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Judith Sandmeier
Die Erfindung des Ortsbildes. Malerischer Städtebau, Ortsbildpflege und Heimatschutz in Bayern um 1900
Berlin 2023, Gebr. Mann, 412 Seiten mit Abbildung, ISBN 978-3-7861-2900-4
Rezensiert von Thomas Naumann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.09.2024
Die Arbeit ist eine unter ähnlichem Titel im Jahr 2021 an der Bauhaus Universität Weimar angenommene Dissertation, die den Haupttitel „Die Erfindung des Ortsbildes“ vorausstellt und damit die Perspektive auf das Thema dahingehend schärft, dass ein „Ortsbild“, insbesondere in seiner späteren Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, auch ein aus verschiedenen Vorstellungen und nicht zuletzt aus überlieferten Bildern und kartografischen Darstellungen entstandenes Konstrukt ist, eben eine „Erfindung“, die „gefunden“ wird von den in diesem Bereich Einfluss nehmenden verschiedenen Protagonisten gesellschaftlicher und staatlicher Art, hier bezogen auf das geistige, gesellschaftliche und politische Umfeld der Zeit um 1900, welche „gesellschaftsreformerische Bestrebungen […], gepaart mit kulturkritischen Ressentiments […] im ideologischen Sammelbecken der Heimatschutzbewegungen [vereint]“ (17). Dass die Vorstellungen beziehungsweise Wirklichkeiten eines Ortsbildes sich im Verlauf der Geschichte weiter gewandelt beziehungsweise durch die wieder anderen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen im 20. und 21. Jahrhundert zum Teil rapide verändert haben, ist daher nicht Teil der Untersuchung, ergibt sich aus der Sicht der Arbeit jedoch zwangsläufig.
Kapitel I (9–36) behandelt den Forschungsstand sowie die Fragestellungen und Methoden der Arbeit. Im II. Kapitel (37–80) werden die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Untersuchung erläutert, wobei „Theorien und Leitbilder […] von Ortserhaltung und -entwicklung“, beeinflusst von der entstehenden Denkmalpflege sowie „institutioneller Rahmen und geistiges Umfeld um 1900“ analysiert werden. Kapitel III (81–144) widmet sich den „Akteure[n] und Akteursgruppen der Ortserhaltung und -entwicklung“ und ihren Netzwerken. Das umfangreiche Kapitel IV (145–314), der empirische Teil der Arbeit, bringt „Orts- und prozessbezogene Beispiele“; und zwar anhand der Orte Nürnberg, Frickenhausen und Weiden, Lindau, Mittenwald, Ettal und Oberammergau sowie Zirl, Seßlach und Welsberg. Kapitel V (315–319) belegt schließlich als schlüssiges analytisches Fazit die Wirksamkeit von aus der Vergangenheit stammenden und gesammelten Bildern und Zeichnungen von Häusern, Landschaften und Siedlungen, die zum „Typischen stilisiert“ (317) werden, so dass diese „Vorbilder“ zu „Nachbildern“ und schließlich zur Vorstellung von einzig richtigen „Ortsbildern“ werden. Im Anhang findet sich ein Quellenverzeichnis (323–340), ein Literaturverzeichnis (341–364), ein Abbildungsnachweis (365–368), ein ausführlicher, auf die Arbeit bezogener Abbildungsteil (369–408), bestehend aus Ortsplänen, Bauzeichnungen, Fotografien, Skizzen und Postkarten, sowie abschließend ein Orts-, Personen- und Institutionenregister (409–412).
Mit umfangreichem Untersuchungsmaterial legt die Arbeit offen, wie vor allem gesellschaftliche und kulturpolitische Netzwerke im Verein mit (teilweise in Personalunion verbundenen) staatlichen Instanzen und deren Bauvorschriften bei der wegen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen notwendigen Transformation historischer Strukturen, der Umwandlung von Bauern- zu Tourismusorten, von Städten in Dienstleistungszentren, oder besonders deutlich beim Wiederaufbau teilabgebrannter Dörfer, vorgehen beziehungsweise wie sie ihre von der Zeit um 1900 geprägten Ansichten durchsetzen, um „typische“ Dörfer und Städte im Rahmen dieser Ansichten zu erhalten und auch unter neuen, beispielsweise denkmalpflegerischen, feuerpolizeilichen, verkehrstechnischen oder touristischen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln. Was die Grundlagen dieser Ansichten sind, welche Vorstellungen von „Heimat“ und erwünschter „Identität“ vorherrschen, die oft von einer im 19. Jahrhundert einsetzenden „illusionistischen Bildproduktion“ (201) gesteuert werden sowie beeinflusst durch Berichte von verkehrstechnisch möglich gewordenen Reisen in „typische“ Dörfer und Städte, arbeitet Judith Sandmeier im Einzelnen hervorragend heraus. Benannt werden die auf den Plan tretenden Akteure und deren Vorstellungen, die auch von Vertretern der in dieser Zeit starken Einfluss nehmenden „Heimatschutzbewegung“ (vergleiche die Rezension zu Rainer Schmitz: Heimat, Volkstum, Architektur, 2022, in BJV 2023) bestimmt werden. Schon weit vor 1900 hatte sich unter dem Einfluss der Romantik eine „Idyllisierung des Nahbereichs“ (193), verbunden mit einer emotionalen Aufladung des kleinräumigen Landschaftsbegriffs ausgebreitet, ein „heimatliches“ Landschaftsbild als Antwort auf die industriellen Entwicklungen. „Land und Leute“ (Riehl) sollten in kleinräumigen Zusammenhängen als kulturelle Einheit betrachtet werden. Auf Wiederaufbau und Entwicklung von Gemeinden Einfluss nimmt in starkem Maße der mit staatlichen Stellen gut vernetzte „Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde“, dessen Arm bis nach Tirol reicht, wie an der Analyse des Wiederaufbaus der im Jahr 1908 größtenteils abgebrannten Gemeinde Zirl deutlich wird; hier setzt sich schließlich ein Konzept durch, das „durch typisierte städtebauliche Strukturen und Bauformen ein Heimatbild [rekonstruiert] und dieses im selben Moment [modernisiert]“ (291). Dazu gehört hier beispielsweise eine historisierende Fassadengestaltung von Gebäuden unabhängig von deren ursprünglichem Sinn und eine Verbreiterung der Straßen, nicht zuletzt unter touristischen Gesichtspunkten, die als Argument in Bezug auf Funktionalität und „idyllisches“ Erscheinungsbild in dem Moment wichtig werden, wenn durch die geschichtlichen Entwicklungen die bisherigen Erwerbsgrundlagen nicht mehr ausreichen. Die Betroffenen selbst, deren Häuser neu aufzubauen und zu gestalten sind, werden in Zirl nicht einbezogen; „umso mehr wurde die rekonstruierte Identität in assoziativen Bildern, Wettbewerben und Einweihungsfeiern für Denkmäler und Brückenbauwerke im öffentlichen Raum inszeniert“ (291), orchestriert nicht zuletzt vom „Bayerischen Verein für Volkskunst und Volkskunde“. Man kann hier anmerken: In Zirl wurde „Volkskunst“ ohne das „Volk“ gemacht. In der von der Autorin ebenfalls untersuchten Gemeinde Mittenwald stößt sie auf das gleiche Konzept wie in der unweiten Tiroler Gemeinde, als dort der 1914 abgebrannte Untermarkt wiederaufgebaut wird. Hier übernahm der „Bayerische Verein für Heimatschutz“ die „künstlerische“ (293) Beratung. „Die städtebaulichen und bautechnischen Neuerungen sollten dabei kaum in Erscheinung treten, sondern hinter einem bis ins Detail der Türknäufe inszenierten Straßenbild verschwinden“ (293–294). Hier wie dort wird deutlich, dass um 1900 (und auch schon davor) zunehmend ein Ortsbild und dessen Entwicklung nicht mehr nur aus dem Ort und aus den Vorstellungen, Besonderheiten, Bedürfnissen und Eigenwilligkeiten seiner Einwohner heraus entsteht, sondern dass bei sich bietender Gelegenheit sehr stark von außen hereinregiert wird, wie die bauliche Entwicklung verlaufen soll. Von den Einheimischen angenommen werden die hereingereichten Bilder und Narrative hier und anderswo erst, wenn Vorteile aus zu erwartendem Tourismus, der nach diesen Narrativen sucht, sichtbar werden. Herein wirken – neben staatlichen Stellen verschiedener Ebenen – vor allem bildungsbürgerliche Akteure in Gestalt von „bewusstseinsbildenden Interessennetzwerken“ (304) wie „Heimatschutz“- und den genannten Volkskundevereinen, die ihre verschwommenen Vorstellungen von „heimischen“ Ortsbildern und „bodenstämmiger Baukunst“ (291) durchsetzen, das „Authentische“ behauptend, aber tatsächlich oftmals aus undifferenzierten Typisierungen schöpfend. Wie die Aushandlungsprozesse im Einzelnen verlaufen, arbeitet Julia Sandmeier präzise heraus. Nicht zuletzt sind an oft unbefriedigenden Lösungen bei Neugestaltungen von Ortsstrukturen auch an der Technischen Hochschule München ausgebildete Architekten beteiligt, die, wie in der untersuchten oberfränkischen Stadt Seßlach, es nicht vermochten, eine „Auflösung der Allgemeinplätze in konkrete gestalterische, strukturelle Handlungsgrundlagen“ (304) umzusetzen, die eben beinhalten würden, notwendige Modernisierungen mit stimmigen, auf die wirkliche Geschichte des Ortes bezogene vernünftige Restaurierungen zu bewirken.
