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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Enrico Rizzi

Geschichte der Walser im Avers

Fondazione Enrico Monti – Studi Alpini und Walservereinigung Graubünden, Chur 2022, 241 Seiten mit Abbildungen, ohne ISBN


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.08.2024

Der italienische Historiker Enrico Rizzi hat 2014 ein Standardwerk über die geschichtlichen Entwicklungen im Avers verfasst. Dieser Band liegt nun in einer Übersetzung von Bernadette Hautmann vor. Rizzi beschäftigt sich seit über vierzig Jahren unter anderem mit der Geschichte der Walser, dem Engadin und den Bündner Pässen. Die aktualisierte Fassung des Werkes durch Georg Jäger hat die Walservereinigung Graubünden, deren Präsident Jäger ist, herausgegeben. Der Verein ist ein Zusammenschluss von rund 30 Bündner Gemeinden mit über zweitausend Einzelmitgliedern, der 1960 gegründet wurde und es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Kultur der Walser zu bewahren und zum Beispiel Publikationen wie die vorliegende zu fördern.

Wer sind die Walser und was ist das Avers? Walser oder Walliser, wie sie nach ihrer Herkunft auch genannt wurden, kamen aus dem Wallis im Südwesten der Schweiz und verbreiteten sich ab dem 13. Jahrhundert über das ganze Alpengebiet, vor allem in die noch nicht dauerhaft besiedelten entlegensten und höchsten Täler. Die Walser begaben sich an „Grenzen des Unbekannten“ (47) und eigneten sich nach und nach Wissen und Erfahrungen mit Rodung an, machten das Land urbar und erhielten im Gegenzug die Flächen gegen Erbpacht, später auch als Eigentum. Weitere Privilegien für ihre Siedlungstätigkeit bestanden in Befreiung aus der Leibeigenschaft und Steuerfreiheit.

Das Avers bezeichnet ein circa 100 km² großes und 30 km langes Nebental des Hinterrheins in Graubünden, in dem Walser seit 1292 in einer Vielzahl von Gehöften siedeln und im großen Maßstab Viehzucht betrieben haben beziehungsweise betreiben. Gerichtliche Auseinandersetzungen aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert erwähnen bereits 600 Stück Großvieh und 2 750 Stück Kleinvieh, die hier geweidet wurden. Die heute acht Fraktionen umfassende politische Gemeinde liegt zwischen 1 668 (Campsut) und 2 126 Metern (Juf) über dem Meeresspiegel; dabei ist Juf ist die höchstgelegene, dauerhaft besiedelte Gemeinde Europas. Im Avers wird Deutsch – im Unterschied zu dem in Graubünden üblichen Rätoromanisch – gesprochen; die Bewohnerinnen und Bewohner gehör(t)en seit 1525 der evangelisch-reformierten Kirche an.

Enrico Rizzi beginnt chronologisch, die Geschichte des Avers’ und dessen Bewohnerinnen und Bewohner nachzuvollziehen und in zeithistorische Kontexte einzubinden: die ersten Zeugnisse menschlicher Präsenz in den oberen Rheintälern seit der Bronzezeit, etwa 1000 vor Christus; die Erschließung der Verkehrsrouten durch die Churer Bischöfe, denen das Avers unterstand und die Feudalherren einsetzten, um die Straßen zu unterhalten; dann die stetige Besiedlung des Hochtales in wohl organisierten, mit dem Landesherren abgestimmten sogenannten Siedlungsgesellschaften sowie die dauerhafte Nutzung vor allem im 13. und 14. Jahrhundert, damit verbunden die Umgestaltung der Gebirgslandschaft durch den Menschen, zum Beispiel durch die ausgiebige Rodung des Waldes.

Das differenzierte Modell der Kolonisation der Hochtäler, für das die Walserkultur steht, beinhaltet, wie aus historischen Quellen hervorgeht, zunächst eine systematische Verteilung von Grundstücken. Nach der Urbarmachung und Besiedlung folgte ein Modell der Alpwirtschaft, „das auf dem isolierten und autarken Bauernhof und einem System der Landnutzung nach Höhenstufen basierte, das je nach Topographie und Höhenlage variierte: Das Wohnhaus und die Wirtschaftsgebäude wurden auf der mittleren Höhenstufe platziert, während die Felder auf verschiedenen Höhenlagen verteilt waren.“ (47) Je nach Jahreszeit beziehungsweise Wärmeperiode wurden die Kühe, Schafe und Geißen hinauf- beziehungsweise heruntergetrieben. Viehzucht und Milchwirtschaft boten die Grundlage der eigenen Versorgung mit Milch, Käse, Butter, Fleisch, Heizmaterial (getrockneter Schafmist) und (durch den Verkauf der Erzeugnisse) Bargeld. Je mehr Heu zur Verfügung stand, desto mehr Tiere konnten gehalten werden, umso größer waren finanzielle Sicherheit und Wohlstand in den Familien. Umgekehrt bedrohte die unrechtmäßige Besetzung der Viehweiden die Lebensgrundlage der Familie und wurde gerichtlich geahndet, was sich in vielen historischen Quellen niedergeschlagen hat. Im Gegensatz zur Ackerwirtschaft, die in diesen Höhen auch nicht mehr möglich war, galt die Viehzucht als finanziell ertragreicher und weniger arbeitsintensiv, bedeutete aber, auf Straßen und Märkte zum Verkauf angewiesen zu sein. Auf sogenannten Subsistenzmärkten von Como bis Mailand konnten die Bauern das verkaufen, was sie selber nicht benötigten und bekamen im Gegenzug Salz zum Käsen, Getreide für Brot und Wein für den Genuss.

