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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Sigrun Langner/Marc Weiland (Hg.)

Die Zukunft auf dem Land. Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung

(Rurale Topografien, 14), Bielefeld 2022, transcript, 602 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-5675-6


Rezensiert von Silke Göttsch-Elten
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.08.2024

Das Thema Land, Ländlichkeit hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Aktualität und Aufmerksamkeit erlangt und das nicht nur in gesellschaftlichen und politischen Debatten, sondern auch als interdisziplinär aufgestelltes Forschungsfeld. Insofern fügt sich dieser Band in eine längere Reihe neuerer Publikationen ein, die an einer differenzierten, theoretisch wie empirisch informierten Auseinandersetzung mit den Themen Ruralität und Rurbanität arbeiten. Das Konzept des mit 27 Beiträgen sehr umfangreichen Bandes unterscheidet sich von anderen Veröffentlichungen dadurch, dass ein breites Spektrum unterschiedlichster Disziplinen von Literatur- und Kulturwissenschaften bis hin zu Landschaftsarchitektur, Geografie, Planungs- und Wirtschaftswissenschaften vertreten sind, also Fächer deren Schnittstellen auf den ersten Blick nicht evident sind und deren Dialoge spannende Perspektiven versprechen, zumal auch ein weiter historischer Bogen gespannt wird, der bei Goethes Wilhelm Meister seinen Anfang nimmt und bis in aktuelle Gegenwart hinein reicht.

In der Einleitung wecken die Herausgeberin und der Herausgeber hohe Erwartungen. Es geht ihnen um die Frage, wie „eine ausdifferenzierte Vorstellung – und damit eventuell auch Wahrnehmung und Gestaltung – einer Zukunft auf dem Land“ aussah beziehungsweise aussieht? „Welche medialen und planerischen Bilder und Narrative werden und wurden in Verbindung mit einer erstrebenswerten, aber ebenso mit einer zu vermeidenden Zukunft auf dem Land in jeweils unterschiedlichen historischen Zeiten und kulturellen Kontexten aufgerufen, (re)konstruiert und (re)aktualisiert?“ (9) Und am Ende soll es um die Tauglichkeit solcher „historischen und gegenwärtigen Zukunftsbilder und -erzählungen“ gehen, ob sie uns möglicherweise „beim Navigieren in eine, wenn man so sagen will, ‚enkeltaugliche‘ Zukunft unterstützen“ können (10). Damit ist ein weites Tableau aufgemacht, dessen Intention über das Präsentieren wissenschaftlicher Zugänge hinausgeht und Lösungsmöglichkeiten anvisiert, die sich aus der gegenseitigen Befruchtung unterschiedlicher Disziplinen und Blickweisen entwickeln lassen.

In einem ausführlichen einleitenden Beitrag eröffnet der Mitherausgeber Marc Weiland den Horizont, vor dem über Zukunft als eine zeitliche und soziale Dimension nachgedacht wird. Er diskutiert historische (Reinhart Koselleck) wie philosophische (Lucian Hölscher), aber auch populärmediale Projektionen und erweitert diese Überlegungen um planerische und gestalterische Zukunftsvisionen, um die Kommunikation intermedialer Bilder, Narrative und Diskurse sichtbar zu machen.

Der noch im Titel des Sammelbandes im Singular verwendete Begriff Zukunft wird im Band selbst folgerichtig angesichts der Komplexität ländlicher Räume und deren Thematisierung in den unterschiedlichen Disziplinen für die Gliederung des Bandes in den Plural gesetzt, Zukünfte verstanden als Möglichkeitsräume.

Die Beiträge sind auf drei Blöcke aufgeteilt, von denen jeder eine andere Sonde in das Feld „Ländliche Zukünfte“ legt. Im Rahmen einer Rezension ist es nicht möglich, alle 27 Beiträge gleichermaßen zu würdigen. Deshalb soll auf die jeweiligen Schwerpunkte verwiesen werden, um die Bandbreite und Differenz von Thematisierungen und Herangehensweisen sichtbar zu machen.