Ein gelungenes Beispiel, moderne, vor allem verkehrliche Erfordernisse mit einem überkommenen Stadtbild zu verbinden, ergibt die Untersuchung der Stadt Nürnberg. 1806 zum Königreich Bayern gekommen, wurde deren Festungseigenschaft erst 1866 aufgehoben. Die mächtige Burg mit zwei Befestigungsringen, Stadtmauern und Stadttürmen waren markantes, weithin sichtbares Zeichen der ehemals stolzen Freien Reichsstadt, vielfach kartografisch, auf frühen Postkarten und dann Fotografien dargestellt. Dies spielte für die Selbstwahrnehmung der Stadt zu ihrer mittelalterlichen Blütezeit kaum eine Rolle. Die „Ikonisierung zum ‚Deutschen Reichs Schatzkästlein‘“ (152) beginnt mit den Reiseberichten und Stadtbeschreibungen Ende des 18. Jahrhunderts, mit ab dieser Zeit „reproduzierten Motivketten bildhafter Rezeption in Andenkengrafik, repräsentativen Gemälden, malerischen Zeichnungen, dokumentierender Fotografie und plakativen Postkarten“ (152), die in der Folge eine gehörige Wirkung auf die Planungen und wegen des Strukturumbruchs notwendigen infrastrukturellen Baumaßnahmen haben sollten. Die Untersuchung ergibt, dass trotz der Umwandlung der City zu einer „Geschäfts-, Kommunikations- und Dienstleistungszone“ (157), trotz der verkehrstechnisch notwendigen „Perforation der Mauer und teilweise[n] Einebnung der Gräben“, trotz Beseitigung alter Bauten und Erstellung neuer, trotz der „rund 25 Teilabbrüche, Torerweiterungen und Überdämmungen […] die strukturellen und baulichen Elemente der Befestigungsanlagen [...], die städtebaulichen Planungen um 1900 Maßstab und Rahmen [blieben]“ (157). Die Autorin interpretiert diesen Gang der Dinge in Nürnberg damit, dass die Kommune zwar nicht gleich, jedoch schließlich erkannte, dass die „Idee von Nürnberg als in Bildern abstrahierbares Stadtganzes mit einer über die materiellen Werte hinausreichenden Bedeutung“ (166) Erfolg versprach, als sie die „raumstrukturellen Werte der Mauer und ihrer Türme als Dominanten der Stadtansicht und Raumbildner im Straßenraum erkannte“ (166) und sich somit dazu entschloss, Umbaumaßnahmen unter dem Gesichtspunkt der Substanzerhaltung auszuführen. Städtische Gremien und innerstädtische, gut organisierte maßgebende gesellschaftliche Gruppen hatten erkannt, dass man dem wirtschaftlichen Niedergang im 18. Jahrhundert und der verlorenen reichsstädtischen Eigenständigkeit eine kulturelle Sinnstiftung entgegensetzen konnte. Nürnberg ist also zu dieser Zeit ein Beispiel dafür, wie man auf die eigene Geschichte bezogene angepasste Neuerungen hinbekommt, auch wenn da und dort gewisse unangemessene, fast ins Mystische greifende Überhöhungen herhalten mussten, was, so möchte man anfügen, dann auch die Nationalsozialisten in besonderer Weise anzog.
