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Dagmar Konrad

Missionskinder. Migration und Trennung in Missionarsfamilien der Basler Mission des 19. Jahrhunderts

Münster 2023, Waxmann, 368 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4698-4


Rezensiert von Marita Metz-Becker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.08.2024

Den Ruf Gottes annehmen zu müssen, bedeutete für die von Dagmar Konrad erforschten Missionskinder schmerzhafte Trennungserfahrungen, traumatische Entwurzelung und ein Leben in Übergängen zwischen Kontinenten und Kulturen. Die Eltern der Kinder waren zuvor als Missionare nach Übersee aufgebrochen und hatten die alte Heimat hinter sich gelassen, während die Mission zur Heimat der Kinder wurde, die hier zur Welt kamen und aufwuchsen. Im Alter von circa sechs Jahren mussten sie sich jedoch von ihren Eltern trennen und nach Europa zurückkehren, um bis zu ihrem 14. Lebensjahr in einem Baseler Kinderheim erzogen zu werden oder, wenn sie Glück hatten, bei nahestehenden Verwandten.

Dagmar Konrad hat mit ihrem Buch eine zutiefst bewegende Geschichte dieser Familien und vor allem der verlassenen Kinder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgelegt, die aus den Missionsgebieten Indien, Afrika und China in die Heimat ihrer Eltern nach Europa gesandt wurden, eine „Heimat“, die für sie vor allem fremd und bedrohlich war. Mit bemerkenswerter Akribie zeichnet die Autorin diese Schicksale anhand unterschiedlicher Quellen, vor allem aber aufgrund von Archivalien der Missionsgesellschaften und von Familiennachlässen nach. Briefe, Fotos, Tagebücher, offizielle und private Korrespondenzen, Personalakten, Protokolle, Rechnungen etc. gestatten einen tiefen Einblick in das Leben der Missionarsfamilien in Übersee, das Dagmar Konrad in drei großen Kapiteln darstellt. Zunächst führt sie den Leser und die Leserin ein in den Alltag der Missionarsfamilie am Einsatzort, dann geht sie dem Thema Abschied und Trennung nach, wenn die Kinder nach Europa geschickt wurden, um abschließend deren neues Leben als „Missionswaisen“ im Kinderheim zu eruieren. Von der Herkunftsfamilie blieben diese Kinder über Jahre, manchmal Jahrzehnte getrennt, so dass es vorkam, dass man sich bei einem späteren Treffen kaum noch wiedererkannte (235).

Glaubensstärke sollte den Kindern über die ihnen zugefügten Traumata hinweghelfen, wenn das Missionskinderhaus sie bis zur Konfirmation mit „eiserner Hand“ (223) erzog. Sehnsucht nach den Eltern und der Wunsch nach einem Wiedersehen durchzieht die Kinderbriefe wie ein roter Faden, die meist aber mit dem Hinweis beantwortet werden, dass es allein in Gottes Hand liege, ob und wann man sich wiedersehe. (331–332). Hatten sie als Kleinkinder noch Liebe und Zuneigung im Elternhaus erfahren, so war es nun Gottes Wille, Abschied und Trennung zu akzeptieren und innerhalb des pietistischen Kontextes als Glaubensprüfung zu verstehen.

Vor diesem Hintergrund kam es für die Eltern auch nicht in Frage, die Kinder bei sich zu behalten, denn es galt als ausgemacht, dass nur ein Leben in Europa den Knaben eine angemessene Schulausbildung ermöglichen und den Mädchen das schädliche überseeische Klima ersparen würde. Welche Folgen der frühe Abschied von den Eltern für die Kinder haben würde, wurde dagegen ausgeblendet. Man übergab sie guten Gewissens dem strengen Regelwerk der pietistischen Welt, beraubte sie einer eigenständigen kulturellen Identität und setzte sie dem Trauma des Verlustes aus, der Entfremdung, und dem damit einhergehenden Gefühl des Anders- und Ausgeschlossenseins.

Dagmar Konrad hält fest, dass von 213 Mädchen, die im Missionsmädchenhaus aufgewachsen waren, 40 später einen Missionar heirateten und damit in die Fußstapfen der Eltern traten, was bedeutete, dass sie einmal ebenfalls ihre eignen Kinder würden wegschicken müssen. Von den 293 im Missionsknabenhaus aufgezogenen Jungen hingegen wurden lediglich 13 wieder Missionare, also nur rund vier Prozent. Die Autorin erklärt sich diesen Unterschied damit, dass die Jungen infolge ihrer besseren Ausbildungsmöglichkeiten eine größere Entscheidungsfreiheit hatten, was den eigenen Lebensweg betraf.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass es sich bei der vorliegenden Publikation nicht nur um eine wissenschaftliche Studie im besten Sinn handelt, sondern auch um ein spannendes Lesebuch über Migration und das alltägliche Leben in einer fremden Kultur, über Erziehungsvorstellungen und Religiosität, Mentalitätsgeschichte und Geschlechterverhältnisse. Neben den schmerzhaften Trennungserfahrungen und dem Leben der Kinder in Europa zeichnet die Autorin auch den Missionsalltag vor Ort nach und die Auseinandersetzung mit der fremden Kultur, der Sprache, dem Klima, den Glaubensvorstellungen, Sitten, Bräuchen und Konflikten im Missionsland.

Damit ist das Buch aktueller als der Untertitel vermuten lässt angesichts der globalen Migrationserfahrungen der Gegenwart mit ihren ebenso weitreichenden Konsequenzen für die Lebensverläufe der Betroffenen.