Aktuelle Rezensionen
Christoph Bareither/Katharina Geis/Sarah Ullrich/Sharon Macdonald/Elke Greifeneder/Vera Hillebrand (Hg.)
Digitales Bildkuratieren
(Begriffe des digitalen Bildes), München 2023, Open Publishing LMU, 96 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-487-16417-5
Rezensiert von Nathalie Knöhr
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2024
Das Foto der in ihre Smartphones vertieften Schulkinder im Rijksmuseum, die das neben ihnen hängende Gemälde „Die Nachtwache“ von Rembrandt nicht zu beachten scheinen, ist heute weithin bekannt.[i] Immer wieder taucht es, häufig mit desillusionierten Bildunterschriften über „die Jugend von heute“, „die abgelenkte Gesellschaft“ oder „das digitale Zeitalter“, in den Social-Media-Feeds der Rezensentin auf. Dabei ließe sich aus ihm ebenso gut schließen, dass die überallhin mitgeführten mobilen Endgeräte längst auch bei Museumsbesuchen genutzt werden, etwa um zu recherchieren, Fotos zu machen und um die Bilder mit anderen zu teilen.
Mit solchen „Praktiken des digitalen Bildkuratierens“ (9) beschäftigt sich das vorliegende Themenheft aus der Reihe des DFG-Schwerpunktprogrammes „Das digitale Bild“. Es präsentiert Einblicke in Forschungen und Ergebnisse des Projektes „Curating Digital Images“,[ii] das von 2019 bis 2023 als Kooperation zwischen dem Centre for Anthropological Research on Museums and Heritage (CARMAH), dem Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (IBI) der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen durchgeführt wurde.
Das gemeinsame Einleitungskapitel der Herausgebenden stellt zunächst Forschungsfrage, Perspektivierungen, Methoden und zentrale Konzepte vor. An Zugänge der Digitalen Anthropologie, der Informationswissenschaft und der Museum und Heritage Studies anknüpfend, wurden teilnehmende Beobachtungen in Kunstmuseen, an einer Gedenkstätte sowie online in sozialen Netzwerken, auf Blogs und in Foren durchgeführt, um herauszufinden, wie „digitale Bildtechnologien den Umgang von Besucher*innen mit musealen Räumen“ (6) verändern. Auch der eigene Umgang mit Bildtechnologien, wie Smartphones und Bild- und Social-Media-Plattformen, wurde von den Forschenden ethnografiert. Social-Media-Beiträge und weitere Internetquellen wurden analysiert sowie eine Vielzahl von teils online und per Chat geführten Interviews mit qualitativer Datenanalyse ausgewertet. Dafür erwies sich zum einen der für die praxeologische Analyse von Mensch-Technik-Beziehungen hilfreiche Begriff der Affordanzen als aufschlussreich, welche „die in Technologien eingeschriebenen Potenziale zur Ermöglichung, Aufforderung und Einschränkung spezifischer Praktiken und Erfahrungen“ (8) beschreiben. Zum anderen war ein erweitertes Verständnis des Kuratierens als Alltagspraxis „des In-Beziehung-Setzens, die Inhalte und Zusammenhänge zeigt, erfahrbar macht und aufwertet“ (11), grundlegend.
Einen ersten Eindruck von der Vielfalt digitalen Bildkuratierens vermitteln vier evokative Kurzporträts: aus Fotos, Interviewzitaten und Instagram-Posts arrangiert, rücken sie vier der in den drei untersuchten Feldern agierenden „Bildkurator*innen“ (12) in den Fokus und stimmen so thematisch auf die Beiträge zu den einzelnen Teilstudien ein.
Der erste Beitrag über die Rezeption musealisierter Kunst zeigt nicht nur auf, dass diese neben kontemplativer Betrachtung eben auch fotografische Praktiken mit dem Smartphone umfassen kann. Den von Sarah Ullrich vorgestellten Bildkuratierenden aus ihrer Promotionsstudie ist es zudem ein Anliegen, eigene Sichtweisen auf und ästhetische Erfahrungen mit Kunst an ein Publikum zu vermitteln. Indem sie ihre Museumserfahrung auf Instagram thematisieren, biografische Bezüge und teils auch alternative Lesarten kunstbezogener Geschichtsschreibung aufzeigen, gelinge es ihnen, „die museumseigenen Narrative mit den alltäglichen Lebensrealitäten der Besucherinnen und Besucher“ (26) neu zu verknüpfen. Bei allem „medienpraktischen Wissen“ (29) über Affordanzen der Online-Plattform – das heißt Interaktionslogiken der Reichweite, Sichtbarkeit und damit verbundene ästhetische Prinzipien – und den Umgang damit, zeigen die Erfahrungen der Nutzenden aber auch, dass soziale Medien zugleich „neue Unsichtbarkeiten, Ausschlüsse, Hierarchien und Machtstrukturen“ produzieren. Es gelte daher, so Ullrich, ebenso die Grenzen der „digitalen Teilhabe“ (31) zu erforschen.