Vielfach wird in den Untersuchungen deutlich, dass die kulturelle Wertigkeit von Ortsbildern, wie immer diese auch hergeleitet wird, erst dann empfunden wird und eine gesellschaftliche und politische Rolle spielt, wenn Bauten und Baustrukturen ihre historische Funktion verloren haben, nun aber unter neuen Gesichtspunkten von Raumbildern möglichst erhalten oder angepasst werden sollen. Die Suche nach dem „Authentischen“, auch nach dem unter touristischen Gesichtspunkten erwünschten „Alleinstellungsmerkmal“, endet dabei sehr oft beim „Typisierten“ und dann beim immer ähnlichen Ergebnis. Wo letzteres vermieden wird, wo man sich strikt an die Ortsgeschichte hält, wie größtenteils beim untersuchten Beispiel Nürnberg, wo man durch die bestehende Bausubstanz nicht in Versuchung geraten ist, Typisiertes zu gestalten oder von anderswoher zu übernehmen, nur weil es „idyllisch“ wäre und damit dem Tourismus nützlich (wie in Zirl und Mittenwald), kann von einer gelungenen Weiterentwicklung und Modernisierung gesprochen werden, die aber selbstverständlich dennoch wieder eine neue „Erfindung“ ist.
Am Beispiel der durch den erfolgten Bahnanschluss als Handelsplatz erfolgreich gewordenen Oberpfälzer Stadt Weiden schildert die Autorin, wie durch einen Bahnhof, der zum neuen „Einfallstor“ der Stadt geworden ist (und nun auch als Postkartenmotiv erscheint!), der Blick auf das Stadttor als ehemaligem Stadteingang verändert wird. Das Obere Tor wird nun „zur rein symbolischen Demarkationslinie, zur Passage zwischen Bahnhof und Zentrum“ (183), zum städtebaulichen Hindernis, und sogleich entspinnt sich eine Diskussion um dessen Abbruch, der schließlich nach langen Auseinandersetzungen des privaten Besitzers des Tores mit den staatlichen und gesellschaftlichen Stellen im Jahr 1911 durchgesetzt wurde, unmittelbar gefolgt vom ausgehandelten Aufbau einer optischen Imitation. Dies, so die Autorin, „war ein Widerspruch in sich: Erst eine technisch innovative Eisenkonstruktion ermöglichte die Imitation des historischen Gewölbes im 1911 neu errichteten Stadttor“ (187). Am Beispiel Weidens arbeitet Sandmeier in besonderer Weise heraus, wie der schwierige Aushandlungsprozess zwischen den unterschiedlichen Ebenen staatlicher Stellen, betroffener Bürgerschaft und Kommune erfolgt ist.
In den oberbayerischen Gebirgsdörfern Oberammergau und Ettal ebenso wie in der Bodenseestadt Lindau wird die umgebende „Landschaft“ in besonderer Weise „als grundlegendes Bezugssystem für moderne Heimatkonzepte“ (192) herangezogen, was sich in Vorschriften für Ortsentwicklungen niederschlägt. Die genannten Orte waren wegen ihrer „malerischen“ Umgebung schon im 19. Jahrhundert Anziehungspunkte für Reisende und Reisegesellschaften und versprachen die damals gesuchte „Authentizität“. Im Falle Lindaus mit seiner reichsstädtischen Vergangenheit bewirkten dies die mächtigen baulichen und malerischen Kulturzeugnisse, die durch die Stadtgesellschaft aktiv genutzt werden, indem sie alle Motive belebt und in Szene setzt, die touristisch wirksam sind. Die Destination wird auch hervorgerufen durch die Insellage, die Distanz und Nähe zugleich erlaubt und Abgeschiedenheit und komfortable Annäherung (Verkehrsknotenpunkt) sowie Aufenthalt zugleich verspricht. Wie gesuchte „Authentizität“ zustande kam und inszeniert wurde, wie die „Maskierung des Artifiziellen zum Authentischen“ (247) vonstattenging, schildert die Autorin auf beeindruckende Weise am Beispiel Ettals – hier geschieht die Wiedererrichtung der Klosterruine nicht unter bauhistorischen Gesichtspunkten, sondern allein in Anpassung an die „Dominanten der [Gebirgs-] Landschaft“ (227) – und Oberammergaus, das schon durch die Passionsspiele in besonderer Weise emotional aufgeladen war. In Oberammergau erfindet sich das Dorf um 1900 geradezu „mundgerecht“ für die Touristen, unter Hervorhebung seiner handwerklichen Besonderheiten (Schnitzkunst) und Freskenmalereien auf reicheren Bauernhäusern und unter Außerachtlassung der über Jahrhunderte andauernden ärmeren Vergangenheit, die sich in einfachen