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Theresa Perabo

Wilhelm Mannhardt und die Anfänge der Volkskunde. Neue Wege der Wissensproduktion im 19. Jahrhundert

(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 23), Münster 2022, Waxmann,  463 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4479-9


Rezensiert von Konrad J. Kuhn
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2024

Unser Fach ist seit jeher geübt im selbstreferenziellen Nachdenken über die eigene disziplinäre Geschichte. Auch wenn sich diese fachliche Selbstthematisierung gegen außen nicht immer gleich gut vermitteln lässt, verweist sie doch auf eine spezifische reflexive Qualität. Die in Mainz entstandene Dissertation von Theresa Perabo über den Germanisten und Mythologen Wilhelm Mannhardt (1831–1880) ist jedenfalls überzeugender Beleg für die Produktivität entsprechender wissenshistorischer Perspektiven, zeigt die Autorin am zwar in der Wissenschaftsgeschichte beständig erwähnten, aber wohl selten wirklich gelesenen „Urvater“ Mannhardt, dass und wie Fragen nach den historischen Prozessen der Wissensproduktion in der Fachgeschichte der Volkskunde zu neuen Erkenntnissen führen. Die bisherige Beschäftigung mit Mannhardt beschränkt sich weitgehend auf jene im Rahmen des „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) in den 1930er Jahren und die berühmte Neuuntersuchung des Erntebrauchs des 19. Jahrhunderts durch Ingeborg Weber-Kellermann. An diesem Punkt setzt die Autorin an und legt – soviel sei bereits gesagt – eine eigentliche Pionierstudie vor.

Die Arbeit selbst ist bestechend und nachvollziehbar aufgebaut, indem die Gliederung den gewählten konzeptionellen Zugang stützt, der praxeologisch nach verschiedenen Aspekten von Mannhardts Wissensproduktion fragt: Nach einer zügig argumentierenden Einleitung folgen eine kurze „Lebensskizze“ und zwei Kapitel zu den in der Studie untersuchten Materialien „von, an und über Wilhelm Mannhardt“ (85), zuvorderst der in der Staatsbibliothek zu Berlin verwahrte Nachlass. Der reflexive Zugriff auf dieses als Feld verstandene Archiv führt zu einem empirisch genauen Blick etwa auf Arbeitspapiere, Korrespondenzen oder Publikationen, mit denen sich in der Perspektive von Bruno Latour zeigen lässt, welche Praktiken die Konstruktion von Wissen über Kultur im 19. Jahrhundert durchzogen. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Autorin der bisher unbekannten Denk- und Bittschrift „Das Studium der Volksüberlieferung“ von Mannhardt, die mittels intertextueller Hinweise auf das Jahr 1864 datiert wird. Diese mit Absicht programmatisch konzipierte Schrift stellt nicht nur „eine inhaltliche Zäsur“ (103) im Werk Mannhardts dar, sondern ist auch biografisch zentral, indem der Autor vom Preußischen Kultusministerium eine gewissermaßen aktive Wissenschaftspolitik im Sinne der Forschungsförderung einforderte, von der seine eigene künftige Beschäftigung mit deutschen Mythen profitierte.

Die darauffolgenden Kapitel sind nach den Wissenschafts-Praktiken Mannhardts geordnet – Theoretisieren, Institutionalisieren, Forschen, Überzeugen – und erlauben so einen innovativen Blick auf den in der Fachgeschichte (nur vermeintlich) wohlbekannten Forscher. Erklärtes Ziel ist es, sein Wirken aufbauend auf der systematisch erhobenen und erheblich erweiterten Quellenbasis in die volkskundliche Disziplingeschichte einzuordnen und seine analytische Leistung neu zu vermessen.

Im ersten – leider insgesamt etwas langatmigen und deswegen partiell anstrengend zu lesenden – inhaltlichen Kapitel stehen „Mythostheorie und die Bedeutung der Volksüberlieferung“ im Zentrum. Subjektive Erfahrungen und unterschiedliche Marginalisierungen des (körperlich beeinträchtigen) Ethnografen Mannhardt prägten Zugriff wie Forschungsthema einer im Zuge der Romantik generell aufgewerteten Volksüberlieferung. Die darauf aufbauende mythologische Forschung des 19. Jahrhunderts entwickelte verschiedene Richtungen, wobei die „ethnographisch-anthropologische Deutung“ (130) breiteste Wirkung auf die frühe Volkskunde ausübte. Perabo weist nach, wie Mannhardt innerhalb der mythologischen Forschung Neuland beschritt und sich bewusst „außerhalb eines Paradigmas oder der sich etablierenden Disziplinen“ (134) bewegte. Er verstand die von ihm untersuchten germanischen Mythen in evolutionistischer Weise als historisch gewordene und über ständige Veränderungen durch Produzenten und Träger ausdifferenzierte Sachverhalte, womit er gleichsam erste analytische Schritte hin zu einer kulturtheoretischen Systematisierung vornahm, die nicht länger nur historisch argumentierte, sondern auch generalisierbare Aussagen zur Gegenwart vornahm. Dies ist umso bemerkenswerter, als entsprechende Überlegungen zum Verhältnis von „Volkskultur“ und „Hochkultur“ (etwa bei Eduard Hoffmann-Krayer, Hans Naumann oder John Meier) fachhistorisch bisher auf das frühe 20. Jahrhundert datiert wurden.

