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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Ines Lüder

Widerständige Ressource. Typologie und Gebrauch historischer Bauernhäuser

(Rurale Topografien 17), Bielefeld 2022, transcript, 559 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6149-1


Rezensiert von Simon Kotter
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2024

Unter dem etwas sperrigen Titel „Widerständige Ressource. Typologie und Gebrauch historischer Bauernhäuser“ erschien 2022 im transcript-Verlag die Promotionsschrift der Architektin Ines Lüder. Der Begriff „Ressource“ führt dabei unter Umständen auf eine falsche Fährte, denn die Verfasserin zeigt in der umfassenden Studie nur bedingt die Potenziale historischer Bauernhäuser auf und formuliert noch weniger explizite Handlungsstrategien, vielmehr liefert ihre Analyse „eine Wissensgrundlage über den aktuellen Zustand von Fachhallen- und Barghäusern in den Steinburger Elbmarschen“ (474).

Zu Beginn ihrer Ausführungen stellt Lüder ausführlich die Genese und Beschaffenheit ihres Untersuchungsgebiets vor. Die Elbmarschen des Landkreises Steinburg wurden ab dem 12. Jahrhundert unter Mitwirkung holländischer Kolonisten eingedeicht, entwässert und kultiviert. Landwirtschaft prägte diese der Natur mühsam abgetrotzte Kulturlandschaft und sie tut es trotz mancher Transformationsprozesse bis heute.

Die besondere Kulturlandschaft der Elbmarschen beziehungsweise die daran angepasste Landwirtschaft brachte im Untersuchungsgebiet zwei charakteristische Bauernhausformen hervor, nämlich Fachhallenhäuser und Barghäuser. Beide Haustypen vereinen Wohn- und Wirtschaftsfunktion unter einem Dach, beide weisen im Innern mitunter beeindruckende Holzgerüste auf, beide werden dominiert von großen Lager- und Bergeräumen und beide prägen mit ihren tief nach unten gezogenen Reetdächern maßgeblich die lokale Bautradition. Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt sich die Hausforschung mit den beiden Haustypen. Ines Lüder geht in ihrer Studie auf den diesbezüglichen aktuellen Forschungsstand ein und knüpft daran ihr eigentliches Forschungsinteresse: „Bauernhäuser sind vor allem in ihrer historischen Beschaffenheit erforscht. Mit der bestehenden Typologie sind sie heute allerdings nicht mehr hinreichend zu beschreiben. Es liegt keine wissenschaftliche Betrachtung vor, die ihren Gebrauchswert anerkennt und somit gegenwärtige Nutzungen und bauliche Adaptionen in den Fokus nimmt sowie typologisch bewertet.“ (30‒31) Nach Lüder beschreiben die Bezeichnungen „Fachhallenhaus“ und „Barghaus“ idealtypische, vor allem aber historische Zustände. Für jedes dieser Häuser sei irgendwann eine Umbruchzeit gekommen, hervorgerufen durch Veränderungen in der modernen Landwirtschaft oder durch die völlige Aufgabe der Landwirtschaft. Typologie und Gebrauch gehen aufgrund der veränderten Nutzung auseinander. Um diesem Umstand begriffstechnisch beziehungsweise definitorisch Rechnung zu tragen, entwickelt die Verfasserin eine alternative Ordnungsstruktur zur idealtypischen Bauernhaustypologie.

Als Ausgangspunkt der Theoriebildung dienen elf Fallstudien. Das Besondere und auch Reizvolle daran: Es handelt sich um elf Höfe, die bereits der Hausforscher Gustav Wolf detailliert untersucht und 1940 („Haus und Hof deutscher Bauern. Schleswig-Holstein“) publiziert hatte. Wolfs Hausdokumentationen liefern nicht allein eine solide Ausgangsbasis, um die baulichen Veränderungsprozesse bis heute aufzeigen zu können, sondern verdeutlichen bereits an sich die historische wissenschaftliche Relevanz der Untersuchungsobjekte.

Die elf Höfe werden steckbriefartig vorgestellt, mit einer jeweils stichpunktartigen Beschreibung des Ist-Zustands und kurzen Chronik sowie ausgewählten aktuellen und historischen Fotografien. Besonders hervorzuheben sind die von Lüder angefertigten Axonometrien der einzelnen Hofanlagen in den Zuständen von 1940 und 2018, die auf eindrückliche Art und Weise die baulichen Transformationsprozesse visualisieren. Das Kapitel „Porträt der Fallstudien“ (181‒315) steht für sich, separat vom Rest der Studie, und soll nach Wunsch der Verfasserin parallel zu den nachfolgenden Kapiteln und auch zum vorangegangenen Kapitel (!) gelesen werden. Allein beim Blick auf die Porträts der elf Hofanlagen zeigen sich dann erste methodische Herausforderungen: Bedauerlicherweise waren die einzelnen Anwesen nur zum Teil zugänglich, so können nur vier Grundrisse im Zustand von 2018 den historischen Grundrissen gegenübergestellt werden (190‒191). Auch konnten nicht alle Eigentümerinnen und Eigentümer beziehungsweise Bewohnerinnen und Bewohner interviewt werden. Eine einheitliche Quellenbasis ist unter solchen Umständen nicht gewährleistet. Gleichzeitig weisen die Anwesen hinsichtlich ihrer offensichtlichen Transformationen ein immens breites Spektrum auf: Von den elf Hauptgebäuden standen zur Zeit der Bestandsaufnahme 2018 nur noch sieben vor Ort, eines war abgebrannt, eines abgebrochen und zwei waren ins Freilichtmuseum Molfsee transloziert. Noch größere Veränderungen waren bei den Nebengebäuden zu verzeichnen. Angesichts dieses Spektrums drängt sich die Frage auf, ob elf Beispiele überhaupt genügen, um Lüders These zu bestätigen, wonach „bauliche Veränderungen systematisiert werden können, da sich dabei in vielen Gebäuden ähnliche Vorgänge zeigen“ (152).

Lüder jedenfalls stellt in einem ersten Schritt angesichts der von ihr nachgewiesenen Transformationsprozesse der klassischen Bauernhaustypologie eine „Verlaufstypologie“ entgegen. In ihr fokussiert sie sich auf einzelne bauliche Elemente und Motivationen für Veränderungen. Ihre Schlussfolgerung: Je mehr Umbauten und Adaptionen ein Gebäude über die Jahrhunderte erfährt, umso weiter entfernt es sich vom historischen Idealtypus. In einem zweiten Schritt nimmt Lüder die Bestandsgebäude in den Blick und entwickelt, als aktualisierte Typologie und statische Zustandsbeschreibung in Abgrenzung zur prozessualen Verlaufstypologie, das „typologische Feld“ (317‒358). Für dieses macht sie fünf mögliche Positionen aus: 1) Abbruch, 2) Musealisierung, 3) Stillstand, 4) denkmalgerechte Sanierung und 5) Weiterbau. Naheliegenderweise sind Sprünge oder Verschiebungen innerhalb dieses Feldes möglich. Ein Gebäude kann etwa von Stillstand zu Abbruch oder auch Weiterbau wechseln. Die Gründe, die zur jeweiligen Position geführt haben und die gerade für die Kulturwissenschaften interessant wären, werden durch das typologische Feld nicht abgedeckt.

In einem weiteren Kapitel beleuchtet Lüder „Typologie und Gebrauch“ von Fachhallen- und Barghäusern. Zur Bauzeit bildeten beide Ebenen noch eine Einheit, der Gebrauch definierte die Architektur, die an die Kulturlandschaft der Elbmarschen angepasste Landwirtschaft brachte eben gerade diese beiden Bauernhaustypen hervor. Diese Einheit von Typologie und Gebrauch endete in einer Phase des Umbruchs, die etwa auf 1850 bis 1950 datiert wird. In dieser Phase änderten sich sowohl die Anforderungen der Landwirtschaft als auch die Vorstellungen der Bewohner und Bewohnerinnen in Bezug auf Wohnkomfort, Ausstattung, Stil und Repräsentation. Somit war das Ende der Fachhallen- und Barghäuser eingeläutet, zumindest was Neubauten anbelangte; Bestandsbauten wurden selbstverständlich weiterhin bewohnt und benutzt, angepasst und umgebaut. Für letztere begannen sich aber auch Wissenschaft und Denkmalpflege zu interessieren, die sie zu erhaltenswerten Kulturgütern erhoben. Die Konsequenz, die Lüder aus diesem Auseinanderdriften der beiden Ebenen zieht, ist eine bereits bekannte: Die klassische Typologie taugt nicht mehr zur Beschreibung des adaptierten Zustands. Auf der Suche nach neuen, prozessorientierten und kontextgebundenen Beschreibungsmodellen greift Lüder schließlich auf die „Mülltheorie“ des Anthropologen Michael Thompson zurück, weil, so die These, auch die Bauernhaustypen „Fachhallenhaus“ und „Barghaus“ im Zuge der beschriebenen Umbruchphase obsolet und damit im übertragenen Sinn zu Müll wurden. Thompson beschreibt in seiner 1979 erstmals publizierten Theorie die kulturellen Kategorien „vergänglich“ für Dinge, die sukzessive an Wert verlieren, und „dauerhaft“ für Dinge, die an Wert gewinnen. Diesen beiden Polen fügt er eine dritte Kategorie hinzu, den „Müll“, ein Schwebezustand zwischen „vergänglich“ und „dauerhaft“. „Müll“ ist für Thompson gleichzeitig ein Prozess. Ein wertloses Ding kann zu einem vergänglichen, aber auch zu einem dauerhaften Ding werden, schließlich hängt der jeweilige Wert nicht am Objekt selbst, sondern wird ihm stets von außen zugeschrieben. Angewandt auf Lüders Untersuchungsgegenstand bedeutet dies beispielsweise: Wenn einzelnen Fachhallen- und Barghäuser, obgleich hinsichtlich ihrer Nutzung obsolet und damit „Müll“, ein Wert als Kulturgut zugesprochen wird, werden sie in den Feldpositionen „Musealisierung“ oder „denkmalgerechte Sanierung“ zu dauerhaften Objekten. Bei in Gebrauch stehenden Gebäuden der von ihr definierten Feldposition „Weiterbauen“ stößt Thompsons Mülltheorie nach Ansicht von Lüder aber an ihre Grenzen, denn solche Gebäude werden weder ins Dauerhafte gehoben noch abgebrochen oder ersetzt und sind als im Gebrauch befindliche Objekte per se kein „Müll“. Lüder ergänzt daher die zyklische Kategorie „dauerhaft-vergänglich“. Diese Kategorie beschreibt den immer wiederkehrenden Prozess der Reparatur beziehungsweise Adaption, wodurch das Gebäude zwar stets an Wert gewinnt, aber doch in der Kategorie des Vergänglichen bleibt: „Die obsoleten Gebäude werden durch dauerhaft-vergänglichen Gebrauch zu einer Ressource und dadurch produktiv gemacht.“ (392)

Nach so viel Theorie geht Lüder schließlich der Frage nach, wie aneignungs- und anpassungsfähig die Ressource Bauernhaus tatsächlich ist, welche Qualitäten, Potenziale Nachteile und Herausforderungen gebrauchte Fachhallen- und Barghäuser mitbringen. Dazu lässt sie erfreulich ausführlich Eigentümerinnen und Eigentümer sowie Fachleute zu Wort kommen und destilliert deren Aussagen und Meinungen in die Aspekte Nutzung, Lage, Raum und Material, Bewertungen und Investitionen. Eindrucksvoll treten so die komplexen – und sich nicht selten widersprechenden – Einflussfaktoren zu Tage. Beispielsweise erkennen viele Eigentümer den (kulturellen) Wert ihrer Immobilie durchaus an, können sich aber eine bauliche Adaption finanziell nicht leisten oder aber wollen sich ihre individuelle Freiheit nicht durch die teils überkommenen Eigenschaften eines Fachhallen- oder Barghauses einschränken lassen. Die Eigentümerinnen und Eigentümer mit ihren verschiedenartigen Haltungen gegenüber ihren Gebäuden werden von Lüder nochmals typisiert, und zwar in Verwertende, Pragmatiker, Enthusiasten, Pioniere und Bewahrende. Wie Lüder dann diese Eigentümertypen in Zusammenhang bringt mit den Gebäuden und den entsprechend unterschiedlichen Praktiken der Aneignung von historischer Bausubstanz im Gebrauch (typologisches Feld), ja wie sie allgemein komplexe Prozesse und Netzwerke verschiedenster Akteure offenlegt und benennt, gehört sicherlich zu den Stärken dieser Studie. Ihre am Ende kurz angedeuteten Perspektiven für die Ressource Bauernhaus – Stichwort „Country Loft“ – wirken da weniger überzeugend und sind wohl eher als Epilog zu verstehen.

Lüders Arbeit, so viel lässt sich abschließend sagen, liefert eine elaborierte theoretische Grundlage zur Beschreibung aktueller Zustände von Bestandsgebäuden, abgeleitet aus einer überschaubaren Anzahl an Fallstudien in einem eng abgegrenzten Untersuchungsgebiet. Ob ihre Ideen und Theorien Allgemeingültigkeit besitzen, müsste – auch nach ihrer eigenen Aussage (39) – erst mit Ergebnissen aus anderen Regionen abgeglichen werden. Ob ihre neuen beziehungsweise angepassten und überarbeiteten Typologien in den Kulturwissenschaften Anklang finden und als alternative Ordnungsstruktur taugen, wird sich zeigen müssen. Immerhin vermag das über 500 Seiten starke Buch, dem man ein etwas gründlicheres Lektorat sowie größere und teils qualitätsvollere Abbildungen gewünscht hätte, den Leserinnen und Lesern Denkanstöße zu liefern und zur intensiven Auseinandersetzung mit baulichen Transformationsprozessen anzuregen.