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Aktuelle Rezensionen


Jenny Hagemann

Vererbte Regionen. Aneignungen und Nutzungen von regionalem Heritage im Wendland und in der Lausitz im Vergleich

(Edition Kulturwissenschaft 277), Bielefeld 2022, transcript, 353 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6278-8


Rezensiert von Arnika Peselmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.09.2024

Die vorliegende Monografie der Kulturwissenschaftlerin Jenny Hagemann basiert auf ihrer Dissertation, die im Kontext des Forschungsverbundes „CHER: Cultural Heritage als Ressource? Konkurrierende Konstruktionen, strategische Nutzungen und multiple Aneignungen kulturellen Erbes im 21. Jahrhundert“ und hier im Teilprojekt „Konstruktionen und Reflexionen zu kulturellem Erbe abseits urbaner Agglomerationsräume. Rural Heritage im Hannoverschen Wendland“ entstanden ist. Mit ihrer Arbeit möchte sie einen Beitrag zu den aktuellen Heritage Studies leisten und diese noch stärker mit der kulturwissenschaftlichen Raumforschung verknüpfen.

In ihrer Studie setzt sie zwei Regionen – das Wendland und die Lausitz – in Bezug, um Vergemeinschaftungsprozesse zu untersuchen, die auf Regionalität und kulturellem Erbe beruhen. Aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive fragt sie, wie Heritage hervorgebracht und verräumlicht und wie, warum und vom wem es zur Konstruktion, Aushandlung und Institutionalisierung regionaler Identitäten im Wendland und in der Lausitz historisch wie aktuell genutzt wird (24) sowie welche Möglichkeiten der Partizipation gegeben sind. Mittels ihres komparativen Ansatzes verfolgt sie das Ziel, Vorschläge zur Konzeptualisierung eines regionalen Heritage zu erarbeiten.

Anhand von drei a priori bestimmten Vergleichsmomenten setzt sie die beiden Regionen in Relation: Erstens die slawische Vergangenheit und deren Bedeutung für aktuelle Selbstverständnisse, zweitens die energieindustriellen Umbrüche, die sich in der Anti-Atomstrombewegung im Wendland manifestieren beziehungsweise im Strukturwandel in der vom Braunkohle-Tagebau geprägten Lausitz. Die dritte Vergleichsebene bezieht sich auf die Lage als Grenzregion: Das niedersächsische Wendland befindet sich an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und hatte bis 1989 den Status eines „Zonenrandgebietes“, während die Lausitz an der seit 1945 bestehenden Grenze zu Polen liegt und sich über polnisches und deutsches Staatsgebiet erstreckt. Des Weiteren ist die Lausitz in einen sächsischen und einen brandenburgischen (ehemals preußischen) Teil untergliedert, sodass korrekterweise von der Lausitz im Plural gesprochen werden muss.

Hagemanns Zugriff auf die Entwicklung eines regionalen Heritages erfolgt zum einen über die Auswertung historiografischer Quellen, in denen das Wendland und das Wendisch-Sein beziehungsweise die Lausitz(en) und das Sorbisch-Sein in Fremd- und Selbstverortungen konstruiert werden, zum anderen durch eine Diskursanalyse der Heritage-Verhandlungen in lokaler Berichterstattung der Tagespresse oder „Grauer Literatur“ wie Reiseführern. Im dritten Schritt wertet die Autorin inhaltsanalytisch qualitative Interviews aus, die sie mit Akteurinnen und Akteuren geführt hat, die sich professionell und/oder ehrenamtlich für den Erhalt oder die Weitergabe von regional verortetem Cultural Heritage engagieren und so an dessen ideellem und/oder ökonomischem Wertschöpfungsprozess beteiligt sind. Im Fokus stehen dabei deren individuelle Positionierungen im Prozess der Heritagisation.

In ihrer Studie unterscheidet Hagemann einerseits zwischen „Kulturerbe“ als Quellenbegriff, der in ihrem Datenmaterial häufig essentialistisch gefasst wird und von einem normativen Verständnis geprägt ist, das kennzeichnend für den Authorised Heritage Discourse (AHD) ist, und anderseits „Cultural Heritage“ als wissenschaftlichem Konzept, das Vergegenwärtigungen der Vergangenheit auch außerhalb des AHD einschließt, solange diese von Logiken und Mechanismen des Vererbens gekennzeichnet sind. In ihrem sprachbasierten Ansatz untersucht sie Cultural Heritage als prozessuales Narrativ, dessen Narrationen von einer „Language of Heritage“ geprägt sind, deren zentrales Charakteristikum die Darstellung des Bedroht-Seins ist. Mit Bezug auf den Ethnologen Christoph Brumann unterscheidet die Autorin Akteursgruppen, die als „heritage beliefers“ an der Kulturerbe-Produktion beteiligt sind und solche, die als „heritage atheists“ Kulturerbe dekonstruieren. Es erscheint plausibel, die divergierenden inhaltlichen und methodischen Zugänge sprachlich zu markieren und analytisch zu trennen. In der Praxis ist diese Unterscheidung jedoch deutlich weniger eindeutig und insbesondere in institutionalisierten Formen der Heritagisation zunehmend vom engen Austausch beider Gruppen geprägt. Das macht Jenny Hagemann nicht zuletzt in ihrer eigenen Positionierung zum Forschungsfeld transparent: Sie ist sowohl Forschende, ordnet sich aber auch „der sorbischen Community“ (46) zu und hat darüber hinaus auch am Welterbeantrag für die Tagebaufolgelandschaft der Lausitz mitgewirkt und war ebenso an der Ausstellung zum 40-jährigen Jubiläum des Gorleben Trecks beteiligt.

Um diese (situativ) unterschiedlichen Beziehungen von Akteurinnen und Akteuren zu Vererbtem differenziert beschreiben zu können, leitet Hagemann aus dem Interviewmaterial drei verschiedene „Acts of Heritage“ ab, die sie als ein „Doing“, „Performing“ oder „Making Heritage“ beschreibt und so ein – auch über ihre Studie hinaus –  wertvolles Begriffsinstrumentarium schafft. Während das Doing Heritage für die größte Identifikation und einen Bezug auf die eigene Gruppe steht, ist das Performing Heritage nach außen gerichtet. Bei diesen beiden Modi wird die Grenze des sprachbasierten Ansatzes deutlich, anders als beim Making Heritage, bei dem Cultural Heritage erzählerisch und häufig mit Rückgriff auf normative Diskurse konstruiert wird.

Auf die Ergebnisse dieser empirisch dichten Studie kann hier nur schlaglichtartig eingegangen werden: So konnten durch den Vergleich unterschiedliche Entwicklungen des Sorbischen beziehungsweise Wendischen zum regional relevanten Cultural Heritage aufgezeigt werden. Im Wendland, dessen slawische Bevölkerung schon im 18. Jahrhundert von der deutschsprachigen Mehrheit assimiliert worden war, begann bereits im 19. Jahrhundert eine Heritagisation des Wendischen durch die Sammlung und Ausstellung von Trachten seitens mehrheitlich nicht-wendischer Heritage-Akteure. Das Wendische wurde dabei als „das Andere im Eigenen“ vereinnahmt und in Wert gesetzt. In der sächsisch und preußisch regierten Lausitz hingegen adaptierten die noch nicht vollständig assimilierten Sorbinnen und Sorben romantische Nationalideen und setzten sich für ihre Rechte und Autonomie ein (296) und blieben so die „Anderen“, die in Konkurrenz zum sich entwickelnden deutschen Nationalverständnis standen. Die vergleichende Perspektive zeigt aber auch Gemeinsamkeiten in den aktuellen Vererbungsprozessen auf: Das bezieht sich vor allem auf die Praktiken zur Musealisierung und Ausstellung des Wendischen und Sorbischen, die sich aus der Europäisierung der Förderstrukturen ergeben und dem damit transportierten EU-Narrativ von der Vielfalt und Einzigartigkeit regionalen Heritages.

Im Unterschied zum Sorbischen mit seiner lebendigen Trägerschaft erlaubt das Wendische durch seine vollständige Heritagisation eine deutlich freiere Adaption, durch die es auch für die im Kontext der Anti-Atomstrombewegung in die Region Gezogenen identitätsstiftend sein kann. In der Lausitz hingegen ist das Verständnis vom Sorbischen stark durch den auf Ethnizität beruhenden juristischen Minderheitenstatus geprägt. Die Autorin zeigt allerdings auf, dass sich hier auch nicht-sorbische Personen am sorbischen Cultural Heritage beteiligen können – beispielsweise im Regionalmarketing – und es so zu einem kollektiven regionalen Heritage wird.

Zur Konzeptualisierung eines regionalen Heritages schlägt sie vor, „es als räumlich begrenzte, sinnstiftende Erzählung über die Vergangenheit“ zu begreifen, „mittels derer räumlich begrenzte kollektive Selbstverständnisse konstruiert werden“, wodurch ihm „eine zentrale Funktion bei der Beheimatung“ zukommt (300). Relevant wird regionales Heritage jedoch nur, wenn mit ihm „sozio-ökonomische, politische und/oder kulturellen Teilhabe“ ermöglicht wird (300). Im Fall der Lausitz macht Hagemann deutlich, wie sorbische Akteurinnen und Akteuren Deutungsmacht und Handlungsspielräume für ihre Interessen gewinnen konnten. So blieben Vorstöße der rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland beziehungsweise ihr nahestehender Vereine, sorbisch geprägtes, regionales Heritage zu vereinnahmen oder zu negieren angesichts der Proteste sorbischer und nicht-sorbischer Akteurinnen und Akteuren erfolglos. Allerdings zeigt der gescheiterte Versuch zur Gründung eines sorbischen Parlaments auch, dass Abseits der offiziellen Heritagisation die Möglichkeiten für politische Partizipation begrenzter zu sein scheinen (267).

Jenny Hagemann hat eine beeindruckende Studie zur Nutzung und Aneignung regionalen Heritages vorgelegt, die erstmalig die Heritagisation minorisierter slawischer Vergangenheit in Deutschland vergleichend sowie aus historischer, diskursiver und individueller Perspektive untersucht und in ihrer Interdependenz zu energiepolitischen Transformationen und zur Grenzthematik beforscht. In ihrer kenntnisreichen Darstellung der Spezifika der jeweiligen Region wird aber auch deutlich, dass sie sie jeweils als eigenständigen Untersuchungsgegenstand anerkennt. Ihr methodisch-analytischer Ansatz ist überzeugend, auch wenn eine kritische Einordnung in die in anthropologisch-ethnologischen Fächern lange Tradition des Vergleichs als methodischem Instrumentarium noch wünschenswert gewesen wäre. Jenny Hagemanns Studie kommt das große Verdienst zu, die historisch gewachsenen und gegenwärtig wirksamen Verschränkungen von Minorisierung und Heritagisation im regionalen Kontext differenziert und kritisch auf die Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation befragt zu haben. Ihrer Arbeit ist eine breite Leserschaft zu wünschen.