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Julian Genten

DDR im Museum. Wie Besucher*innen sich Ausstellungen zur ostdeutschen Geschichte aneignen

(Edition Museum 80), Bielefeld 2023, transcript, 334 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6925-1


Rezensiert von Andreas Ludwig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.08.2024

Wie rezipieren Besucherinnen und Besucher Ausstellungen im Museum, was lernen sie und wie steht das, was sie wahrnehmen, in Bezug zur kuratorischen Narration. Diese Fragen stehen im Zentrum der Untersuchung von Julian Genten, die als Dissertation an der Freien Universität Berlin im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbunds „Das mediale Erbe der DDR“ entstanden ist. Ausstellungen zur DDR sind Teil dieses „medialen Erbes“, besser: eines erinnerungspolitischen Komplexes im breiteren Rahmen einer seit den 1990er-Jahren anhaltenden „Aufarbeitung“ dieser deutschen Teilgeschichte. Gentens Untersuchung steht zwar in diesem diskursiven Kontext, jedoch stehen die Reaktionen des Ausstellungspublikums im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Mit anderen Worten: Kommt das, was vermittelt werden soll, bei den Besuchern und Besucherinnen an und wie verhalten sie sich dazu. Genten geht in einem Dreischritt vor: Einleitend werden die Musealisierung der DDR seit den 1990er-Jahren und die in diesem Zusammenhang entstandenen fünf Museen in Berlin (zwei), Leipzig, Pforzheim und Eisenhüttenstadt thematisiert, in einem zweiten, theoretischen Teil stellt Genten Modelle der lernzentrierten Besucheranalyse vor und abschließend wird über die Ergebnisse ihrer Anwendung in fünf Museen zur DDR berichtet. Ziel der Arbeit ist die Untersuchung der „multiplen Prozesse der Sinngenerierung in Museen“ (16). Geschichtspolitisches Umfeld, kuratorische Absichten, Besuchskontexte, Besucherinnen- und Besuchererwartungen und -rezeption bilden die Parameter, denen Genten nachgeht.

Die im Kern geschichtsdidaktische Untersuchung geht von einer Kritik der Besucherforschung aus, die bislang mit einem engen Lernbegriff operiert habe. Gemessen worden sei vor allem, ob die Besucher und Besucherinnen das gelernt hätten, so Genten, was die Ausstellungskuratoren und ‑kuratorinnen geplant haben. Diese Feststellung ist insofern von Bedeutung, weil Genten das unter dem Eindruck des Diktaturparadigmas in der Auseinandersetzung mit der DDR seit den 1990er-Jahren entstandene dominant-staatliche Geschichtsnarrativ als leitend für die musealen Darstellungen bezeichnet und dies in den empirischen Teilen seiner Untersuchung zu den Ausstellungen und zur Besucherrezeption immer wieder zur Sprache bringt. Er geht davon aus, dass insbesondere die Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes aus dem Jahr 2008 prägend für die musealen Darstellungen zur DDR gewesen seien, mit Ausnahme des privat geführten DDR Museums in Berlin. Dem ist nur teilweise zuzustimmen, es gilt aber ohne Einschränkung für das Berliner Museum in der Kulturbrauerei sowie konzeptionell auch für das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig, die als Stiftungen öffentlichen Rechts in den Komplex offizieller Geschichtsdarstellung fallen.

Ein Auseinanderfallen von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, eine durch Jan und Aleida Assmann in Auseinandersetzung mit Maurice Halbwachs geprägte Differenzierung, zeige sich in Museumsausstellungen zur DDR vor dem Hintergrund der oftmals lebensweltlichen Expertise der Besucherinnen und Besucher deutlich, wobei die von Pierre Nora entwickelte Unterscheidung zwischen milieux de mémoire und lieux de mémoire, die in Ausstellungen zur DDR zum Tragen kommt, keine Erwähnung findet.

Die kuratorischen Absichten in den untersuchten Museen bilden sich in den Narrationen der Dauerausstellungen ab, die Genten in einem nachfolgenden Abschnitt darstellt. Methodisch bezieht er sich auf die Analysemodelle zum einen von Jana Scholze, die Ausstellungen als mediales Arrangement durch Klassifikation, Chronologie, Inszenierung oder Komposition interpretiert, zum anderen auf die von Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch entwickelte Methodik des close reading der räumlich-visuellen Ausstellungsstruktur und der in ihr versteckten Narration. Genten wendet beide Modelle in den knappen Ausstellungsbeschreibungen punktuell an, wobei kritisch anzumerken ist, dass dies nicht systematisch, sondern schlaglichtartig erfolgt. Im Ergebnis bleibt die Analyse der kuratorischen Narration gegenüber der Besucher- und Besucherinnenperspektive unterrepräsentiert.

Ausgehend von einer Kritik an einer rein lernorientierten Betrachtungsweise didaktisch orientierter Besucherforschung zielt Gentens Untersuchung auf die Frage, wie Besucher und Besucherinnen beim Museums-, genauer beim Ausstellungsbesuch deren Inhalte rezipieren. Bislang, so Gentens Resümee, seien die Forschungen vornehmlich auf Fragen des Erreichens von Lernzielen ausgerichtet gewesen und dies habe zur Neuinterpretation des Museums als Lernort, vor allem unter bildungspolitischen Gesichtspunkten geführt. Genten kritisiert diesen Zugang als ebenso instrumentell wie voluntaristisch, denn der Erfolg eines Museumsbesuchs sei allein daran gemessen worden, ob die bereitgestellten Informationen in einer Ausstellung verstanden worden seien und wie es gelingen würde, die Besucherinnen und Besucher möglichst lange auf die Ausstellungsinhalte zu fokussieren. Demgebenüber würde abweichendes Besucherverhalten als Lernversagen oder gar Störung gelten. Es stehe die Frage im Vordergrund, ob die Ausstellung „funktioniert“.

