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Angelika Kromas

Das Warenangebot des Mühldorfer Kramers Franciscus Schmidt. Zur Konsumgeschichte des 17. Jahrhunderts

(Stadt und Region in der Vormoderne 10), Baden-Baden 2022, Ergon, 300 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-95650-981-0


Rezensiert von Lioba Keller-Drescher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2024

Beim vorzustellenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Dissertation von Angelika Kromas aus dem Jahr 2021 an der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg. Im Mittelpunkt steht ein Geschäftsbuch aus dem 17. Jahrhundert, die sogenannte Strazza des Kramers Franciscus Schmidt aus Mühldorf am Inn. In dieser Art von Geschäftsbuch wurden nur Vorgänge mit zunächst noch offener Rechnung eingetragen, also nicht alle Käufe und Verkäufe des Geschäfts. Die Quelle zeigt daher das geschäftliche Gesamthandeln nur eingeschränkt, aber man kann sie nutzen, um einen Einblick in die wenig dokumentierte regionale Handels- und Warenkultur des ausgehenden 17. Jahrhunderts zu bekommen. Die erste Begegnung mit der hier aufgearbeiteten Quelle fand bereits zu Beginn der 2000er-Jahre im Rahmen eines Ausstellungsprojektes statt. Es spricht für die Faszination, die von so einem Fund ausgehen kann und ebenso für einen langen Atem der Autorin, die sich Jahre später im Promotionsprojekt an die Bearbeitung gesetzt hat. Die Arbeit ist keine bloße Quellenedition, sondern nimmt die Quellenauswertung zum Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Distribution und Konsum von Waren im 17. Jahrhundert im damals zum Erzstift Salzburg gehörenden Mühldorf am Inn (seit dem 19. Jahrhundert Bayern). Angelika Kromas nennt ihre Arbeit eine „wirtschaftshistorische Mikrostudie“ (10). Dafür werden in den einführenden Kapiteln (1–4) die historischen Bedingungen und Voraussetzungen zum Verständnis der Quelle und ihrer Aufbereitung vorgestellt, ebenso Forschungsstand und die Fragestellung, die sich stark an den einschlägigen Arbeiten der beiden universitären Betreuer Reinhold Reith (Salzburg), Mark Häberlein (Bamberg) orientieren. Narrative Klammer und zugleich Forschungsimpuls bildet ein von Bernward Deneke – dem damaligen Kustos der Volkskunde am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg – 1987 formuliertes Desiderat, wonach unerforscht sei, wie und in welcher Formatierung die (textilen) Waren von den großen Umschlagplätzen der Messen in Leipzig und Frankfurt am Main in die regionalen und lokalen Handelsangebote der Kramer, Händler, Märkte etc. und damit zu den Konsumentinnen und Konsumenten vor Ort kamen. Diesen Aspekt zu untersuchen, sieht die Autorin als einen zentralen Ansatz ihrer Arbeit. Erweitert um Fragen, wie die nach der sozialen Zusammensetzung der Käuferschaft, den Hauptgruppen an Waren, deren Herkünfte, Handelswege und alltagskulturellen Bedeutungen, nicht zuletzt auch die nach der Lebenswelt der in Mühldorf ansässigen Familie Schmidt – und hier insbesondere Vater Franciscus Schmidt und Sohn und Geschäftserbe Adam Schmidt. Der zeitliche Schwerpunkt liegt in der Laufzeit des Geschäftsbuchs von 1684 bis 1687, es wird aber auf zeitlich rückgreifende und vorgreifende Literatur Bezug genommen, um historische Einordnung, Rahmenbedingungen und Deutungen vornehmen zu können, da für die Zeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts wenig Vergleichsstudien vorhanden sind. Forschungslücken, die hier allenthalben bestehen, werden daher mit einer Kombinatorik hilfreicher Sekundärwerke, Quellen und Vergleichsstudien aus anderen Zeitschnitten zu schließen versucht. Die von ihr als „wichtigste und interessanteste Frage“ erkannte, ist die „nach dem Warensortiment eines Kleinstadtkramers am Ende des 17. Jahrhunderts“ (19). Die Bearbeitung dieser Frage nimmt Zweidrittel des Buchs in Anspruch und ist in die drei Hauptkategorien „Textilien“, „Spezereien“ und „Materialwaren“ unterteilt, die jeweils noch mit weiteren Unterteilungen verzweigt sind und mit Ergänzungen und einer Zusammenfassung (Kapitel 6–9) abgeschlossen werden. Ausgehend von den Ver- und Einkaufsvorgängen, die die Strazza auflistet, wird eine überaus detailreiche Materialgeschichte vorgestellt. Diese wird oftmals in ein Netzwerk an lokalen, regionalen bis hin zu globalen Bezugs- und Bedeutungssystemen eingeknüpft. Was man in Mühldorf kaufen konnte, stammte aus der Region, aus den deutschen Handels- und Produktionszentren wie auch aus den anliegenden Ländern und aus „aller Welt“, zu der nicht zuletzt durch die kolonialwirtschaftlichen Expansionen Lieferketten ausgebaut wurden und der Warenkonsum erweitert und für breitere Bevölkerungsschichten zugänglich wurde. Die Käuferinnen und Käufer der Waren werden ebenso thematisiert wie die Geschäftspraxis, der Alltag, die Herrschafts- und Ordnungsverhältnisse und vieles mehr. Nicht alles in der gleichen Tiefe, aber immer mit dem großen Engagement, möglichst viel Wissen zusammenzutragen, um die Dinge zu erklären. Wer sich dafür interessiert – von A wie Alaun bis Z wie Zucker – bekommt einen vielfältigen, gut nachvollziehbar beschriebenen Warenkosmos geboten, dessen Detailfülle manchmal ausufern kann und gelegentlich Redundanzen erzeugt, aber überaus informativ und gelegentlich spekulativ ist. Wenn eine solche Fülle an Informationen bearbeitet wird und für fast alles der Anspruch einer Deutung erhoben wird, dann ergeben sich meist solche Ungleichgewichtigkeiten. Dass hier aber das Herzstück der Arbeit von Angelika Kromas liegt, merkt man bei der Lektüre und folgt ihr gerne in die Verzweigungen des damals „Gewölbe“ genannten Kramergeschäfts der Schmidts. Kromas Darstellungen und Deutungen der Warenkultur wird mit einer breiten Kenntnis und Nutzung an regionalwissenschaftlichen Publikationen, einschlägigen Überblickswerken und Vergleichsarbeiten angereichert und fußt in vielem auf den soliden Referenzwerken zum Beispiel von Jutta Zander-Seidel und Claudia Selheim und den einschlägigen historischen (Waren-)Lexika, gelegentlich auch auf veralteten Werken zum Beispiel aus der Trachtenliteratur. Bei den häufig genutzten Werken wäre eine jeweils kurze gegebenenfalls auch kritische Einordnung hilfreich gewesen. Im letzten Drittel des Bandes treten leicht häufiger Fehler im Text auf und man gewinnt den Eindruck, dass die Zeit für ein sorgfältiges Endlektorat gefehlt hat. Das schmälert die erfreulich angenehme Lesbarkeit im Ganzen aber nicht.

Die umfängliche Auswertung der Strazza leistet neben der Wirtschafts-, Konsum- und Regionalgeschichte im Allgemeinen einen wichtigen Beitrag im Besonderen für die historische Kleidungs- und Nahrungsforschung, der allerdings noch viel höher sein könnte, wenn es ein Stichwortverzeichnis gäbe. Es ist sehr bedauerlich, dass darauf verzichtet wurde, zumal dies heutzutage relativ unaufwendig erstellt werden kann. Vielleicht könnte das im Nachhinein als elektronische Ergänzung noch erarbeitet und zum Beispiel auf der Verlagsseite zur Verfügung gestellt werden? Es wäre für die wissenschaftliche Nachnutzung der spannenden Erträge der Studie sehr wünschenswert. Betrachtet man die Arbeit nur als regionalhistorische ist dieses Manko sicher weniger groß, denn sie bietet erfreulicher Weise auch einer nicht wissenschaftlichen Leserschaft eine gelungene Studie zur lokalen Ökonomie mit ihren Weltbezügen am Ende des 17. Jahrhunderts. Das von Deneke benannte Forschungsdesiderat ist mit dieser Studie daher beispielhaft behoben worden.