannten Inhalte, die das gelungene Werk bereithält.