Differenzierter gingen Analysemodelle vor, die das Lernen in Museen weniger als Wissens- denn als Kompetenzerwerb bewerten. Hier geht es um die geschichtsdidaktische Frage des historischen Denkens, also die Fähigkeit, die Narration und mediale Konstruktion von Geschichte in einer Ausstellung entschlüsseln zu können. Diese Forschungsansätze gingen von der Annahme aus, dass Besucherinnen und Besucher in Museen lernen wollten, laut Genten ein fundamentaler Irrtum. Er zieht deshalb komplexere Modelle der Lernanalyse in Betracht, insbesondere das Contextual Model of Learning, das auf einem Zusammenspiel von persönlichen, materiellen und sozio-kulturellen Faktoren beruht, das „domänenspezifische Modell musealen Lernens“, das zusätzlich noch „weiche“ Lernfaktoren wie Emotionen und Einstellungen hinzuzuzieht, sowie Stuart Halls Modell der Codierung und Decodierung, das eine mediale Rezeption nach einem dominant-hegemonialen Muster, einem ausgehandelten sowie einem oppositionellen unterscheidet.

Genten kommt auf dieser Grundlage zu einem Zugang, der nicht Lernen im engeren Sinne, sondern Aneignung als angemessenen Begriff für die Auseinandersetzung der Besucher und Besucherinnen mit den Ausstellungen begreift. Dem geht er mittels 37 etwa 10- bis 15-minütigen Interviews nach, die er mit Besucherinnen und Besuchern unmittelbar im Anschluss an den Ausstellungsbesuch führte und die auf der Methodik der „hermeneutischen Dialoganalyse“ (nach Harald Welzer und Olaf Jensen) beruhten. Auf die Frage, welche Ausstellungsinhalte erinnert würden, folgten Antworten in einem breiten Spektrum von Detailerinnerungen bis hin zu Metareflexionen über die möglichen Intentionen der Kuratoren und Kuratorinnen und die Rolle des Museums in der Aufarbeitungslandschaft zur DDR. Das Dialogische in der Befragungsmethodik stellt sich in den angeführten Beispielen vor allem dadurch her, dass auf konkrete Fragen des Interviewers nur indirekt eingegangen wird und eher eine eigene Narration erfolgt, die die erinnerten Objekte und Themen vor allem als Impuls zu Erinnerung und Positionierung nimmt.

Im Ergebnis nehmen die Befragten, wenig überraschend, den Museumsbesuch vor allem als Anlass wahr, sich in ihrer Meinung bestärkt zu sehen, Erinnerungen aufzufrischen oder mitzuteilen, sowie, soweit sie lebensweltlich, das heißt generationell oder familiär mit der DDR verbunden sind oder grundsätzlich der Generation der Mitlebenden (Hans Rothfels) angehören, die Rezeption der Ausstellungsinhalte in Beziehung zu eigenen Lebenserfahrungen zu setzen, also vergleichend und einordnend vorzugehen. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die im Interview gegebenen Antworten nicht situativ geprägt sind. Schließlich blieb den Besucherinnen und Besuchern aufgrund der Befragung unmittelbar im Anschluss an den Ausstellungsrundgang ja kaum Zeit, das Gesehene zu reflektieren, die Gedanken zu ordnen, Abstand zu gewinnen. Es handelt sich demnach um vergleichsweise spontane Verknüpfungen, deren möglicherweise affektive Dimension in der Arbeit aber nicht problematisiert wurde.

Die Bedeutung des Lebensweltlichen betrifft nicht nur die hier untersuchten DDR-Ausstellungen, sondern gilt für Ausstellungsrezeption generell: Besucherinnen und Besucher suchen Anknüpfungspunkte an eigene Interessen, an Vorwissen und Vorlieben. Insofern fühlen sie sich nicht an die kuratorischen Vorgaben, etwa geplante Laufwege, die Komplexität inhaltlicher Angebote oder mehr oder weniger explizit formulierten Positionierungen und eine entsprechende Ausstellungsnarration gebunden. Dieses Besucherverhalten ist Museumspraktikerinnen und ‑praktikern geläufig, wird jedoch mit Bezug auf lernorientierte Ausstellungen als Anzeichen für Dysfunktionalität interpretiert. Für Genten ist es hingegen Anzeichen für eine Eigensinnigkeit im Umgang mit zeitgeschichtlichen Informationsangeboten.

Es stellt sich die Frage, warum diese landläufige selektive Rezeption von Ausstellungsinhalten im Kontext der zeitgeschichtlichen DDR-Ausstellungen eine lernbezogene Bedeutung zugesprochen erhält. Die Antwort liegt, das wird in Gentens Untersuchung immer wieder deutlich, zum einen in der normativen Grundierung des Themas DDR in deren Diktaturcharakter und in der Vermutung, dass museale Ausstellungen geeignet seien, zu einem fakten- und einstellungsorientierten Lernerfolg beizutragen. Sie ist zum anderen in der besonderen Struktur der Zeitgeschichte allgemein begründet, die eben immer Geschichte und zugleich lebensweltliche Erfahrung ist. In diesem Sinne wäre es interessant zu erfahren, ob vergleichbare Reaktionen auf Ausstellungen zur Bundesrepublik zu beobachten sind.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die Wirksamkeit politischer Bildung liest sich Gentens Arbeit als informierter und problemorientierter Zugang zur Museumsausstellung als Feld der Verhandlung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis.