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Anja Schwanhäußer
Stilrevolte Underground. Die Alternativkultur als Agent der Postmoderne
Leipzig 2023, Spector Books, 213 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-95905-329-7
Rezensiert von Kaspar Maase
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.08.2024
Das geschieht nicht alle Tage: Eine empirisch-kulturwissenschaftliche Magisterarbeit, zunächst in recht bescheidener Ausstattung 2002 im Münsteraner LIT-Verlag erschienen, wird 21 Jahre später von einem anderen Verlag textlich unverändert (mit einem knappen, gleichwohl gehaltvollen Vorwort der Autorin zur Neuausgabe sowie mit in Fußnoten umgewandelten Literaturnachweisen) wieder aufgelegt, in einer drucktechnischen und visuellen Ausstattung, die man nur als opulent und bibliophil bezeichnen kann. Wenn jemand sich ein alternatives Coffee Table Book vorstellen möchte – so könnte es aussehen. Was ist da geschehen? Pointiert könnte man sagen: Es ist eben in der einschlägigen Forschung fast nichts geschehen. Für die ästhetische Stilanalyse der Zeitschriften jener Bewegung, die sich selbst von den späten 1960ern bis in die 1980er-Jahre als „Underground“ präsentierte und von Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern heute als „Alternativkultur“ beschrieben wird, ist Anja Schwanhäußers Studie bis heute das Standardwerk.
Das wird in Kreisen, die sich mit Kunst und Gestaltung jenseits des Mainstreams befassen, inzwischen offenbar mehr geschätzt als in der empirischen Kulturforschung. So hat Spector Books dem Band die Gestalt gegeben, die seinem analytischen Ansatz gerecht wird: Die farbig und meist ganzseitig exzellent reproduzierten Blätter aus den im Selbstverlag hergestellten „Underground“-Zeitschriften machen die Stilrevolution und ihre bis heute anhaltende ästhetische Anregungskraft unmittelbar einsichtig.
Als „a unique introduction“ charakterisiert der Verlag daher das Werk, das von Jan-Frederik Bandel und Tania Prill für das Bremer „Archive of Independent Publishing“ herausgegeben wurde. Der Anspruch ist begründet. Im Feld historischer und sozialwissenschaftlicher Studien zur Alternativkultur ist „Stilrevolte“ bisher nach meiner Kenntnis die einzige empirisch basierte Arbeit, die ins Zentrum die Gestaltung (!) von Medienprodukten stellt und aus diesen Befunden weitreichende Interpretationen entwickelt. Das Material entstammt dem Nachlass einer zentralen Person im damaligen Netzwerk subkultureller Medien, Josef Wintjes, und ist heute im „Archiv für Alternativkultur“ am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin zugänglich. Auch die 120 Abbildungen im Band kommen aus dieser Quelle.
Der Leitgedanke, der Schwanhäußers „idealtypische“ (61) Beschreibung des Underground-Stils durchzieht, ist der einer „wilden Layoutgestaltung“ (62) als Ausdruck demonstrativer Anti-Bürgerlichkeit. Vor dem Hintergrund konventioneller Zeitschriftenformate provozierten die alternativen Medien – noch vor jeder inhaltlichen Aussage – durch scheinbares visuelles Chaos, vermeintlich infantile Arrangements von Fotos, Bildern und Bildschnipseln aus anderen Publikationen, auch mal durch abstrakte oder konstruktivistisch zersplitterte Farbflächen. Sie schienen einen sinnvollen Zusammenhang von Bild und Text zu verweigern. Und das Bildmaterial entstammte oft Quellen, die als schundig, trivial, vulgär oder gar pornografisch galten, von Comics bis zu US-amerikanischer Werbegrafik (wobei heute eine unverkennbare Vorliebe für weibliche Körper auffällt).
Diese spezielle Anti-Bürgerlichkeit liefert in gewissem Sinn den roten Faden des Bandes. Sie charakterisierte eine in ihrer sozialen Zusammensetzung selbst bürgerlich geprägte Gegenkultur, deren Aktivistinnen und Aktivisten zu großen Teilen bildungsorientierten Schichten entstammten. Die Studie arbeitet hier mit dem Homologie-Konzept, das insbesondere Paul Willis in seiner klassischen Arbeit zu Rockern und Hippies (Profane Culture, dt. 1981) für die Cultural Studies entwickelt hat. Demzufolge bilden die kulturellen Ausdrucksformen und Präferenzen einer sozialen Gruppe kein zufälliges oder willkürliches Ensemble; sie folgen der Struktur, die Werte und Lebensstil der Gruppenzugehörigen reguliert. Im Falle generationellen Protests gegen Verhältnisse, für die Jüngere ihre Eltern verantwortlich machen, erkennt man analytisch auch in der Gegenkultur die Struktur der Herkunftskultur. Provokative Lebensstile und Werte des Undergrounds zeigten – bei allen stilistischen, inhaltlichen und politischen Differenzen – doch Gefühls- und Wertungsmuster ihrer bürgerlichen Stammkultur.
Das führt Schwanhäußer zu der Frage, die sie mit als erste formuliert und zu der sie bis heute gültige Antworten vorgelegt hat: Inwiefern ist der Underground-Stil als historisch wirkkräftiger Impuls für eine „Nobilitierung der Populärkultur“ und damit für die Schwächung der Distinktionskraft kanonisierter Hochkultur (69) zu betrachten? Haben wir hier einen Auslöser für die deutliche Abschwächung der Gegensätze von High and Low, die die Forschung inzwischen allgemein konstatiert?
Eine Antwort findet die Studie in der zeitgenössischen intensiven Diskussion gegenkultureller Strategien. Das Zitieren und Demonstrieren von Elementen der „Massenkultur“ war für die (zumeist männlichen) Aktivistinnen und Aktivisten der Alternativkultur mehr als eine semantische Guerillataktik, um Unruhe in die etablierte Zeichenwelt zu tragen und jene exklusiven Rituale der Hochkultur zu erschüttern, welche die Massen exkludierten. Populärkultur diente als ästhetisches Repertoire zur Herausforderung des bürgerlichen Establishments und ebenso – etwa in Gestalt progressiver Rockmusik – dazu, eigenes Lebensgefühl auszudrücken und zu intensivieren. „[O]ffene Expressivität, die Erfüllung von Wünschen im Hier und Jetzt, die Unmittelbarkeit subjektiver Erfahrung“ (99) waren zentrale Elemente des alternativen Lebensmodells. Sie wiesen – darauf zielt die Formulierung von den Agenten der Postmoderne im Titel – in die Richtung eines massiven kulturellen Wandels im Kapitalismus: „neue Konsumformen“ sowie ein „urbaner Lebensstil, der das Improvisierte, Selbstgemachte, Spontane bevorzugt“ (9) und so Flexibilisierung (im Sinn wechselseitiger Durchdringung von Beruf und Privatleben) und Selbstoptimierung der „gebildeten Mittelschichten“ den Weg bereitete. Das Vorwort verweist auf eine ganze Reihe neuerer Studien, die diese kritische Sicht ausgearbeitet haben; am einflussreichsten war vermutlich Luc Boltanskis und Ève Chiapellos „neuer Geist des Kapitalismus“.
Andererseits signalisierte das Interesse an Populärkulturellem durchaus subjektiv antibürgerliche Ideale und eine „imaginäre […] Solidarisierung mit der sozialen Unterschicht“ (68) – ohne allerdings mit deren Lebensstilen und ästhetischen Gewohnheiten zu sympathisieren. Schwanhäußer verweist hier zu Recht auf den großen Einfluss situationistischer Ideen; Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ erschien 1967, eine deutsche (Raub-)Übersetzung 1973. Populärkultur wirkte aus situationistischer Sicht mit an der Entfremdung durch Konsumismus und triviale Ideologie. Zugleich verstand man sie aber als Teil des gesellschaftlichen Reichtums – auch an Ideen und Glücksvorstellungen –, der nach Aufhebung der Entfremdung, neu zusammengesetzt, zur freien Entfaltung der Massen beitragen sollte.
Wie diese Revolution sich vollziehen könnte, blieb jedoch unklar. Und der Mainstream von Underground und Alternativbewegung verachtete die gängige Unterhaltung und Vergnügung als spießig, kleinbürgerlich und konsumistisch; das kritische Konzept der „Kulturindustrie“ lieferte vielen die Begrifflichkeit für dieses Feindbild. Faktisch wurde der Umgang mit Ambivalenzen und Deutungsoffenheiten des „Populären“ geregelt durch kontinuierliche und intensive Reflexion gegenkultureller Theorien und Praktiken.
Schwanhäußer fasst die Bedeutung des Underground als Avantgarde für den heutigen Umgang der „akademisch gebildeten Mittel- und Oberschicht“ mit Populärem so zusammen: „einerseits eine spontane Affinität zur Populärkultur, die damit zu begründen ist, dass unsere modernen Wahrnehmungsweisen ihr entsprechen; andererseits eine semiotische Kompetenz, die der von bürgerlicher Warte aus geschmacklosen Massenkultur mit Expertentum begegnet und sie durch eine an Eco, Barthes und McLuhan geschulte Rede zu entschärfen weiß – wobei diese reflexive Annäherung wiederum Teil des Vergnügens darstellt“ (202). So seien neue Distinktionsformen erzeugt worden, die „soziale Grenzen neu verteilen. Die Verwischung der Grenzen von Populärkultur und Hochkultur hat nicht soziale Hierarchien aufgelöst.“ (203)
Die nüchterne Diagnose des kulturellen Wandels schmälert jedoch für Schwanhäußer in keiner Weise die historische Bedeutung und den revolutionären Impuls der gegenkulturellen Bewegungen. Das gilt für deren Kritik der Bürgerlichkeit wie für die ästhetische Kraft des Undergrounds, die in der visuellen Alltagskultur wie in aktuellen Avantgardeprojekten unverkennbar weiterwirkt. Schließlich wird mehrfach betont, dass die Alternativbewegung nicht auf Gestaltungsinnovationen und ästhetische Experimente zu reduzieren ist, sondern an vielen Orten sehr handfest und teilweise mit existenziellem Engagement neue, menschenfreundliche Weisen des Lebens und Arbeitens erprobt hat.
Die präzise Analyse stilistischer Praktiken und der souveräne Umgang mit den Ambivalenzen des Undergrounds qualifizieren die Studie, endlich in angemessener visueller Ausstattung, als kulturhistorische Pflichtlektüre. Der aufmerksame Blick auf das ästhetische Repertoire eröffnet zudem fruchtbare Forschungsperspektiven. Für den Rezensenten besonders anregend ist ein im binären Modell von High versus Low kaum behandelter Aspekt: Populärkultur in einem nicht-normativen Verständnis war und ist untrennbar verflochten mit Innovationen und Provokationen künstlerischer Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts, von Dada bis zur konkreten Musik.