Aktuelle Rezensionen
Johanna-Marie Rohlf
Jazz and the City. Identitätskrisen und -konstruktionen in den 1920er Jahren in Berlin
(Populäre Kultur und Musik 38), Münster 2023, Waxmann, 230 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4352-5
Rezensiert von Rolf Lindner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2024
Die Studie von Johanna-Marie Rohlf beginnt, um ein musikalisches Bild zu bemühen, mit einem Paukenschlag, nämlich mit der als „Aufprall“ bezeichneten Ankunft der Jazzmusik Mitte der 1920er-Jahre in Berlin, die schon bald, und das ist eine wegweisende Aussage für die Untersuchung, für weit mehr als nur die tatsächliche Musik stand. Leider werden wir im Folgenden auf eine lange Geduldsprobe gestellt, bevor es zum eigentlichen Thema kommt, eine Geduldsprobe, die in erster Linie den Gepflogenheiten bei Dissertationen geschuldet ist. Manches von dem, was in der Einleitung, die etwa ein Fünftel des Gesamtumfangs ausmacht, verhandelt wird, dürfte als bekannt vorausgesetzt werden, beispielsweise die Definitionen von Schlüsselbegriffen wie Jazz, Stadt, Identität und Image, Fremde, Professionalisierung, Kontrolle und Macht. Anders sieht es mit den Überlegungen zum Stichwort „Musik und Urbanität“ aus, wird doch hier ein Überblick über den Status quo musikwissenschaftlicher und soundorientierter Stadtforschung geboten. Darin kommt dem Tagungsband „Musik und Urbanität“ aus dem Jahre 2002 zurecht grundlegende Bedeutung zu, erweisen sich doch Tim Carters „Models for an urban musicology“ und Helmut Rösings Ausführungen zum Soundscape nach wie vor als Orientierungshilfen für eine musikwissenschaftliche Stadtforschung. Methodisch greift Rohlfs Studie auf die Historische Diskursanalyse zurück und nutzt im vierten Kapitel die methodischen Zugänge der Actor-Network-Theory (ANT) auf fruchtbare Weise. Keine Berücksichtigung finden leider kulturanalytisch-kulturanthropologische Ansätze der Stadtforschung, was sich durchaus als Manko erweist. In drei großen Kapiteln geht Rohlf in ihrer Analyse dem Verhältnis von Musik und Urbanität nach. In Kapitel 2 schafft sie den Rahmen der Arbeit, indem sie den Zusammenhängen von Populärmusik und Großstadt nachspürt. Im Kapitel 3 steht die mediale Jazzrezeption im Zentrum. Anhand zweier großer Jazzkonzerte wird der mediale Diskurs im Detail verfolgt. Im Kapitel 4 geht es schließlich um die musikalische Praxis, die Professionalisierung des Jazz und die damit verbundene Internationalisierung der Stadt.
Die Stadt Berlin ist in den 1920er-Jahren ein Hotspot der Popularmusik. Vor allem der Schlager wird geradezu zum Markenzeichen der Stadt. „Wo entstehen die großen Schlagerlieder, wenn nicht in Berlin?“, schreibt 1928 der Feuilletonist Fred Hildebrandt. Aber als „treffende Ausdrucksform der veränderten Lebensumstände in der Großstadt“ wird von vielen Zeitgenossen der Jazz angesehen. Für Rohlf ist der Jazz aufs engste mit der Moderne verbunden, in ihm drückt sich die Moderne aus, durch ihn wird sie beschleunigt. In zeitgenössischen Beschreibungen der Jazzmerkmale findet die Autorin Übereinstimmungen mit populären Charakterisierungen Berlins, was Tempo, Rhythmus, Offenheit angeht. Berlin, so scheint es, ist Jazz, Jazz ist Berlin. Die Symbiose von Stadt und Musikgenre hat sicherlich dazu beigetragen, dass das Stichwort „Berlin“ zu einem Werbeschild für Musiker wurde, wie Rohlf betont. So wie es derzeit kaum einen Literaten gibt, der nicht in seiner Vita angibt, in Berlin zu leben, so wurde die Bezeichnung „Berliner Musiker“ zu einem Etikett, das dessen Träger als einen „Großstadtmenschen“ mit bestimmten positiven Konnotationen ausweist. Hinter dieser Zuschreibung steht der in den 1920er-Jahren alle Künste durchdringende Berlin-Provinz-Gegensatz, der den politischen Diskurs in der Spätphase der Weimarer Republik durch Polarisierungen prägt: Asphalt – Scholle; Amerikanisierung – Volkstumspflege; Neue Sachlichkeit – Innerlichkeit, wie es im Themenheft „Berlin Provinz“ des Marbacher Magazins (1985) heißt. Jazz erscheint in diesem Kontext als ein Musikgenre, in dem sich „das Hasten und Treiben des Großstadtmenschen spiegelt“, wie es 1926 in der Funkwoche heißt. Es ist die nervliche Anspannung der Großstadtmenschen, das Ausgeliefertsein an eine Vielzahl akustischer und optischer Reize, die – man kann sagen: paradoxerweise – zur Hinwendung zur Jazzmusik führen, welche gerade das Tempo des Tages nachahmt. Dabei kommt es zu einer hoch interessanten Analogie zwischen Jazz, Revuetheater und Zeitschriftengenre Magazin, die es wert gewesen wäre, sie weiter zu verfolgen!
Im dritten Kapitel vergleicht die Autorin anhand der Konzerte von Sam Wooding einerseits und Paul Whiteman andererseits, die pars pro toto für den „Aufprall“ des Jazz in Berlin stehen, die mediale Rezeption dieser Ereignisse. Dieses Kapitel ist besonders aufschlussreich, verrät es doch viel über die zeitgenössischen Vorstellungen, die mit dem Jazz verbunden wurden. Das Konzert von Sam Wooding, das im Admiralspalast, einem Zentrum des Revuetheaters, stattfand, wurde in Anzeigen als Gastspiel der Chocolate Kiddies angekündigt, „Amerikas größten farbigen Künstlern“. Entsprechend stehen im Zentrum der Besprechungen „die Hautfarbe und die ethnische Herkunft der Akteure“. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Typen der Aufnahme unterscheiden: einerseits Besprechungen, die sich begeistert zeigen von der „Echtheit“, sprich: Authentizität der Show, die „ein herrlich wildes, freies, entfesseltes Volk“ zeige, unbeleckt „von verruchter Zivilisation und sogenannter Kultur“ (111), (eine Form von ‚positivem‘ Rassismus), andererseits offen rassistisch-kolonialistische Kommentare, in denen es zu Vergleichen der afroamerikanischen Künstler mit dem Tierreich kommt. Während in der Rezeption der Chocolate Kiddies „Bewunderung, Faszination und Neugierde im Zentrum der Musikwahrnehmung“ stehen (114), wird der symphonische Jazz von Paul Whiteman und seinem Orchester, aufgeführt im Großen Schauspielhaus, mit kulturellen Parametern beurteilt, nach Kriterien der europäischen Kunstmusik eingeschätzt und als mögliche Konkurrenz wahrgenommen. Das drückt sich auch in der Ambivalenz der Kritik aus, die zwischen der Begrüßung des symphonischen Jazz als Medium der Erneuerung der europäischen Kunstmusik und der Einschätzung, dass der Jazz „da wo er sich unserer (sic!) Musik annähert, [...] nichtssagend, dürftig und langweilig [ist]“ (128) oszilliert. Diese Auseinandersetzung führt mehr oder weniger zwangsläufig zur Debatte über das Verhältnis von Kunstmusik und Unterhaltungsmusik und zur Frage, inwieweit die Jazzmusik Einfluss auf die Kunstmusik haben kann oder gar soll. Hier wäre ein kurzes Eingehen auf den zeitgenössischen Avantgardisten Erwin Schulhoff mit seinen Jazz-Elemente aufgreifenden Kompositionen wünschenswert gewesen. Wie Rohlf deutlich macht, wird gerade im symphonischen Jazz auf musikalisches Material der Kunstmusik zurückgegriffen, was zu Irritationen auf Seiten der Vertreter der traditionellen Kunstmusik führte. Da die Popularmusik als amerikanischer Import galt, verschob sich der Diskurs auch auf die Frage nach dem amerikanischen Einfluss auf das zeitgenössische Musikgeschehen. Während aber im Musik-Diskurs Ängste vor dem amerikanischen Einfluss geschürt werden, wird er im Stadt-Diskurs durchaus begrüßt, ist er doch Indikator dafür, auf der Höhe der Zeit und damit auf einer Höhe mit Weltstädten wie New York, Paris und London zu sein. Durch die Professionalisierung des Jazz durch amerikanische Künstler und der damit verbundenen Netzwerkbildung, die die Autorin im vierten Kapitel detailliert nachzeichnet, wird Berlin zu einer „Weltbühne“, ein Befund, der sich leicht auf das heutige Berlin mit der Techno-Musik und der Club-Kultur übertragen lässt. Im Schlusswort kommt Rohlf noch einmal auf die Diskrepanz zwischen medialem Diskurs und städtischer Präsenz des Jazz zu sprechen. Sie sieht in dieser Diskrepanz einen Ausdruck normativen Denkens im Musik-Diskurs, verbunden mit der traditionellen Unterscheidung in E- und U-Musik. Dadurch geraten die kleinen, für die Netzwerkbildung aber entscheidenden Szenen kaum in den medialen Blick. Schlussendlich sieht die Autorin im Jazz-Netzwerk einen wesentlichen Impuls zur Globalisierung der Stadt Berlin und einen Markstein der sich zunehmend globalisierenden Musikszene des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Autorin kommt recht unvermittelt zu dem Schluss, dass „Jazz unter Kontrolle zu bringen, ein Bedürfnis [ist], das den Jazz seit seiner Ankunft in Deutschland begleitet“ (207). Hier wäre eine stärkere Einbettung des Jazz-Phänomens in größere kulturelle und soziale Zusammenhänge der damaligen Zeit sinnvoll gewesen, ohne die Fragen nach Kontrolle und Macht überhaupt nicht zu stellen, geschweige denn zu beantworten sind. Der Jazz-Diskurs in den Medien ist Teil einer größeren Auseinandersetzung über die Charakteristika der modernen Zeiten, in der sich die politischen Lager der Weimarer Republik spiegeln. Welcher Einfluss dem Jazz zugetraut wird, zeigt sich schon 1921 anhand von Hans Siemsens Beitrag in der „Weltbühne“: „Wären doch alle Minister und Geheimräte und Professoren und Politiker verpflichtet, zuweilen öffentlich Jazz zu tanzen. Kein Dunstkreis von Dummheit, Eitelkeit und Würde könnte sich bilden.“
Trotz dieser Einwände gilt es festzustellen, dass der von Johanna-Marie Rohlf unternommene Versuch, anhand des Aufkommens des Jazz im Berlin der Zwanziger Jahre Veränderungen im Musikdiskurs und im Stadtleben nachzuzeichnen, einen wichtigen Beitrag zur Stadtforschung darstellt. Rohlfs Arbeit macht deutlich, dass (Jazz-)Musik einen nicht zu unterschätzenden Hebel zur Internationalisierung der Stadt bildet, ein Befund, der dazu anregt, sich unter ähnlichen Prämissen dem heutigen Berlin zuzuwenden.