Aktuelle Rezensionen
Karin Orth
Nichtehelichkeit als Normalität. Ledige badische Mütter in Basel im 19. Jahrhundert
Göttingen 2022, Wallstein, 336 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8353-5234-6
Rezensiert von Marita Metz-Becker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.08.2024
Die vorliegende Studie untersucht exemplarisch den Mikrokosmos „Unehelichkeit“ an zwei regionalen badischen Fallbeispielen – dem Markgräflerland und dem Hotzen- beziehungsweise Klosterwald – sowie der Stadt Basel im 19. Jahrhundert.
Ausgehend von der Feststellung, dass die Unehelichkeitsraten exorbitant in die Höhe schnellten, von vier Prozent in der Frühen Neuzeit bis zu 68 Prozent im Bezirk Waldkirch im 19. Jahrhundert, fragt Karin Orth nach den Ursachen und Strukturen dieser Veränderungen, die ganz Nord-, Mittel- und Westeuropa betrafen.
Für das von ihr gewählte Untersuchungsgebiet stellt sie fest, dass die in den Fokus genommenen circa 800 ledigen Mütter aus Baden in der Mehrzahl aus unterbäuerlichem Milieu stammten, das durch Knappheit der Mittel und Unsicherheit der materiellen Existenz gekennzeichnet war. Viele der untersuchten Frauen waren selbst schon unehelich geboren worden, so dass von einer tradierten Unehelichkeit ausgegangen werden kann. Obrigkeitliche Sozialdiskriminierung richtete hier wenig aus, hatten doch die betroffenen Frauen gar keine Möglichkeit zu heiraten und den Nachwuchs zu legitimieren, da ihnen das hierfür vorgeschriebene Vermögen fehlte. Auch die staatlichen und kirchlichen Unzuchtsstrafen vermochten jene „Schwängerungen“ nicht zu verhindern, die in den Visitationsberichten immerzu beklagt wurden.
Die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten infolge zahlreicher Agrar- und Wirtschaftskrisen im 19. Jahrhundert, die auch die in Baden starke revolutionäre Bewegung 1848/49 nicht aufzuhalten vermochte, zwangen zahllose Menschen ihr Land zu verlassen und nach Amerika auszuwandern.
Der zweite Teil des Buches behandelt die Situation in der Schweizer Metropole Basel, die traditionell eine sehr niedrige Illegitimitätsrate von vier Prozent aufwies, die sich aber um die Mitte des 19. Jahrhunderts verdreifachte. Karin Orth sieht hier einen Zusammenhang mit den von ihr untersuchten Badenerinnen, die nach Basel gegangen waren und auf die mehr als ein Fünftel der unehelichen Geburten in der Stadt entfielen. Die Autorin fragt sich, ob damit die Badenerinnen „die Nichtehelichkeit als Lebensform mit nach Basel“ (107) gebracht hatten oder ob hier noch andere, strukturelle Ursachen vorlagen, die Nichtehelichkeit begünstigten?
Die emigrierten Badenerinnen waren in Basel mehrheitlich als Fabrikarbeiterinnen, Dienstmägde und Tagelöhnerinnen beschäftigt. Wurden sie unehelich schwanger, war dies beim Ehegericht anzuzeigen und eine Geldbuße zu entrichten, zudem erfolgte eine Ausweisung aus der Stadt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die betroffenen Frauen ihre Schwangerschaft verheimlichten, „weil ich fürchtete, aus der Stadt entfernt zu werden“ (131). Die Anzeigepflicht für uneheliche Schwangerschaft bestand auch für Arbeitgeber, Pfarrer, Vermieter und so weiter, was ebenfalls dazu führte, sie vor der Umwelt zu verbergen.
In diesem Zusammenhang geht die Autorin den Phänomenen Abtreibung, heimliche Niederkunft, Kindesaussetzung und Kindstötung nach, wozu sie exemplarisch Gerichtsverfahren heranzieht, die die dramatische Situation der unehelichen Mütter erhellen, die ihre Neugeborenen aussetzten oder töteten. Gingen die Frauen zur Geburt ins Bürgerspital, konnten sie hier zwar ein „Freibett“ in Anspruch nehmen, freilich nur wenn sie als Gegenleistung den Ärzten und Studenten für wissenschaftliche Untersuchungen und operative Eingriffe zur Verfügung standen. Zusätzlich liefen sie noch Gefahr, den in den Spitälern grassierenden Kindbettfieberepidemien zum Opfer zu fallen.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die in Basel lebenden Badenerinnen Nichtehelichkeit als Normalität ansahen, da sie dieses Phänomen bereits aus ihren Herkunftsfamilien kannten, wo sogenannten Konkubinate (wilde Ehen) an der Tagesordnung gewesen waren, freilich immer im Kontext unterschichtiger Verhältnisse, die Nichtehelichkeit begünstigten beziehungsweise bedingten. Einziger Unterschied war, dass es im städtischen Milieu, anders als auf dem Dorf, kein „sich selbst kontrollierendes Kollektiv der Unverheirateten“ (291) gab; auch das Führen einer wilden Ehe war in Basel aufgrund der hohen Mobilität der Fabrikarbeiterschaft kein strukturelles Element.
Karin Orth attestiert den untersuchten Frauen einen großen Pragmatismus, mit dem sie ihr Leben meisterten. Nichteheliche Schwangerschaft und Geburt waren zur Lebensrealität geworden, wie auch die frühe Trennung vom Kind, das in fremde Pflege gegeben werden musste. Als Ausblick führt die Autorin an, dass mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft gegen Ende des Jahrhunderts die restriktiven Ehegesetzgebungen wegfielen und bürgerliche Werte auch in andere soziale Schichten der Gesellschaft vordrangen, womit die hohe Illegitimitätsrate wieder sank und die bürgerliche Kernfamilie sich auch im ländlichen wie im Arbeitermilieu etablieren konnte.
Das Verdienst der vorliegenden Mikrostudie ist es, die prekäre Lage der sozialen Unterschichten im 19. Jahrhundert und hierbei vor allem die der unverheirateten Mütter detailliert in den Blick genommen zu haben, die ihren Alltag trotz restriktiver obrigkeitlicher Maßnahmen mehr oder weniger auf sich allein gestellt stemmen mussten und stemmten. Damit liefert die Untersuchung neue wissenschaftliche Erkenntnisse und interessantes Material für weitere Forschungsfragen zur Alltagsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts.
So wäre meines Erachtens auch einmal der Blick auf die Väter beziehungsweise Schwängerer zu werfen, der in allen mir bekannten Untersuchungen zum Thema zu kurz kommt, oder auf die gesellschaftliche Stellung des unehelichen Kindes, dem in früherer Zeit stets ein Makel anhaftete. So realistisch es sein mag, dass die badischen Mütter Nichtehelichkeit als Normalität lebten, so wahr ist es aber auch, dass sie zutiefst den Wunsch hegten, ihr Kind legitimieren zu können, was ihnen ihre Lebensverhältnisse jedoch verunmöglichten.