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Ute Schaich
Gender in Kinderkrippen. Wie Geschlecht bedeutsam gemacht wird. Eine ethnographische Studie
(Geschlechterforschung für die Praxis 7), Opladen/Berlin 2023, Barbara Budrich, 183 Seiten, ISBN 978-3-8474-2692-9
Rezensiert von Yara Kypke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2024
Wie wird Geschlecht in Kinderkrippen relevant gemacht beziehungsweise wie werden welche Geschlechter im Umgang mit Kleinkindern eingebracht? Mit dieser Frage beschäftigt sich Ute Schaich, Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Frankfurt University of Applied Sciences (ehemals Fachhochschule), in ihrer 2023 erschienenen Monografie. Um Antworten auf ihre Forschungsfrage näher zu kommen, beobachtete die Autorin Ankommens-, Essens- und Spielsituationen im Alltag dreier Kinderkrippen. Diese unterschieden sich in ihrer Bildungsnähe, ihrem sozialen Umfeld und dem Interesse am Thema Gender voneinander. Aus den durch die Beobachtungen gewonnenen Feldnotizen fertigte sie Beobachtungsprotokolle mit dichten Beschreibungen an, wobei sie Fotografien von (Spiel-)Materialien mit in die Auswertung einbezog. Zusätzlich führte Schaich Interviews mit jeweils neun Fachkräften und neun Eltern(-paaren). Dabei wurde das Thema Gender direkt angesprochen. Schließlich wurden die gewonnenen Daten nach dem Vorbild der Grounded Theory kategorisiert und einer sequenziellen Detailanalyse unterzogen. So konnten Muster, Widersprüche und Lücken entdeckt, verschiedene Kategorien miteinander in Beziehung gesetzt und Schlüsselthemen ausgemacht werden. Insgesamt wurden 31 Kinder und 22 Erwachsene innerhalb der Forschung berücksichtigt.
Schaich baut ihre Studie auf der Annahme auf, dass Geschlecht das Ergebnis sozialer Hervorbringungs- und Aushandlungsprozesse ist. Solche Prozesse des „doing gender“ und „doing difference“ seien schon in der frühen Kindheit beobachtbar und entfalteten ihre Wirkmacht auch innerhalb der Institution Kinderkrippe (12), wo Fachkräfte mit den Geschlechtern der Kinder häufig „vor-situativ“ umgingen und ihre eigene Geschlechtlichkeit nicht genügend reflektierten beziehungsweise die Reflexion nicht ausreiche (16). Die fachwissenschaftliche Erforschung dieser Institution sei aufgrund der geringen Sprachfähigkeit und des sich noch entwickelnden Bewusstseins von Geschlecht bei Kleinkindern bisher zu kurz gekommen (12‒13). Diese Lücke zwischen Theorie und Praxis möchte die Autorin mit ihrer Forschung schließen.
Im Hauptteil ihrer Arbeit stellt Schaich sowohl die Ergebnisse der von ihr beobachteten Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren in der Kinderkrippe als auch die Resultate ihrer Interviews mit den erwachsenen Forschungspartnerinnen und Forschungspartnern vor. Geschildert werden im Interaktionskapitel zum Beispiel Situationen des Ankommens von Müttern und Vätern mit ihren Kindern in der Kinderkrippe sowie Interaktionen zwischen weiblichen beziehungsweise männlichen Fachkräften und den Kindern. Schaich stellt hier unter anderem dar, wie die von ihr beobachteten Mütter ausgeprägter körpernahe Fürsorgeaktivitäten übernahmen und den morgendlichen Abschied zeitlich umfangreicher gestalteten als die beobachteten Väter. In den Interaktionen zwischen den Fachkräften und den Kindern zeigte sich in ähnlicher Weise, dass die weiblichen Fachkräfte vertrauter mit Mädchen wirkten und dieses Vertrauen stetig herstellten, indem sie mit den von ihnen als Mädchen gelesenen Kindern über weiblich konnotierte Themen wie Haarspangen, Haare und Nagellack sprachen. Die männlichen Fachkräfte unterschieden sich von den weiblichen, indem sie aktivere Beschäftigungen anboten und unterstützten. Ging es um Abenteuer, Mut und Körperkraft, so ist Schaich zufolge auch in anderen Studien beobachtet worden, dass weiblich gelesene Kinder zu mehr Vorsicht angehalten wurden, während männlich gelesene Kinder mehr Bestärkung für offensive Aktivitäten erfuhren. Mädchen erlebten derlei Bestätigung eher in Bezug auf ihre Kleidung, ihr Aussehen und weiblich konnotierten Körpereinsatz. Auf der anderen Seite zeigte sich, dass als Mädchen gelesene Personen ihren Bedürfnissen und Gefühlen besser Ausdruck verleihen konnten und eher dementsprechend behandelt wurden. Bei den beobachteten, als Jungen gelesenen Personen wurde sichtbar, dass ihre Aufmerksamkeit häufig auf Objekte und Aktivitäten umgeleitet wurde statt (unguten) Gefühlen Raum zu geben. Als Jungen gelesene Kinder wurden also in ihren emotionalen Bedürfnissen nach Trost oder Ermutigung häufiger nicht abgeholt.
In den Interviews zeichneten die Fachkräfte moderne Mutter- und Vaterbilder, die die Ansprüche einer neoliberalen Gesellschaft reflektierten. Während Mütter als gestresst, leistungsorientiert und organisiert erzählt wurden, beschrieb man Väter als entspannt, weich und weniger strukturiert (116). Die Autorin konnte feststellen, dass Mütter einem kritischeren Blick unterlagen und Muster binärer Geschlechterdifferenzen dadurch aufrechterhalten blieben, dass Frauen durch vielfache gesellschaftliche Ansprüche (zum Beispiel eine gute Mutter und gleichzeitig beruflich erfolgreich zu sein) einer größeren Belastung und mehr Druck ausgesetzt sind. In der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Fachkräfte erkannte Schaich unter anderem die Konstruktion eines hegemonial-patriarchalen Musters der weiblichen Selbstabwertung und der Überhöhung von Männlichkeit. In den Interviews mit den Eltern konnte die Pädagogin Vorannahmen, Erwartungen und Hoffnungen in Bezug auf den Nachwuchs herausarbeiten. Diese reichten von dem spezifischen Wunsch, die Tochter werde der Mutter später im Haushalt helfen, bis hin zu der eher allgemeinen Hoffnung, das Kind bleibe gesund. Insgesamt hofften die Eltern geschlechterunabhängig darauf, ein starkes, durchsetzungsfähiges Kind zu erziehen. Dass sich in den Interviews ein Narrativ der Auflösung binärer Geschlechterordnungen mit dem Fokus auf Stärke zeigte, erklärt Schaich mit der Angepasstheit der Eltern an eine neoliberale Gesellschaft und deren Anforderungen.
Für die Europäische Ethnologie/Empirische Kulturwissenschaft ist diese Studie insofern von Bedeutung, als sie einen zentralen Beitrag zur Kindheits- und Genderforschung leistet. Gerade weil die Autorin aus einer pädagogischen, analytischen Perspektive beobachtet und argumentiert, baut sie ihre ethnografische Forschung mit einem feinsinnigen Gespür für frühkindliche Entwicklung, frühkindliches Handeln und zwischenmenschliche Interaktionen auf. Schaich macht darauf aufmerksam, dass Kleinkinder schon im jüngsten Alter mit genderstereotypen Erwartungen konfrontiert werden, dass sie aufgrund ihres Geschlechts unterschiedlich behandelt werden und früh damit beginnen, die von außen an sie herangetragenen Normen zu verinnerlichen und zu verkörpern. Auf diese Ergebnisse ihrer Forschung reagiert Schaich mit dem Appell, genderreflektiert statt genderneutral zu handeln. Dass Schaich in ihrer Studie selbst die Begriffe „Mädchen“ und „Jungen“ verwendet, bestätigt die Wirksamkeit dieser Wahrnehmung in den beobachteten Wirklichkeiten. Und es unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit der Reflexion des sogar (oder vielleicht besonders) in den Alltagen der Kleinsten so wirkmächtigen modernen Geschlechtermodells.