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Anita Krätzner-Ebert

Dimensionen des Verrats. Politische Denunziation in der DDR

(Analysen und Dokumente 59), Göttingen 2023, Vandenhoeck & Ruprecht, 286 Seiten mit Abbildung, ISBN 978-3-525-30214-9


Rezensiert von Carolin Pfeuffer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.09.2024

Geplante Republikflucht, Kontakte in die Bundesrepublik oder ins westliche Ausland, Fernbleiben von der Wahl, vermeintliche Asozialität sowie jegliches von der Norm abweichende und unangepasste Verhalten barg in der DDR großes Denunziationspotenzial und kam nicht selten zur Anzeige. Ein Großteil der Denunziationen in der DDR erfolgte durch Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit, weswegen Forschungsarbeiten zur Thematik in der Regel den Fokus auf die institutionalisierte Denunziation legen. Die im Jahr 2023 erschienene Monografie von Anita Krätzner-Ebert mit dem Titel „Dimensionen des Verrats. Politische Denunziation in der DDR“ lenkt den Blick zusätzlich auf freiwillige, spontane Denunziationen durch Privatpersonen. Wie der Titel schon anklingen lässt, gibt die Studie einen tiefen Einblick in das Denunziationsgeschehen im DDR-Alltag: Sie fragt nach den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Denunziation und analysiert Denunziationshandlungen in diversen sozialen Kontexten „auch jenseits der Perspektive des geheimpolizeilichen Apparats“ (10). Darüber hinaus erstellt die Autorin auf Basis des Denunziationsgehaltes der weitergegebenen Informationen eine Typologie Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, die als Plädoyer für zukünftige Forschungen gelesen werden kann.

Die qualitativ angelegte Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Denunziation – Alltag und Verrat in der DDR“, das beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU) angesiedelt war. Für die Untersuchung hat Krätzner-Ebert circa 700 Akteneinheiten per Zufallsstichprobe ausgewertet. Sie stammen aus der Operativen Hauptablage der Abteilungen XII, es sind „archivierte IM-Akten, operative Vorgänge, operative Personenkontrollen, Gruppenvorgänge, allgemeine Personenablage“ (38) der Bezirksverwaltungen Schwerin, Frankfurt/Oder und Leipzig und sie umfassen die Jahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985. Daneben wurden noch etwa 100 IM-Akten aus den späten 1980er Jahren herangezogen.

Die Arbeit ist in neun Kapitel gegliedert, von denen vier der Analyse gewidmet sind. In ihrer Einleitung führt Krätzner-Ebert anschaulich mit einem Denunziationsbeispiel aus den Akten in die Thematik ein, erläutert Untersuchungsgegenstand und Zielsetzung und geht dann zum Forschungsstand über. Die historische Denunziationsforschung in Deutschland, die sich – von einigen Ausnahmen abgesehen – erst in den 1990er-Jahren etabliert habe, habe ihren Schwerpunkt vor allem auf nationalsozialistische Herrschaft und das 19. Jahrhundert gelegt. Die Denunziation in der SED-Diktatur sei dabei als „Vergleichsobjekt“ (16) herangezogen und nur marginal – das heißt auf die Tätigkeit der IM beschränkt – behandelt worden. Diese Forschungslücke möchte Krätzner-Ebert mit ihrer Publikation nun schließen.

Ausführlich widmet sich die Wissenschaftlerin dem negativ konnotierten Begriff der Denunziation, der von Unschärfe und Komplexität gekennzeichnet sei. Dabei diskutiert sie Definitionsansätze aus der Forschung und überprüft deren Anwendbarkeit auf Verratshandlungen in der DDR. Sie folgt dem Vorschlag des Rechtshistorikers Arnd Koch sowie des Soziologen Michael Schröter, ein angezeigtes Delikt als Denunziation einzustufen, wenn eine „Unverhältnismäßigkeit zwischen der Sanktion und dem angezeigten Verhalten“ (28) gegeben sei. Mit ihrem Fokus auf politische Denunziation nimmt sie eine Abgrenzung zu anderen Straftatbeständen und Normverletzungen vor.

Im anschließenden Methodenkapitel macht Krätzner-Ebert auf das große Konvolut an Quellen aufmerksam, die sich jedoch nicht alle als ergiebig für die Untersuchung erwiesen hätten. So seien neben den ausgewählten Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beispielsweise „Tonbänder und Kassetten, mit denen Anrufe beim Ministerium für Staatssicherheit aufgezeichnet wurden“ (40) sowie spezielle Karteien dieser Institution wertvoll gewesen. SED-Archivgut hingegen hätte sich für die Analyse als eher weniger ertragreich herausgestellt. Gleichzeitig verweist Krätzner-Ebert auf Schwierigkeiten bei der Erschließung und Auswertung und nennt große Überlieferungslücken als ausschlaggebend, warum eine „Quantifizierung des Phänomens ‚Denunziation‘“ (13) nicht möglich gewesen sei.

Im dritten Kapitel, das mit „Systembedingungen für Denunziation in der DDR“ (43) überschrieben ist und als Wissensreservoir für die spätere Analyse gesehen werden kann, zeigt die Autorin auf, wie Denunziation dem SED-Staat zur Machterhaltung diente, welche Anlaufstellen Bürgerinnen und Bürger hatten, um Verfehlungen und Normabweichungen zu melden, wie Anzeigen durch das MfS oder die Volkspolizei aufgenommen wurden und was überhaupt denunziert wurde.

Krätzner-Ebert klassifiziert Denunziation als „kommunikativen Akt“ (60). Im entsprechenden Kapitel, das fast 80 Seiten einnimmt, untersucht sie unterschiedliche Kommunikationsformen der Denunziation, wobei sie vier Varianten analysiert und dabei deren Besonderheiten herausarbeitet: die Denunziation per Brief, die Denunziation am Telefon, die persönlich vorgebrachte Denunziation und die institutionalisierte Denunziation. So war beispielsweise die Denunziation per Brief von einer einseitigen Kommunikation bestimmt und ließ dem Verfasser einen großen Freiraum, was er wie preisgab, wohingegen die Denunziation am Telefon von den unterschiedlichen Absichten beider Gesprächspartner gekennzeichnet war. Bei der Analyse der Kommunikationssituation der institutionalisierten Denunziation durch IM orientiert sich Krätzner-Ebert an den unterschiedlichen Phasen der Zusammenarbeit: „Vor der Anwerbung“, „Kontaktaufnahme“, „Verpflichtung“, „Zusammenarbeit“, „Treffen“, „Berichte und ihre Entstehung“ (111–136). Die Unterkapitel präsentieren eine fundierte Beschreibung der einzelnen Aspekte, die auf den ersten Blick etwas langatmig wirkt, aus der die Autorin letztlich aber die Art der Kommunikation abzuleiten versucht. So unterlagen IM einer starken Steuerung durch das MfS und „die zielgerichtete Ansprache [barg] das größte denunziatorische Potenzial“ (138). Die Autorin kommt im Anschluss an ihre detaillierte und mit zahlreichen Beispielen aus den Akten versehene Analyse zu dem Schluss, dass Medium und Format die jeweilige Denunziationshandlung maßgeblich beeinflussten.

Das fünfte Kapitel ist der Bildung von IM-Fallgruppen nach ihrem Denunziationsgehalt gewidmet. Krätzner-Ebert geht dabei induktiv vor und arbeitet anhand vier verschiedener Parameter – „Wille, Zugang zu Information, Treffintensität, persönliche Voraussetzungen“ (141) – eine Kategorisierung aus. Nach Auswertung des vorliegenden Quellenmaterials kommt sie auf zehn Typen von IM, angefangen von „IM, die nicht denunzierten“ (142), über „IM, die die Lust verlieren“ (158) bis hin zu „IM, die jeden denunzieren“ (170), auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

Im sechsten Kapitel befasst sich Krätzner-Ebert damit, wie sich die Denunziation auf die Beziehung zwischen Denunzianten und denunzierter Person ausgewirkt hat, wobei sie Denunzieren als soziale Handlung begreift. Sie geht davon aus, dass das soziale Umfeld, in dem abweichendes Verhalten registriert wurde, maßgeblichen Einfluss darauf hatte, „ob überhaupt denunziert wurde, wie die denunzierende Person die eigene Handlung bewertete und in welches Verhältnis sie sich zu den bestehenden Normen einordnete“ (173). Sie beleuchtet dabei Denunziationen im Familien- und Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und durch Fremde. Außerdem kommt sie auf Denunzianten aus der Bundesrepublik zu sprechen. Die Autorin kann darlegen, dass Denunziationen deutlich weniger auftraten, je intakter das Beziehungsgefüge war. Vor allem am Arbeitsplatz, der in der DDR von einem dichten Berichts- und Kontrollsystem geprägt war, kam es häufiger zu Denunziationen als im Familien- und Freundeskreis. Obwohl in der DDR-Gesellschaft die Neigung zu Denunziation gefördert wurde – beispielsweise stand bei Republikflucht Mitwisserschaft unter Strafe – sei diese „überwiegend verpönt“ (266) gewesen.

Was veranlasste Personen dazu, andere Personen an die Stasi zu verraten? Dieser Frage geht Krätzner-Ebert anhand des ausgewählten Quellenmaterials nach, gibt aber gleichzeitig zu, dass sich Motive darin nicht unbedingt offenlegen lassen und eher von einer Vielschichtigkeit ausgegangen werden müsse. Neben politischer Überzeugung, Empörung, Angst, Rache kann sie auch die Argumentation, man habe den Beschuldigten vor Schaden bewahren wollen, ausmachen. Anita Krätzer-Ebert schließt mit einem Plädoyer für einen Vergleich unterschiedlicher Systeme bezogen auf die Kommunikationsperspektive der Denunziation.

Insgesamt ist Anita Krätzner-Ebert eine lesenswerte Monografie gelungen, die sich durch Multiperspektivität auszeichnet. Besonders hervorzuheben ist die nahe Arbeit an und mit den Quellen, die der Autorin ein Anliegen war. Sie fordert explizit dazu auf, diese Quellen kritisch dahingehend zu hinterfragen, wer auf die Berichte zudem Einfluss genommen habe, etwa Führungsoffiziere der IM. Positiv fällt ferner der mit vielen Verweisen bestückte Fußnotenapparat auf. Den Lesefluss etwas stören zum Teil sinngemäße Wiederholungen von Inhalten in nah beieinander liegenden Abschnitten eines Kapitels. Es scheint sogar so, als wolle die Autorin manche Themen mit möglichst vielen zusätzlichen redundanten Informationen unterfüttern. Die Abbildungen dienen leider nur der Illustration und stehen für sich alleine, sie hätten besser in den Text eingebunden werden können. Zusätzlich zum vorhandenen Ortsregister wäre auch ein Stichwortregister wünschenswert gewesen. Auch wenn die Publikation der historischen Disziplin entstammt, ist sie für die kulturwissenschaftlichen Fächer durchaus wertvoll, da sie einen spezifischen Einblick in die Alltagskultur der DDR-Gesellschaft offenbart.