Wohnstallhäusern niederschlugen, die „als Bildträger […] kaum Beachtung [fanden]“ (257). Die „dekorativen Formen der Volkskunst“ (258) wurden hervorgehoben, das schlichte Alltagsleben der Vergangenheit, das sich nicht vermarkten ließ, verschwand dahinter, und damit zog einher, dass die geschichtliche Realität des einfachen Bauerndorfes verfälscht wurde – dies auch als Folge der damals vorherrschenden Interessen der Volkskunde, die sich – als bildungsbürgerliche Wissenschaft – das „Schöne“ aus dem „Volksleben“ herauspickte und sich für das wirkliche Alltagsleben der Dorfbewohner kaum interessierte. Und so gab es denn erfindungsreiche, folkloristisch zu nennende Neuschöpfungen mit historischen Versatzstücken: Unter anderem wurde ein Gebäude am historischen Ortseingang erstellt, das eine „Melange regional bekannter und aus anderen Nutzungszusammenhängen importierter Bauformen“ (256) darstellte und nun „an prominenter Stelle“ den „wirtschaftlichen und sozialen Wandel repräsentierte“ (256) und einlud, diesen pekuniär zu erkunden. Immerhin aber, so analysiert Sandmeier, gelingt im Ort bei den großbäuerlichen Anwesen teilweise ein substanzieller Erhalt der Wohnteile bei gleichzeitigem Austausch der Wirtschaftsgebäude, und bei Neubauten wird darauf geachtet, durch „typische“, lokale Merkmale das Gesamtbild des Ortes zu stärken, was sowohl von Architekten als „auch von der politischen, wirtschaftlichen, handwerklichen und kulturellen Elite des Ortes verfolgt“ (260) wird. Schließlich wird durch „manieristische Überhöhung des Typischen in allen Bereichen des Kunst-, Handwerks-, Bau und Dienstleistungsgewerbe[s]“ die „Ausprägung eines Alleinstellungsmerkmals“ (261) gegenüber anderen nahegelegenen touristischen Orten erreicht. Eine Transformation mit Langzeitwirkung! Aber an diesem Ort wird besonders deutlich: Was man da um die Jahrhundertwende gestaltet hat und an vermeintlich historischen Tatsachen vorfindet, wurde einem Ausleseprozess unterworfen unter dem Gesichtspunkt, was sich merkantil lohnte.
Der Gewinn der umfangreichen, alle einschlägige Literatur einarbeitenden und äußerst ergiebigen Untersuchung Julia Sandmeiers (deren Wertigkeit eigentlich über eine Dissertation hinausreicht) liegt darin, dass sie gründlich und methodisch einwandfrei analysiert, unter welchen geistigen und kulturellen Einflüssen Ortsbilder – hier unter denen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und damit in einer Zeit großen strukturellen Wandels – im wahrsten Sinne des Wortes so oder so „erfunden“ worden sind. In einer Zeit, als man sich endgültig bewusst wurde, dass überkommene Ortsstrukturen den modernen Bedürfnissen angepasst werden mussten. Wie man diese Veränderungsprozesse unter dem Einfluss der kulturgeschichtlichen und staatlichen Akteure kommunal handhabte ist äußerst lesenswert. Der Wert der Arbeit liegt aber auch darin, dass man darüber ins Nachdenken gerät, was so bei Ortsbildern in der Gegenwart vonstattengeht. Nicht nur in Bayern. Bei manchen Stadt- und Dorfentwicklungen der letzten Jahrzehnte wünschte man sich, es hätten kulturhistorische Vereine, wissenschaftlich selbstverständlich auf heutigem Niveau und befreit von heimattümelnden Absichten, mit ebensolcher eminenter Durchschlagskraft wie damals mitgewirkt: Man würde sich heute manchenorts „Erfindungen“ von Ortsbildern und Gebäuden sinnstiftenderer Art wünschen. Nichts „Typisiertes“, aber etwas, was auf die jeweilige Ortsgeschichte und auf die jeweiligen Besonderheiten in baulicher – und vielleicht auch moderat landschaftlicher – Hinsicht sinnvolle Bezüge aufweist. Denn allüberall in Deutschland sind regionale und lokale Besonderheiten hinsichtlich der Bauten und Ortsstrukturen auf dem Rückzug. Zuletzt noch eine kleine formale Anmerkung: Über Druckfehler in dieser umfangreichen Arbeit kann man hinwegsehen. Aber: Ein Komma zu setzen vor einem erweiterten Infinitiv mit „zu“, hat nach wie vor seine Berechtigung: Diese Zeichensetzung sorgt dafür, dass man in solchen Fällen nicht einen langen Satz drei Mal lesen muss, um ihn zu verstehen.