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Nina Kreibig
Institutionalisierter Tod. Die Kultur- und Sozialgeschichte der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert
(Tod und Agency. Interdisziplinäre Studien zum Lebensende 2), Bielefeld 2022, transcript, 548 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6340-2
Rezensiert von Barbara Happe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2024
Die Errichtung von Leichenhäusern im 19. Jahrhundert war eine Reaktion auf medizinische, religiöse und soziale Unsicherheiten und gesellschaftliche Umbrüche in der sogenannten Schwellenzeit. Die noch mangelnde Kenntnis der Ärzte, eine präzise Diagnose des Todes zu erstellen, ging kurz gesagt einher mit der bekannten und weit verbreiteten Angst vor dem Scheintod. Gleichzeitig waren sanitätspolizeiliche Aspekte, welche den Schutz der Lebenden vor den Ausdünstungen der Toten und ansteckenden Krankheiten betrafen, ein ausschlaggebender Faktor, die Verstorbenen in Leichenhäuser zu verbringen.
Nina Kreibig fragt in ihrer Dissertation, die am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde, welche „Konsequenzen die Einführung von Leichenhäusern auf die traditionelle Beerdigungspraxis hatten, ob und wie sich das Bild der Verstorbenen aus der Perspektive der Lebenden wandelte und ob die Auswirkungen eines potenziellen Wandels bis in die heutige Zeit ausstrahlen“ (30). In ihrer umfangreichen Untersuchung über die Berliner Leichenhäuser zwischen 1794 und 1871 werden insbesondere emotionsgeschichtliche und raumtheoretische Aspekte bedacht und die Gruppen, die das Geschehen rund um die Leichenhäuser bestimmten, in den Blick genommen. Damit verbindet sich ihre vierte Leitfrage, welche Narrative über Tod und Sterben und hier die viel beschworenen Entfremdungs- und Verdrängungstheorien in der damaligen Debatte vorherrschten. Waren die Leichenhäuser somit nicht nur Instrument sondern ein wesentlicher Indikator für die Separierung der Toten von den Lebenden? Eine ihrer zentralen Thesen ist, dass die Verstorbenen als Scheintote in einem „Mittelzustand“ zunächst noch als Mitglieder der Gesellschaft galten, die sich dann mit dem allmählichen Rückgang der Angst vor dem Scheintod aber zunehmend zu Fremden wandelten und die Tabuisierung des toten Körpers beförderten.
Die Arbeit ist in der im transcript Verlag beheimateten Reihe „Tod und Agency. Interdisziplinäre Studien zum Lebensende“, die von Nina Kreibig selbst mit herausgegeben wird, als erster Beitrag, allerdings als Band Nummer zwei, erschienen.
Im zweiten Abschnitt „Vorgeschichte“ werden in Kapitel II „Erschütterungen“ eingehend die Voraussetzungen und Randbedingungen, die letztlich zur Errichtung der Leichenhäuser führten, erörtert. Kreibig sieht in der Angst ein entscheidendes Movens und leuchtet Diskurse und Theorien über dieses Phänomen und die kulturgeschichtlichen Hintergründe aus. Sie stellt unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen der Mediziner von Scheintod vor , namentlich die von Christoph Wilhelm Hufeland und seiner Lebenskraftlehre. Dass die weit verbreitete Angst vor dem Scheintod selbst überzeugte Kommunisten wie Bertolt Brecht noch heimgesucht hatte, zeigt die von der Autorin berichtete Anekdote, dass man ihm gemäß seiner testamentarischen Verfügung von 1955 im Jahr seines Todes 1956 die Herzschlagader öffnete, um sicher zu gehen.
In dem mit „Krisenmanagement“ überschriebenen Kapitel III werden Maßnahmen wie die Einführung von Beerdigungsfristen sowie die obligatorische Leichenschau als Reflex auf die Ängste und deren Bewältigung detailliert geschildert. Mit zahlreichen Exkursen und Ausblicken auf die Entwicklungen und Diskurse in den Nachbarländern, Skizzen der religiösen Vorstellungen von Tod und Bestattung und teils ausufernden Begriffsdefinitionen, wie etwa zu Individualität, Pietät, Solidarität und Bürgerlichkeit, wird der große Themenkomplex unnötig parzelliert und den Lesenden viel Geduld abverlangt. Denn nicht alle Hintergrundinformationen und Erkenntnisse, die eine Doktorandin subjektiv als neu empfindet, gehören in die Abfassung einer schriftlichen Arbeit und schon gar nicht in deren Publikation. Dabei ist die vorliegende Publikation bereits eine gekürzte Fassung der Doktorarbeit.
Im zentralen Abschnitt „Neue Strukturen: Die Leichenhausfrage in Berlin (1794–1871)“ werden 25 realisierte Leichenhäuser oder Leichenzimmer beziehungsweise 29 Bauprojekte nachgewiesen. Das Kapitel „Orte und Räume“ widmet sich der Entwicklung der Berliner Friedhöfe, die von einem Exkurs zur Stadtgeschichte begleitet wird, um die „räumlichen Grenzen des Bearbeitungszeitraumes abzustecken“ (146). Hier geht es auch um das Wohlstandsgefälle in den Stadtbezirken, um beurteilen zu können, ob die Leichenhäuser vorrangig der ärmeren Bevölkerung zugutekamen, die nicht über genügend Raum zur Aufbahrung der Toten verfügte (150).
Interessant ist, dass die Finanzierung der Leichenhäuser als sanitätspolizeilichen Einrichtungen bis 1839 ausschließlich aus Spenden erfolgte, bevor der kommunale Leichenfuhrparkfonds zuständig wurde, weswegen die Architektur zunächst recht einfach ausfiel. Wer die Spender dieser Bauten waren, wird leider nicht erwähnt, bis auf den Fall des Stadtverordneten und Kaufmanns August Friedrich Hollmann, der mäzenatisch im Sozialwesen tätig war und 1838/1839 mit einer Großspende das Leichenhaus der Jerusalems- und Neuen Kirche finanzierte (209 und 265).
Anfänglich handelte es sich um einfache Leichenzimmer, die dem Totengräberhaus angegliedert waren (176). Singulär ist auch der Umbau einer Familiengruft, nicht hingegen die Verwendung eines ehemaligen Tanzsaales. Der Berliner Magistrat urteilte anlässlich einer Inspektion des Leichenzimmers der Dom-Kirchengemeinde im Jahre 1866, dass es sich um eine niedrige, gewöhnliche Stube handele, die keineswegs als Leichenhalle bezeichnet werden könne (178). Der Rückgang der Angst vor dem Scheintod ab den 1860er Jahren wirkte sich insofern auf die Ausstattung der Leichenhäuser aus, als man auf die bekannten Weckapparate verzichtete.
Die „Agency in der Leichenhausfrage“ betrifft die „externen“ Institutionen und staatlichen Behörden, die eine Entscheidungsbefugnis hatten und die „internen Akteure“, also die Totengräber und -wächter sowie das medizinische Personal.
Im Abschnitt über die „Chronologie der Berliner Leichenhausfrage“ werden zwei Phasen unterschieden und zwar die erste von 1794–1848, in der die Leichenhäuser vornehmlich als Asyle von vermeintlich Scheintoten fungierten, und die zweite von 1846–1871, in welcher der Schutz der Lebenden vor Ansteckungen in den Vordergrund rückte, vor allem im Zuge der ersten Choleraepidemie in Berlin. Gleichzeitig war aber die Unterbringung der Toten, die an einer ansteckenden Krankheit verstorben waren, umstritten (248), da sie ja die Scheintoten und das Wachpersonal gefährdeten. Kreibig zeichnet die teils verworrenen Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit von Leichenhäusern und etwaige Zwangseinweisungen sowie die äußerst schleppenden Verhandlungen angesichts schwacher Finanzen und dürftiger Informationslage minutiös nach. So scheiterte etwa eine von Geheimrat Hufeland 1834 initiierte Kollekte in der wohlhabenden Dorotheenstadt, wo er selbst auch wohnte, mit einem Erlös von nur 500 Talern. Ab 1837 scheint dann im Zuge der zweiten Cholerawelle ein Umdenken bei den Kommunalbehörden hinsichtlich der Notwendigkeit erfolgt zu sein. Hier erfährt man en passant, dass 1839 das sechste Leichenhaus in Berlin errichtet wurde (279). Dass die Leichenhäuser in der Bevölkerung keinerlei Akzeptanz besaßen zeigt deren mangelnde Nutzung, die zwischen 1844 und 1846 nicht höher als 0,1 bis 0,2 % aller Verstorbenen betraf. Sucht man hier vergeblich die zugehörigen Tabellen, wird man schließlich im Abbildungsverweis fündig und stellt mit Befremden fest, dass die Tabellen 1-4, und nur diese, auf den edoc-Server der Humboldt-Universität ausgelagert wurden (292 und 531), dort aber unter der angegebenen DOI-Nummer leider nicht abrufbar sind.
Was die Realisierung der tatsächlichen Leichenhäuser betrifft, stellt Nina Kreibig eine unübersichtliche Lage fest, da dem Magistrat offenbar die notwendigen Informationen hierzu fehlten (312). So schienen auch die Zuständigkeiten hinsichtlich der Kontrolle und Oberaufsicht nicht geklärt oder zumindest in der Praxis widersprüchlich gewesen zu sein. Die langwierigen Darstellungen etwa über die sukzessive Erhöhung der Nutzung sind auf die Dauer für den Leser nicht nur ermüdend, sondern es wimmelt aufgrund der chaotischen Sachlage an offenen Fragen, die letztlich keine Klarheit über die Modalitäten der Leichenhausnutzung, die soziale Zusammensetzung der Nutzergruppen oder konfessionelle Unterschiede bringen. Dagegen vermisst man eine Liste der Entstehungsdaten der einzelnen Leichenhäuser und ihrer topographischen sowie parochialen Zugehörigkeit in Berlin.
Im Schlussteil wird erneut rekapituliert, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel in der Vorstellung von den Verstorbenen und im Umgang mit den sterblichen Überresten erfolgt sei, der mit dem sprachlichen Wandel von Leichenhäusern zu Leichenhallen korrespondiere. Die sich hierin ausdrückende Separierung der Toten von den Lebenden werfe ein Licht auf die heutige Sepulkralkultur, die den Tod „zumeist räumlich weit entfernt von der Welt der Lebenden positioniert“ (443), was aber sogleich im Hinblick auf heutige Tendenzen wieder relativiert wird. Was bleibt ist dennoch die zentrale These, dass die Leichenhäuser ein elementarer Schritt zur Verdrängung der Toten an die Peripherie der Gesellschaft seien (444). Leider ergeben die unendlich vielen Mosaiksteinchen, die Nina Kreibig zusammengetragen hat, kein übersichtliches Bild der damaligen Verhältnisse.
Zu den Illustrationen ist anzumerken, dass die Grafiken einen ältlichen Standard haben und die Abbildungsqualität schlecht ist, was angesichts der Mühe, die sich Autorinnen wie Nina Kreibig machen, immer bedauerlich ist.
Unglücklich ist der Umstand, dass eine Doktorandin als Herausgeberin ihrer eigenen Dissertation fungiert. Diese problematische Personalunion von Autorin und Herausgeberin hat möglicherweise dazu geführt, dass für die Textedition eine kritische und neutrale Begutachtung fehlte, die sicher zu einer Fokussierung geführt hätte.
Diese Einwände schränken den Wert der Arbeit von Nina Kreibig nicht wesentlich ein: Es ist die erste systematische Untersuchung über die, wie der Untertitel deutlich macht, Kultur- und Sozialgeschichte von Leichenhäusern in Berlin. Nina Kreibig hat beeindruckend viele Quellen ausfindig gemacht und gesichtet und dabei viele Perlen entdeckt, welche sicher die zukünftige Forschung bereichern werden.