Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Johannes Müske/Michael Fischer (Hg.)

Schlager erforschen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein populäres Phänomen

(Populäre Kultur und Musik 36), Münster 2023, Waxmann, 237 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4681-6


Rezensiert von Armin Griebel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.08.2024

Mit der Hinwendung zu neuen Forschungsfeldern hat sich das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg (DVA) nach 100-jährigem Bestehen 2014 in Zentrum für populäre Kultur und Musik (ZPKM) umbenannt. Von der einstigen generellen Ausrichtung auf das „Volkslied“ ist nurmehr dessen Behandlung im Rahmen der Diskursgeschichte populärer Musik geblieben. Ein von der Forschung lange vernachlässigtes Thema im Feld der Popularmusik ist der (deutsche) Schlager, dem das ZPKM mit der vorliegenden Publikation stärkere Beachtung verschaffen will. Der Band enthält dreizehn Vorträge einer Tagung von 2020. Zusätzlich aufgenommen wurde ein Aufsatz von Maria Fuchs. Sie war 2020 bis 2023 Postdoc am ZPKM und Leiterin des Projekts „Soundscapes of ‚Heimat‘: Mapping Musical Signatures“. Nicht enthalten ist der Vortrag von Julio Mendívil, der mit seiner Dissertation „Ein musikalisches Stück Heimat. Ethnologische Betrachtungen zum deutschen Schlager“ (2008; rezensiert im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2011) originelle Impulse aus der Sicht eines nicht-westlichen Musikethnologen in Deutschland in den Diskurs einbrachte. Die Beiträge sind vier Themenbereichen zugeordnet: „Ideologie und Politisierung“, „Klang und Performance“, „Musik und Markt“ sowie „Mediale Inszenierung“.

Kaspar Maase versucht die gut 120 Jahre kulturwissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Schlager auf zwei Deutungsmuster zu reduzieren: „Volk und Kunst“ und „Moderne Gesellschaft und Unterhaltung“, die einander um die Mitte des 20. Jahrhunderts abgelöst hätten. Volkslied und Kunstmusik seien als Referenzgrößen im technischen Zeitalter zwar zunehmend anachronistisch geworden, andererseits führe die Konzentration auf soziologische Fragen zur „Schwächung der ästhetischen Perspektive“ (27). Gerade „die spezifischen Praktiken ästhetischen Erlebens“ seien aber für das „Verständnis der individuellen wie sozialen Bedeutung unterhaltender Mainstreammusik wesentlich“ (28).

Für das Feld der Popularmusik in der DDR diagnostiziert Michael Rauhut, der am 1983 gegründeten Forschungszentrum Populäre Musik an der Humboldt-Universität Berlin gearbeitet hat, dass der Schlager bisher nicht das seiner gesellschaftlichen Bedeutung entsprechende Forschungsinteresse findet, anders als etwa Rock, Punk oder Hip-Hop, deren subversives Potenzial in der DDR als Sicherheitsproblem wahrgenommen wurde und rückblickend als emanzipatorisch gefeiert wird. Dabei biete der Schlager, dessen Funktion und Ästhetik im Sozialismus neu zu verhandeln war und der gleichzeitig mit den Trends der West-Produktion konkurrieren musste, als „das mit Abstand populärste Musikgenre“ (34) und damit wesentlicher Bestandteil des ostdeutschen Alltags, die Chance, Mechanismen, Konflikte und Widersprüche der DDR-Gesellschaft „quasi brennglasartig [zu] erhellen“ (35).

„Über Schlagerfans forschen – oder der Schlager als Zugang zum Alltag der Vielen?“ Unter dieser Überschrift stehen die Reflexionen von Ella Detscher und Marie Kaltenbach, deren empirische Basis Interviews und Gespräche im Fan-Umkreis des rechtslastigen „Volks-Rock ’n’ Rollers“ Andreas Gabalier darstellen. Bei aller kritischen Haltung der nicht-schlagerhörenden Autorinnen, die ihrer Positionierung im „Feld“ vorausgeht, plädieren sie dafür, sich „dem vermeintlich fremderen Alltag der Vielen wieder stärker und umfassender kulturwissenschaftlich zu nähern“ (61). Ihre Frage, „ob der Schlager nicht doch auch strukturell eine offene rechte Flanke habe“ (61), leitet über zu Maximilian Kreters These der „Scharnierfunktion des Schlagers bei der Popularisierung des deutschsprachigen Rechtsrocks“. Die Beobachtung, dass Schlagercoverversionen mit rechtsextrem gewendeten Texten in der Zielgruppe sogar beliebter sind als Originaltitel der Rechtsrockbands (77), scheint diese zu bestätigen.

Der Sound als zentrales Strukturelement der populären Musik ist Gegenstand der Phonomusikologie. Nicht die Komposition, sondern die Interpretation, die im Studio produziert und auf Tonträgern fixiert wird, wählt Alan van Keeken als Zugang zum Schlager. Sein Klang, den Musikwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen gelegentlich als Beiwerk abtun, ist die Stellschraube an der Schnittstelle von Ökonomie und Ästhetik, die den Erfolg einer Produktion steuern kann. Die Spannbreite reicht vom E-Gitarrensound Wolfgang Petrys (Produzent Helmuth Rüßmann) bis zum Hit „Patrona Bavariae“, mit dem Hans R. Beierlein 1988 den Sound des volkstümlichen Schlagers begründete und den Begriff ‚Volksmusik‘ nachhaltig besetzte.

Im Feuilleton gepflegte kulturkritische Vorurteile gegenüber dem Schlager scheint der zweite Beitrag im Abschnitt „Klang und Performance“ zu bestätigen. Frage: Welcher Erkenntnisgewinn ist zu erwarten, wenn man im Pop-Diskurs einen Komponisten ‚seriöser‘ Musik mit der Untersuchung einer Schlager-Komposition betraut? Otfried Büsings Beitrag mit der Überschrift „Musikalische Analyse von Schlagern“ befasst sich allein und exemplarisch mit Helene Fischers Titel „Atemlos“, der hier vom Standpunkt einer ‚höheren‘ Musik und nach deren kompositorischen Maßstäben beurteilt wird. Bei dieser Herangehensweise ist Büsings Resümee wenig originell: „historische musikalische Prinzipien in produktiver Erneuerung oder negativ konnotiert: in modischer simplicity“ (109).

Die Frage, wieweit sexualisiertes Auftreten von Sängerinnen „selbstermächtigt ist oder eine Weiterführung des männlichen Blicks“ (112), beschäftigt Marina Forell im Beitrag „Postfeminismus, Selbstermächtigung und pop-referentielle Selbst-Sexualisierung im Schlager“. Es scheint, dass eine im Pop-Zeichensystem Pornografie und Prostitution signalisierende Kostümierung wie sie Helene Fischer in der Schlussnummer ihrer Stadion-Tournee „Spürst-du-das?“ präsentiert, auch im Bereich des deutschen Schlagers ankommt.

Martin Lücke, der die Disziplin Musikwirtschaftsforschung als „transdisziplinäre Wissenschaft von der Entstehung und Verbreitung von Musik als Kulturgut“ (129) mitentwickelt hat, sieht in der „Wechselwirkung zwischen kulturellem und ökonomischem Wert“ (129) ihr zentrales Forschungsobjekt. Am Fallbeispiel Schlager wird erkennbar, dass statistische Daten aus Umfragen und Geschäftszahlen der Musikwirtschaft die Bedeutung im Kulturbetrieb nur unvollkommen widerspiegeln.

Aus wirtschaftshistorischer Perspektive beleuchtet Christian A. Müller die Situation des Schlagermarkts der frühen 1960er Jahre und referiert, wie sich die Plattenindustrie angesichts der „einsetzenden Transnationalisierung hin zur Popkultur“ (159) positionierte und mit welchen Strategien die einzelnen Firmen der „Gleichzeitigkeit von heimischen und internationalen Repertoiretrends“ (160) begegneten.

Am Beispiel des 1963 entstandenen US-amerikanischen Songs „Blame it on the Bossa Nova“, den das Publikum in der Übersetzung „Schuld war nur der Bossa Nova“ als originären deutschen Schlager wahrnahm, beschreibt Christina Richter-Ibáñez Übersetzungsstrategien im Produktions- und Distributionsprozess populärer Musik. Ihre Analyse der deutschen Übersetzung zeigt, wie die Version der Sängerin Manuela gleichermaßen an vertraute Interpretationsweisen des deutschen Schlagers wie an die englischsprachige Vorlage anschließt.

Henry Keazor, der an der Universität Heidelberg Neuere und Neueste Kunstgeschichte lehrt, wählt für das Thema „Inszenierung von Schlagerstars auf Schallplattencovern“ Albumcover des Musikers Nino de Angelo, deren visuelle Codes mit der Karriere des Künstlers (vom Schlager zur Rockmusik und zurück) zu korrespondieren scheinen.

Am Beispiel des Tonfilmschlagers „Wir Kameraden der Berge“ zeigt Maria Fuchs, dass mit der plurimedialen Verbreitung durch Radio, Schallplatte und Printmedien „gleichzeitig der Weg für seine Aneignung in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten geöffnet“ wurde (196).

Hans J. Wulff vertritt die These, „dass sich in der differenzierenden Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Stilgemeinschaften herausbildeten, […] ohne dass es dabei immer zu scharfen Grenzen […] kommen muss“ (214). Illustriert wird das durch eine Szene aus dem Film „Hier bin ich, hier bleib ich“ (1959), bei der die Schlagersängerin Caterina Valente mit dem Megastar des Rock’ n’ Roll Bill Haley im Duett singt. Für Wulff hat die Szene, über die reine Inszenierung hinaus, die Qualität eines „Kondensat[s] des Schlagerdiskurses der Zeit“ (210). Und sie entlarvt die „Rede von ‚Abgrenzung‘ [als] ein diskursives Konstrukt“ (215).

Daniela Schulz analysiert mit den Roy-Black-Filmen die Spätphase des Genres Schlagerfilm. Die Filme, die um 1970 entstanden, waren trotz der Krise von Kino und Schlager kommerziell erfolgreich und ihre Musiknummern beförderten die Vermarktung von Roy Blacks dort gesungenen Schlagern. Bei aufwendiger gestalteten Musiknummern wagt Schulz in ästhetischer Hinsicht den Vergleich mit Videoclips des späteren Musikfernsehens.

Man kann dem Herausgeber Johannes Müske beipflichten, wenn er Schlagerforschung als lohnende Aufgabe bezeichnet, um „ein unterschätztes Genre und seine Bedeutung für die Alltagswelt der Vielen besser zu verstehen“ (15). Der hier vorgestellte Band beweist es.