Rizzi kommt neben dem Avers auch auf dessen Kolonien in naheliegenden Hochtälern im Surses und Oberhalbstein zu sprechen, die zum Teil gemeinschaftlich den Ausbau der Passstraße am Septimer um 1390 vorantrieben. Das Säumen bot einen willkommenen Zusatzverdienst. Auch von inzwischen völlig vergessenen Walser-Gemeinden ist die Rede, die aus den 87 unveröffentlichten, vom Autor eingesehenen Urkunden des Salis-Soglio-Bestandes zu deren Ländereien erwähnt werden.

Als Charakteristikum des Avers gelten, so der Autor, dessen politische und rechtliche Autonomie bereits seit dem 14. Jahrhundert, ein weiteres bestand in der engen Verbindung zur Bergeller Adelsfamilie Salis-Soglio, die zum Beispiel durch Solddienste für den König von Frankreich wie auch lukrative politische Ämter im Veltlin zu großem Reichtum gekommen war. Ab dem 14. Jahrhundert ist das Geschlecht im Avers mit Grundbesitz nachzuweisen; ab dem 16. Jahrhundert, in der sogenannten Kleinen Eiszeit, kauften sie den von Heumangel, Lebensmittelknappheit und Hungersnöten verarmten Bergbauern Höfe und Weiden ab und schlossen doppelte Verkauf- und Erbpachtverträge. Die Besonderheit dieser Abschlüsse, die vom Autor eingesehen wurden, bestand darin, dass zunächst der Besitz an die Familie Salis-Soglio verkauft, dann aber umgehend den ehemaligen Eigentümern in Erbpacht zurückgegeben wurde und damit deren Bleiben im Tal sicherte. Dies gilt, so Rizzi, als Glücksfall, weil es nicht – wie andernorts – zu Wüstungen kam. Das Modell bestand lange: 1838 zahlten noch mehr als 70 der circa 100 Averser Bauern die Pacht an die Familie Salis.

Im Salis-Soglio Bestand befinden sich weitere Quellen, die tiefe Einblicke in die Geschichte des Avers’ ermöglichen und deren Inhalte von Enrico Rizzi eingearbeitet wurden: „Register, Rechnungsbücher, Journale, Namensverzeichnisse, kleinere und größere Hefte […] mit Aufzeichnungen und Vermerken“ (173). Aus ihnen gehen der große Grundbesitz der Familie mit 75 Besitzungen im Jahr 1734 hervor, aber auch Weiderechte, Angaben zur Witterung, Informationen zum Viehbestand, Viehkrankheiten, Pachtzahlungen, Bauausgaben, Schenkungen oder die Schulgründung. Zusammenfassend lässt sich sagen: „In der Geschichte ihrer Beziehungen zum Tal sind so gut wie keine Konfliktsituationen bekannt, im Gegenteil: Die Verbindung brachte dem Tal viele Vorteile; die Familie der Salis nahmen aktiv am Gemeindeleben teil, sie bekleideten die Ämter des Landammanns, des Statthalters oder Pfarrers und heirateten auch in Walserfamilien ein.“ (180)

Wie die oben genannten Quellen belegen, bestand enger wirtschaftlicher und persönlicher Kontakt über (hohe) Pässe hinweg. Zunächst war dies nur nach Süden der Fall: nach Bivio über den Stallerberg, nach Casaccia über den Septimer, nach Soglio, Chiavenna, Como und Mailand über den Madrisberg. Erst durch den Ausbau einer Fahrstraße 1895 konnte die zuvor fast unpassierbare Schlucht Richtung Thusis überwunden werden, und die Strecke nach Norden wurde für den Waren- und Personenverkehr erschlossen. Damit war der Weg frei für den Tourismus, der wiederum zum Bau von Telegrafenleitungen wie auch 1927 zu einer regelmäßigen Busverbindung führte.

Weitere kürzere Kapitel unter anderem zum „Walserhaus“ mit getrennten Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, Bemerkungen zu einzelnen Steinhäusern der Gegend, Zitate von (inter-)nationalen Reisenden vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, kurze Ausführungen zum regionalen Hexenglauben und dem Alltag mit den langen Wintermonaten runden den Band ab. Hier deutet Rizzi eher an und verweist auf die Monografien von Johann Rudolf Stoffel (Das Hochtal Avers. Zofingen 1938, Nachdruck 2019) und Hermann Weber (Avers. Aus Geschichte und Leben eines Bündner Hochtals. Chur 1985).

Der Band von Rizzi besticht durch Vieles. Zunächst ist die ausführliche Darstellung bereits bekannter Quellen zum Avers und den Walsern seit dem 13. Jahrhundert sowie die Erschließung neuer Quellen zu nennen. Jedem Kapitel ist ein auf das Thema bezogenes, kommentiertes Literatur- und Quellenverzeichnis angefügt – eine Fundgrube für weitere Lektüre und Forschung. Darüber hinaus bezieht Enrico Rizzi immer wieder Erkenntnisse zu anderen Walsersiedlungen in der Schweiz, Bayern und Tirol vergleichend mit ein, um die Verhältnisse im Avers in einen größeren Kontext zu stellen. Man kann kaum ermessen, welches Wissen sich hier verbirgt! Rizzis Werk ergänzt die vorhandene Literatur zum Avers eindrucksvoll, nicht nur, aber besonders durch die bisher unerschlossenen Quellen aus dem Archiv der Familie Salis-Soglio. Die Walservereinigung Graubünden ist sehr zu loben, dieses Werk auch dem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich gemacht zu haben.