Wie Mannhardt nach seiner sprachhistorischen Ausbildung in Berlin konsequent disziplinäre Grenzen herausforderte und fachliche Zuordnungen zurückwies, zeigt das zweite analytische Kapitel. Sein Anliegen war eine neue Fachwissenschaft mit einem klaren Gegenstand, der sich mittels empirischer Methoden und vergleichender Zugriffe fassen ließ. Geprägt von einem „progressiven Fortschrittsoptimismus“ (180) arbeitete er darauf hin, die Volksüberlieferungen mit pädagogischem Anspruch und damit sozusagen aufgewertet mit gesellschaftlicher Relevanz zu erforschen. Dazu nutzte er sowohl die Foren einer wissenschaftlichen Zeitschrift, wie er auch einen „Verein für Hebung und Ausbeute der germanischen Volksüberlieferung“ (210) plante, der als international strukturierte Organisation das Sammeln und Dokumentieren der populären Mythen und Erzählungen ermöglicht hätte. Dieser moderne Zugriff ist für die damalige Zeit durchaus beachtlich, was den Umstand auch stimmig macht, dass Mannhardt und sein dezidiert konservativer Zeitgenosse (und anderer volkskundlicher „Gründervater“) Wilhelm Heinrich Riehl kaum persönliche oder fachliche Berührungspunkte aufweisen, auch wenn dies angesichts dessen berühmt gewordener Schrift „Volkskunde als Wissenschaft“ aus dem Jahre 1858 hätte vermutet werden können.

Die Methoden und Techniken der konkreten Forschung stehen im Fokus des nächsten Kapitels. Bekannt ist von Mannhardt vor allem die als „Bitte“ bezeichnete Fragebogenaktion über Erntesitten und Ackerbräuche, wobei dieses schriftliche Erfragen in der fachhistorischen Einordnung bis anhin meist kritisch gesehen und gewissermaßen als vor-methodisch eingeschätzt worden ist. Das belegbare lokale Vorgehen mittels Beobachtung und Befragung stellte hingegen bisher eine eklatante „Leerstelle in der Mannhardt-Rezeption“ (218) dar. Mit der von Perabo vorgenommenen Neubefragung wird nämlich ein durchaus feldforschender Zugang sichtbar, der kollektive Interviewformen in den besuchten Dörfern, aber auch handfeste archäologische Grabungen umfasste. Diese empirischen Verfahren zielten darauf, „haltlose Phantastereien zu einer realen exakten Wissenschaft zu erheben“ (230), weshalb Mannhardt viel Gewicht auf den methodisch kontrollierten Zugang legte, womit allerdings vor allem gemeint war, „den Baustoff nach methodischem Plan so vollständig wie möglich herbeizuschaffen“, wie er dies 1864 in einem Vortrag selbst bezeichnete (232), ihn dann kritisch zu sichten und für die von ihm anvisierte „Monumenta mythica Germaniae“ als Urkundenbuch der Volksüberlieferung zu klassifizieren. So wurden also (in heutigen Begriffen formuliert) systematische Datenerhebung und auswertende Analyse zusammengedacht, wenn auch keine eigentliche Reflexion der Sammelpraxis oder der Forschungsprozesses stattfand.

Unter der Überschrift „Überzeugen“ wird das wissenschaftliche Netzwerk von Wilhelm Mannhardt in den Blick genommen, auch wenn davon nicht in einem sozialwissenschaftlichen Sinn gesprochen werden kann. Vielmehr rang dieser zeitlebens, verschärft noch nach seinem 1862 erfolgten Rückzug in das von ihm selbst als „Provinz“ (325) bezeichnete Danzig, um kollegiale und berufliche Anerkennung, während er sein Ideal von Wissenschaft als kollektiver wie kooperativer Praxis hartnäckig und oft vergeblich formulierte. Es ist bemerkenswert, wie detailliert es anhand der überlieferten umfangreichen Korrespondenz gelingt, die Freundschaften, Beziehungen und den akademischen Austausch (bis auf die Verlegergattin Lina Duncker übrigens ein rein männlicher Kreis) zu rekonstruieren. Dabei kommen auch die erbittert geführten Auseinandersetzungen und Konflikte innerhalb der damaligen Germanistik in den Blick, in denen sich Mannhardt – wohl meist eher ungewollt und oft auch etwas unbedarft – wiederfand. Immerhin ergab sich ein Kontakt zu den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm, auch wenn die von Mannhardt gewünschte enge Zusammenarbeit nicht entstand. Dass generell eine Anerkennung seiner sich nur schwer in die damaligen Spezialisierungen einzugliedernden Arbeiten ausblieb, was sich in insgesamt wenigen und kritischen Rezensionen niederschlug, macht den Forscher zu einem fachlichen „Grenzgänger“ (346), der weitere Aufmerksamkeit verdient.

Theresa Perabo schreibt zugänglich und argumentiert präzis, wenn sie sich mit ihrer Studie zu einer eigentlichen Revision der bisherigen Wissenschaftsgeschichte unserer Disziplin aufmacht. Gewisse inhaltliche Redundanzen innerhalb des Buches sind auch der oft beeindruckenden Genauigkeit geschuldet, mit der Quellen situiert und Recherchen präsentiert werden; was sich in den total 1 450 Fußnoten oder etwa in der exakten Rekonstruktion der Zahlen zu Verbreitung und Rücklauf der „Bitte“ niederschlägt. Insgesamt hätte eine noch konsequentere Ausrichtung auf die ineinander verwobenen Praktiken der damaligen Wissenschaft die Argumente der Autorin gestützt. Das Zitieren und Kommentieren von zwar durchwegs aussagekräftigen und oft weitgehend unbekannten, in der Mehrheit aber von Mannhardt selbst stammenden Quellenstellen wird mit der Zeit denn auch etwas monoton. Schwerer wiegt der Umstand, dass die vorgelegte Analyse sehr nah an den Aussagen von Mannhardt bleibt und so seinen formulierten Deutungen und Plausibilisierungen folgt. Zwar geht die Autorin quellenkritisch und abwägend vor, sie bleibt aber oft innerhalb der Mannhardtschen Logik, wenn sie die bisherigen Einschätzungen (meist zu Recht) revidiert.

Im Anhang des vom Waxmann-Verlag gewohnt sorgfältig gestalteten Buches finden sich, neben den erwartbaren Quellen- und Literaturlisten, auch ein durch die Autorin kundig kommentiertes und hier erstmals greifbares Publikationsverzeichnis aller Schriften Mannhardts, eine Auflistung seiner Mitgliedschaften sowie seiner in Berlin zwischen 1858 und 1861 gehaltenen Vorlesungen. Zusammen mit zwei Abschriften von bis jetzt nur als Manuskripten überlieferten Arbeiten („Das Studium der Volksüberlieferung“ und „Moderne Sagenbildungen“) lassen sie dieses Buch zum künftigen Referenzwerk zu Mannhardt und seinem wissenschaftlichen Wirken werden.

Theresa Perabo gelingt es, den Lesenden einen von gegenwärtigen Forschungen unseres Fachzusammenhangs doch weit entfernten Vertreter nicht nur näherzubringen, sondern ihn unter Nutzung aktueller Fragestellungen auch komplett neu zu befragen. Dabei liest sich wohltuend, dass und wie Mannhardt trotz seines Interesses für germanische Mythologie nicht eng und ausschließend dachte, sondern vielmehr offen und im Wortsinn anthropologisch-fragend an sein Material herantrat. Hier liegt wohl auch der Grund, dass seine Forschungen später durch die NS-Volkskunde nach aktuellem Wissensstand eher wenig rezipiert wurden. Es ist das Verdienst dieses klugen Buches, so manche Vorurteile zu revidieren, die über die bürgerlichen Volkskundler des 19. Jahrhunderts als elitäre Forscher mit überheblich-paternalistischem Habitus bestehen mögen. Die sich mit dieser Studie neu präsentierende Wissenschaftsgeschichte und die ausgebreiteten Befunde zu weitgehend unterbelichteten Bezügen der frühen Volkskunde fordern hingegen zu einer weiterführenden Beschäftigung gerade mit jenen Perspektiven auf, die sich vor der disziplinären Akademisierung und universitären Etablierung des Faches bereits mit volkskundlichen Themen befassten. Die Autorin präsentiert uns mit der Person Mannhardt zwar durchaus eine „gesellschaftliche Randexistenz“ (182), vor allem aber einen widersprüchlichen und oft auch etwas tragisch anmutenden Ethnografen, der über grundsätzliche Fragen menschlicher Kultur mutig und innovativ nachdachte. Es ist dabei gerade die sich – ungeachtet aller inhaltlichen und epistemologischer Differenzen – über die Lektüre zunehmend einstellende besondere Form von Sympathie zum Protagonisten, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt.