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Maria Sigl (Erzählerin)/Sammy el Samahi (Bearb.)
„Wer geht denn heet no boarfouß in d’ Kircha?“ Eine Waldlerin erzählt. Nach Aufzeichnungen von Anka Kirchner
(Heimat Niederbayern 2), Regensburg 2023, edition vulpes, 178 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-9807028-6-7
Rezensiert von Barbara Michal
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.08.2024
Band 2 der Reihe „Heimat Niederbayern“ des Kulturreferats des Bezirk Niederbayern ist 2023, acht Jahre nach dem ersten Band, erschienen. Dieses Buch stellt die Neubearbeitung eines über vierzig Jahre alten Quellenmaterials dar (9–10): 1981 hatte die Filmemacherin Anka Kirchner (geb. 1937 in Breslau) die Bayerwaldlerin Maria Sigl, genannt „Marl“ (1899–1993), auf ihrem Hof in Dirnberg bei Böbrach, Landkreis Regen, besucht und über zwei Monate hinweg interviewt und gefilmt. 22 Stunden Tonaufnahmen, ein von Anka Kirchner geführtes Tagebuch, Fotografien von Ernst Neukamp sind damals entstanden – und ein fast einstündiger Film, der 1982 im Bayerischen Rundfunk in der Reihe „Unter unserem Himmel“ ausgestrahlt wurde. In diesem Film zeigt sich das damals neu aufgeblühte Interesse an „Oral History“, am erzählten Leben der einfachen Leute, an (bäuerlicher) „Exotik“ aus der Nähe: Die damals über 80-jährige „Marl“ wurde hier durch die „Brille“ der Filmemacherin als lebenskluge, sympathische und gewitzte Frau dargestellt, die ärmlichsten Lebensverhältnissen, welche noch aus dem 19. Jahrhundert zu kommen schienen, trotzte. Der ausgeprägte Dialekt dieser Frau aus dem mittleren bayerischen Wald war wohl Herausforderung und Reiz für die Filmemacherin und gab ihrem Werk schließlich den Titel „Verstehst mi oder verstehst mi net“.
Diesen Film hatte der Dialektforscher und Buchautor Sammy el Samahi später gesehen – wie er es in seiner Einführung beschrieben hat (9–10). Er war begeistert und setzte sich mit der Filmemacherin Anka Kirchner 2016 in Verbindung. El Samahi bekam das Quellenmaterial, also die Tonaufnahmen, Fotos sowie das Interviewtagebuch geschenkt und hat es für vorliegende Publikation neu bearbeitet. Der Autor wollte, wie er schreibt, keine „volkskundlich-sprachwissenschaftliche Abhandlung“ verfassen, sondern eher einen „literarischen Text“ (10). Dazu hat er als Gerüst das Tagebuch Anka Kirchners, eine „schriftdeutsche Nacherzählung“ (9), benutzt, „inhaltlich Ähnliches zu Kapiteln zusammengefasst“ und den „Originalton“ von der „Marl“ an vielen Stellen in Kursiv eingefügt. Zum Lesen waren die Dialektpassagen manchmal schwierig; geholfen hat hier die Befolgung des Rats des Bearbeiters, nämlich „lautes Lesen“ (13), in Kombination mit dessen erläuternden Fußnoten. Sammy el Samahis Ziel war es, eine „heute kaum mehr gesprochene Varietät des Bayerwalddialekts“ zu dokumentieren, gebrochen durch dessen Rezeption durch die Filmemacherin Anka Kirchner, einer Frau, die aus einem anderen kulturellen Kontext als Maria Sigl stammt (10).
Beides zusammengenommen – Film und Buch – ergeben ein komplexes Bild der „Marl“. Das Buch allein betont vor allem die Sprache und den Dialekt von Maria Sigl, welche sich als deren „wahrer Schatz“ in einem ärmlichen Lebensumfeld erweisen sollte: Als Tochter eines Fabrikarbeiters (131) und Kleinbauern ist sie mit zwei Brüdern aufgewachsen, durfte nicht auf eine weiterführende Schule gehen, obwohl sie das gerne getan hätte (18–24), musste frühzeitig am Hof schwere Arbeiten verrichten, von denen sie teilweise noch später spürbare Verletzungen davongetragen hatte (40–41, 81–82, 106–107). Ihre Eltern scheinen ihr aber Selbstbewusstsein und einiges an Freiheiten zugestanden zu haben (47): Sie war nicht „auf den Mund gefallen“ und hat es mit dieser Fähigkeit zum „Aussingen“, zum messerscharfen Formulieren ihrer Beobachtungen bei Hochzeiten und ähnlichen Ereignissen, gebracht (63–65, 163) und war als Unterhalterin gefragt (97). Ihren Ehemann, den Maurer und Musiker Josef Sigl (1900–1980) begleitete sie häufig zu dessen Auftritten, tanzte leidenschaftlich gerne (47–49) und nahm dessen starken Alkoholkonsum in Kauf (71–72, 136–137). Beide hatten – angesichts kinderreicher, der Armut verfallenen Familien in ihrem Umfeld (117) – nur eine einzige Tochter, Maria. 1981, als Anka Kirchner bei Maria Sigl wohnte, war deren Ehemann kurz zuvor verstorben, in vielen Gesprächen erinnerte sie sich an ihn und an die Vergangenheit.
Die Art ihrer Erzählungen speist sich einerseits aus selbst Erlebtem und andererseits auch aus der Tatsache, dass die „Marl“ offensichtlich in ihrer Region eine Heimatpflegern, Kulturwissenschaftlern, Medienvertretern schon bekannte Gewährsfrau für Dialektfragen und frühere Lebensverhältnisse war, die weiterempfohlen wurde. Man gewinnt beim Lesen den Eindruck, dass die „Marl“ als eine schon fast professionelle Erzählerin genau wusste, was die Forscher und Forscherinnen hören wollten (86): Nämlich möglichst andersartige, heute längst vergangene Lebensverhältnisse, seien es stundenlange Fußmärsche (122–125), der Glaube an Geister, Druden, Arme Seelen (26–35, 60–61, 142–153), mehr oder weniger kuriose Selbsthilfe im Krankheitsfall (36–45), harte (Kinder-)Arbeit (77–82), Besonderheiten wie Hundekarren, das Hundeschlachten (75–77) oder böhmische Schönheitsideale (83–85) – Exotik zuhause also. An dieser Stelle hätte man sich eine Einordnung der Funktion ihres Erzählens für sie und ihre Zuhörer gewünscht. Andererseits schaffte es die Interviewpartnerin Anka Kirchner auch, eher unvermutete Seiten der „Marl“ herauszulocken, sei es deren Vorliebe für das Moderne, beispielsweise bei den Möbeln (56–58) oder auch deren Haltung zum Nationalsozialismus, welcher von „Marl“ in Teilen als positiv angesehen wurde (119–120).
Insgesamt bietet sich dem Leser ein buntes und interessantes Kaleidoskop kleiner und größerer Geschichten, Anekdoten, Berichte aus dem Leben der Kleinbäuerin Maria Sigl im Sinne einer eher nostalgischen, denn quellenkritischen Beschreibung vergangener Lebens- und Sprachverhältnisse im Bayerischen Wald.