Aus der Bandbreite der im Rahmen ihrer Promotionsstudie über die Nutzung digitaler Museumsdatenbanken untersuchten kuratorischen Praktiken stellt Katharina Geis in ihrem Beitrag das Erstellen, Teilen und Kommentieren von „,art compilation[s]‘“ (39) in kunstinteressierten Online-Communities vor. Über Datenbanken verfügbare Bilder von Museumsexponaten und Kunst werden dazu zum Beispiel mit Zitaten aus Gedichten, Screenshots von Tweets oder Filmen arrangiert und mit interpretierenden Schlagzeilen untertitelt. Besonders auf der Microblog-Plattform Tumblr, deren Optionen solche kuratorischen Praktiken des „Bildwebens“ (44) geradezu bedingen, bringen Nutzende auf diese Weise ihre Emotionen und Empfindungen zum Ausdruck. Dabei gehe es ihnen auch um kommunale Aspekte des Austausches und des Wissenserwerbs. Die Kontexte der Kunstwerke seien jedoch zweitrangig, vielmehr stehen die Interpretationen und das hierfür aufgerufene Wissen um Bildästhetiken und die emotionale Wirkung von Kunst im Vordergrund. Solche Verknüpfungspraktiken und „neue Formen des Miteinanders“ (42) binden die Exponate Geis zufolge in die Alltage der Nutzenden ein. Ihre Beobachtungen zeigen, wie Bilddatenbanken zusammen mit Online-Plattformen neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnen, die „das Museumserlebnis auf zugängliche Weise“ (46) erweitern können.
Ergänzende Informationen über Verwendungsweisen digitaler Bilddatenbanken liefern die in einem knappen Überblick vorgestellten Ergebnisse einer Online-Umfrage. Diese wurde unter Nutzenden des Webportals Europeana, einer Initiative der EU für die digitale Zugänglichmachung (im-)materiellen Kulturerbes, durchgeführt. Neben der Nutzungshäufigkeit wurden so auch unterschiedliche Zwecke der Verwendung erhoben.
Anhand seiner ethnografischen Forschung über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas zeigt Christoph Bareither sodann auf, wie Menschen mittels Praktiken des digitalen Bildkuratierens Holocaust-Gedenken verhandeln und mitgestalten. Eigehende Betrachtungen der rund um das Stelenfeld beobachteten fotografischen Praktiken, Interviewaussagen und exemplarische Bildanalysen, lassen nachvollziehbar werden, „wie Besucher*innen die Affordanzen digitaler Bildtechnologien nutzen, um ihre eigene emotionale Auseinandersetzung mit dem Denkmal […] bildlich zu artikulieren“ (57, 59). Digitales Bildkuratieren als erinnerungskulturelle Praxis umfasst dabei sowohl das private Erinnern als auch das öffentliche Teilen der Fotos in sozialen Medien.
Von den Projektbeteiligten einleitend als Komplex ineinandergreifender Praktiken und Routinen definiert, umfasst digitales Bildkuratieren also auch die Bewegung und die visuelle Wahrnehmung „in digitalen und physischen Räumen“ (14). Um die hierbei zentralen „Praktiken des Anschauens“ (66) genauer zu untersuchen, wurden für die Teilstudien von Sarah Ullrich und Katharina Geis, zusammen mit Elke Greifeneder und Vera Hillebrand vom informationswissenschaftlichen Forschungslabor des IBI, ethnografische Methoden mit Eye-Tracking-Verfahren kombiniert. Das vorletzte Kapitel behandelt dem vorausgegangene Überlegungen, die Vorgehensweisen und so gewonnene Erkenntnisse. Als eine der Stärken dieser methodischen Innovation ist dabei die Nutzung des elizitatorischen Potenzials der Eye-Tracking-Aufnahmen von Ausstellungsbesuchen und Datenbankrecherchen für begleitende und nachgelagerte Interviews hervorzuheben. Durch die Erkenntnisse aus der Feldforschung kontextualisiert, werden davon ausgehend zielgerichtete Praktiken des Auswählens, Ausprobierens und In-Beziehung-Setzens als wesentlicher Teil digitalen Bildkuratierens beschrieben. An den analysierten Beispielen wird auch deutlich, dass und wie die Studienteilnehmenden dabei ihrem „inkorporierten bildkuratorischen Sinn“ (83) folgen.
Ein zentraler Befund der abschließenden Synthese ist dann unter anderem auch, dass digitales Bildkuratieren „keine ,passive‘ Reflexion der musealen Erfahrung, sondern integraler Bestandteil der aktiven und sinnlich-körperlichen Auseinandersetzung mit musealen Räumen“ (90) ist. Diskutiert wird zudem, welche Potenziale und Herausforderungen die Beobachtung, dass digitale Bildtechnologien „das Kuratieren der eigenen musealen Erfahrung“ affordieren, für „das Feld von Museen und kulturellem Erbe“ (88) mit sich bringen. Wenngleich digitale Bildtechnologien Möglichkeiten für die Entwicklung neuer partizipativer Formate bieten, seien mit ihnen verbundene „Politiken der digitalen Sichtbarmachung“ (95) und medienwirtschaftliche Interessen Faktoren, die es, wie die Forschenden ausblickend anmerken, zu berücksichtigen und in ihren Auswirkungen weiter zu untersuchen gilt.
Die mit fünf Illustrationen und vielen weiteren farbigen Abbildungen ansprechend gestaltete Publikation bietet in den für sich stehenden Beiträgen kompakte Einblicke in die Teilstudien des Projektes, dessen einträgliche komplementäre Perspektivierungen und begrifflichen Konzepte aber vor allem durch die gemeinsame Einleitung und zusammenführende Synthese anschaulich werden. Eine anregende Lektüre, die auch ob ihrer Kürze Interesse weckt, sich tiefergehend mit den Projektergebnissen zu beschäftigen und der ein breites Lesepublikum zu wünschen ist.
[i] Das 2014 veröffentlichte Foto findet sich auf Flickr: https://www.flickr.com/photos/gijsvanderwal/15893868835/in/photostream/ [07.05.2024].
[ii] Zum Projekt „Curating Digital Images. Ethnographic Perspectives on the Affordances of Digital Images in Heritage and Museum Contexts“ siehe: http://www.carmah.berlin/curating-digital-images/ [7.5.2024].