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Maria Anna Zumholz
Das Kolleg St. Thomas in Vechta/Füchtel 1947–1990. Einblicke in die Geschichte eines katholischen Internatsgymnasiums für Jungen in der Trägerschaft der Dominikanerprovinz Teutonia nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag zur historischen Bildungsforschung
(Schriften des Instituts für Regionalgeschichte und Katholizismusforschung 4), Münster 2023, Aschendorff, 607 Seiten, mit Abbildungen
Rezensiert von Andreas Oberdorf
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 10.09.2024
Inwiefern das Kolleg St. Thomas im niedersächsischen Vechta zu den „katholischen Dunkelräumen“ (vgl. Birgit Aschmann [Hg.], Katholische Dunkelräume. Die katholische Kirche und der sexuelle Missbrauch, Paderborn 2022, S. 250-265) gezählt werden muss, in denen Schüler sexualisierte, physische und psychische Gewalt erfuhren, ist einer der Schwerpunkte, denen sich die Historikerin Maria Anna Zumholz im Rahmen ihrer umfangreichen schul- bzw. internatsgeschichtlichen Darstellung gewidmet hat. Bei dem Kolleg St. Thomas handelt es sich um ein Internatsgymnasium für Jungen, das in der Trägerschaft des Dominikanerordens von 1947 bis 1990 in Vechta (Niedersachsen) bestand.
Die Studie wurde in sechs Kapitel gegliedert, die ihrerseits recht unterschiedlich gestaltet wurden. In dem einführenden Kapitel (S. 11-28) gibt die Verfasserin zunächst einen knappen historischen Überblick zum Untersuchungszeitraum sowie zu den Vorläufern der Institution seit 1902. Ebenfalls werden Quellen und Methodik der Studie erläutert. Sie deutet dabei auf die Herausforderungen hin, die bei der historischen Rekonstruktion und Analyse von Gewalterfahrungen anhand von Zeitzeugenberichten und Erinnerungen berücksichtigt und bewältigt werden müssen. Das zweite Kapitel nimmt die Kollegphilosophie und -pädagogik der Dominikaner in Vechta in den Blick (S. 29-49), wiederum ausgehend von dem institutionellen Vorläufer des Kollegs, einer Ordens- und Missionsschule (1908-1940), und wendet sich anschließend der Gründungs- und Frühgeschichte des Kollegs zu, die anhand von drei kurzen Fallstudien als „konfliktbeladene Nachkriegsjahre“ (S. 50-75) gekennzeichnet werden. Als „Konfliktfälle“ werden hier verschiedene Aushandlungsprozesse geschildert, die sich aus unterschiedlichen personellen Konstellationen innerhalb der Einrichtungen sowie mit Verantwortlichen des Ordens ergaben und etwa den Führungsstil sowie die Kompetenz- und Aufgabenbereiche einzelner Angehöriger betrafen. Das dritte Kapitel wendet sich dann Aspekten der Geschichte des Kollegs St. Thomas „im Spiegel von Erinnerungen ehemaliger Schüler“ (S. 76-168) zu, die mittels Fragebögen zusammengetragen und für die Darstellung von der Verfasserin aspektorientiert miteinander kombiniert wurden. Abgesehen von einigen wenigen Erläuterungen der Verfasserin beschränkt sich das Kapitel auf die Schilderungen der ehemaligen Schüler. Der Fragebogen (S. 601-605) gibt dabei klar zu erkennen, dass ein Schwerpunkt des Interesses auf konkrete Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen gelegt wurde, ergänzt durch Fragen zur Familie, zum Schulalltag und zu den Leitbildern und Wertvorstellungen. Das umfangreichste vierte Kapitel der Studie (S. 169-411) enthält die aus Schuljahresberichten und Chroniken zusammengetragene Schulgeschichte, die durch Erinnerungen der befragten ehemaligen Schüler an einigen Stellen ergänzt wurden. Die hier behandelten Themen umfassen sämtliche Bereiche von dem, was die Schul- und Bildungsforschung als „Schulkultur“ bezeichnen würde und sich als „sinnhafte Erschließung der Alltagspraxen, Rituale, Interaktionsformen, Symboliken […] in der Spannung formeller und informeller Ebenen der Schule“ (Werner Helsper/Jeanette Böhme/Rolf-Torsten Kramer/Angelika Lingkost, Schulkultur und Schulmythos. Gymnasien im Transformationsprozeß zwischen exklusiver Bildung und höherer Volksschule [Studien zur Schul- und Bildungsforschung 13], Opladen 2001, S. 19) verstehen lässt. Ausgewählte Aspekte, die im Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit auf das Schulprogramm der Einrichtung als „dominikanische ‚Kaderschmiede‘“ (S. 169-333) eingehen, finden hier ebenfalls einen Platz wie diverse Einblicke in den Schulalltag (S. 334-411), die von Lehrern geschildert wurden. Auch dabei sind die Themen vielfältig und die Darstellung anekdotenreich. Die Einführung der reformierten Oberstufe 1977/78 wird in gleicher Weise thematisiert wie die Organisation einer Chemie-Show für ein Schulfest, die Marionetten-AG oder die Wallfahrt nach Lourdes 1981. Im fünften und sechsten Kapitel zieht die Verfasserin Bilanz. Unter dem Schlagwort „Emotionsgeschichte“ werden zunächst die Erinnerungen der Schüler zwischen Dankbarkeit, negativen Erinnerungen, Ambivalenzen, Stolz und Begeisterung zusammengefasst (S. 412-436). Das Resümee (S. 437-460) betont abschließend die „Besonderheiten des Dominikanerordens“ in seiner „demokratischen Ausrichtung sowie seine Bestimmung als ein Predigerorden“ (S. 437), der in dieser Hinsicht grenzüberschreitendes Verhalten, Machtmissbrauch bis hin zu sexualisierter Gewalt zwar nicht befördert habe, aber auch nicht verhindern konnte. Ein ausführlicher Anhang – nebst Stellungnahme der Dominikanerprovinz zu den Berichten ehemaliger Schüler des Kollegs über sexuelle und physische Gewalt (S. 461-472) – bildet den Abschluss des umfangreichen Bandes (S. 461-605).
Bei dieser umfassenden Darstellung wird deutlich, dass es völlig unzureichend wäre, die Geschichte des Kollegs St. Thomas nur anhand offizieller Dokumente und Aufzeichnungen des Kollegs und des Dominikanerordens (Personalakten, Chroniken, Jahresberichte) zu beschreiben. Erst die Erinnerungen der ehemaligen Schüler verschaffen die Möglichkeiten zu einer ganzheitlichen Betrachtung, Analyse und kritischen Beurteilung, die auch die Schattenseiten und ‚Dunkelräume‘ des Schul- bzw. Internatsalltags – einschließlich grenzüberschreitenden Verhaltens und sexualisierter Gewalt – berücksichtigen. Bemerkenswert sind die Ausführlichkeit und Genauigkeit der Darstellung, mit der die Verfasserin bislang wenig beachtete Aspekte der Geschichte des Kollegs rekonstruiert und analysiert hat. Dabei fällt allerdings auf, dass manche Teile der Untersuchung eher unverbunden nebeneinanderstehen als dass sie miteinander in einen engeren inhaltlichen und argumentativen Zusammenhang gebracht werden, vor allem das vierte und fünfte Kapitel der Untersuchung. Da der Band in seinem Untertitel zudem angibt, einen Beitrag zur historischen Bildungsforschung leisten zu wollen, stellt sich die Frage nach den konkreten Anknüpfungspunkten zu einzelnen Themen, Frage- und Problemstellungen der bildungshistorischen Forschung, etwa zur Internatserziehung, zum Verhältnis und Zusammenhang von Bildung und Religion, Bildung und Geschlecht, Disziplin und Leistung, zum Einfluss der ‚68er‘, zur Pfadfinderbewegung und -pädagogik. Entsprechende Bezüge und Referenzen in die Forschungsliteratur hätten hier noch stärker hergestellt bzw. entfaltet werden können. Die Stärken des Bandes liegen stattdessen in der Dokumentation und Darstellung, die eine Aufarbeitung und Selbstvergewisserung der ‚eigenen‘ Geschichte des Kollegs ermöglichen. Es ist dem Band zu wünschen, dass diese vielfältigen – bisweilen auch verstörenden – „Einblicke“ in die Geschichte des Kollegs St. Thomas zum Anlass für weitere Untersuchungen und Nachforschungen werden.