Der erste Block versammelt unter dem Aspekt „Perspektiven und Zugänge“ Beiträge, die auf historische Entwicklungslinien wie das Narrativ vom sterbenden Dorf (Raphael Singer) sowie auf den populärkulturellen Bildervorrat von Ländlichkeit wie er vom Schäferspiel bis zur Gartenschau (Werner Nell) in Szene gesetzt wird, verweisen. Mit Ulf Hahne eröffnet ein prominenter, raumwissenschaftlich bestens ausgewiesener Forscher diesen ersten Strang. Ihm geht es darum, die nach der Covid19-Pandemie neu gewonnene Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume herauszuarbeiten. Die „funktionale Vielfalt“ (101) im ländlichen Raum habe zugenommen, woraus sich weitaus komplexere Zukunftsszenarien entwickeln ließen. Wie solche Entwicklungen planerisch aufgegriffen werden könnten, führt Sigrun Langner eindrücklich vor. Sie präsentiert das methodische Instrument der Raumbilder, um ländliche Räume, hier Thüringen, einer empirischen Analyse zugänglich zu machen. Unterschiedliche qualitative Merkmale einer Region (wie zum Beispiel Wohn-, Infra-, Schutz-, Sehnsuchts-LAND) werden kartografisch dargestellt, um so, in dem man die unterschiedlichen Modelle zur Deckung bringt, das Zukunftspotenzial ländlicher Räume herauszuarbeiten. Es entstehen multiple Raumbilder, die als planerische Grundlage fungieren können.

Der zweite Themenblock nimmt die „Imaginationen und Projektionen“ ländlicher Zukünfte in den Blick und verknüpft historische mit gegenwartsaktuellen Zugängen. Aus der Literatur- und Medienwissenschaft werden von Goethes Wilhelm Meister über russische literarische Utopieentwürfe bis in die Gegenwartsliteratur und in Medienformaten wie TV-Dokumentation und Serien populärkulturelle und ästhetische Verarbeitungen des Ländlichen vorgestellt, die Präsenz und Konstanz solcher Bilder und Narrative in der medialen Produktion zeigen.

Der dritte Block widmet sich planerischen und gestalterischen Entwürfen ländlicher Zukünfte und kontrastiert mit empirischen Befunden die zuvor entworfenen Imaginationen und Projektionen. Das kann sowohl in der Auseinandersetzung mit historischen Dorfkonzepten der 1950er- bis 1970er-Jahre (Karl H. Schneider) geschehen, aber auch mit Blick auf architektonische Visionen von Ländlichkeit in der DDR (Uta Bretschneider). Aber nicht nur historische Zukunftsentwürfe, sondern auch die Neubelebung historische Elemente (Landbahnhof, Bauernhäuser) oder die Notwendigkeit der Implementierung moderner Technologien und Infrastruktur (Stichwort: Digitalisierung) sind wesentliche Bausteine für eine in die Zukunft gerichtete Planung. Folgerichtig diskutieren die letzten beiden Beiträge des Bandes Entwürfe beziehungsweise Visionen wie die Dörfer der Zukunft aussehen könnten: vernetzt, multicodiert, ökologisch gewendet. Ob solche Vorstellungen allerdings angesichts augenblicklicher Entwicklungen – zum Beispiel steigender Flächenverbrauch durch alternative Energien, intensive Landwirtschaft – Wirklichkeit werden oder ob nicht ganz andere Zwänge und Notwendigkeiten prägende Kraft entfalten werden, wird die Zukunft zeigen. Es ist aber allemal nicht nur wichtig, sondern existenziell, die Rahmenbedingungen für eine Zukunftsfähigkeit des Landes breit und kontrovers zu diskutieren. Denn, das zeigen die Beiträge sehr eindringlich, Bilder und Imaginationen prägen den Blick auf das Land bis in Planung und Gestaltung hinein. Und die Herausforderungen, eine tragfähige, wenn man so will „enkeltaugliche“ Zukunft für das Land zu erarbeiten, sind immens.

Der Band liefert einen beeindruckenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Diskussion über das Thema „Die Zukunft auf dem Land“. Interdisziplinärer Zugriff und historische Tiefenanalyse bieten anregende und komplexe Diskussionsansätze. Die Beiträge sind allesamt lesenswert und gerade die gelungene Mischung aus etablierten und jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eröffnet manch ungewohnte Perspektive. Was der an sich sehr lesenswerte Band allerdings nicht einlöst und wohl auch kaum einlösen kann, ist die Synthese der unterschiedlichen Ansätze und Herangehensweisen. Die Antwort auf die Frage, wie Utopien und Sehnsüchte, Projektionen und Imaginationen mit planerischen und gestalterischen Ideen zu einer Politik für die Entwicklung ländlicher Räume zusammengebracht werden können, bleiben die Herausgeberinnen und Herausgeber schuldig. Die Kartografie von Raumbildern, wie Sigrun Langner sie vorführt, scheint mir dabei ein interessanter Ansatz zu sein, solche Bemühungen weiterzudenken. Es wäre zu wünschen, dass solche interdisziplinären Ansätze, die unterschiedliche Expertisen und Blickweisen zusammenbringen, weiterverfolgt werden. Dieses Buch ist ein vielversprechender Aufschlag.