Aktuelle Rezensionen
Roland Götz (Hg.)
Kirchliche Quellen zu Sexualität und Partnerschaft. Sechs „Fälle“ im Originaltext
(Schriften von Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising 20), Regensburg 2023, Schnell & Steiner, 254 Seiten mit Abbildung, ISBN 978-3-7954-3855-5
Rezensiert von Walter Pötzl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2024
Die große Ausstellung „Verdammte Lust! Kirche, Körper, Kunst“, die in den Monaten März bis Juni 2023 im Diözesanmuseum Freising über 40 000 Besucher anzog und zu der neben dem Katalog auch ein Band mit 20 Essays erschienen ist, erfährt mit dem vorliegenden Band einen Nachschlag.1 Roland Götz leitet hier mit einer „formal überarbeiteten und inhaltlich an einigen Stellen ergänzten Fassung“ seines Essay-Beitrags zur Ausstellung „Liebe im Archiv. Quellen zu Sexualität und Partnerschaft“ ein (9–32). Die Themen von Irmgard E. Zwinglers Beitrag über Missbrauchsfälle in Münchner Frauenklöstern (69–106) und Maria Hildebrandts Aufsatz über den „Peitinger Pfarrer Franz Xaver Kuile und die Vergewaltigung der Köchin Maria Elisabeth Lidl“ (107–218) wurden im Ausstellungsband als Essays erzählt, die Überschriften jeweils mit einem Zitat eingeleitet: „Der eröffnete himmlische Wollust-Garten“ (Titel eines Nürnberger Predigtbuches, 1721) und „Weicht nur, Schäflein – euer Pfarrer ist ein Wolf“. Im vorliegenden Band werden von Zwingler die Vernehmungsprotokolle von 15 Nonnen publiziert und im Anhang die Konventslisten des Angerklosters (41 Chor-, 17 Laienschwestern) und des Riedlerklosters (34 Chor-, 8 Laienschwestern). Der Beitrag Hildebrandts über den Peitinger Pfarrer beruht auf dem Protokoll des Landgerichts Schongau (110–117) und auf dem Protokoll der bischöflichen Kommission, die vom 15.–21. Juni 1784 tagte und 164 Männer (!) vernahm (117–218). Zu den Personen erscheinen die Angaben: Name, Alter, Ehejahre, Beruf beziehungsweise Stand und „niemals (rentmeisterlich) abgestraft“.
Die weltlichen Gerichte urteilten seit jeher Sexualdelikte, wie Vergewaltigung, ab. In der Frühen Neuzeit spielte die Fornicatio, die Leichtfertigkeit (Geschlechtsverkehr von Ledigen), eine besondere Rolle.2 In Orts- und Regionalgeschichten dagegen spielt Rechtsgeschichte nur eine untergeordnete Rolle.3 Noch weniger Beachtung findet die Gerichtsbarkeit der Offizialate, die allein für die Streitigkeiten rund um Beziehungen und Partnerschaften (Ehezuerkennungen, Annullierungen, Trennungen von Tisch und Bett, Kindesunterhalt, Entschädigung für Entjungferung) zuständig waren. Eine Staffage auf der Landtafel der Markgrafschaft Burgau von Johann Andreas Rauch (1613/14) bringt folgende Szene: Ein Vater tritt mit seiner schwangeren Tochter auf einen Richter (des Offizialats) zu: „Ach Herr helfend meiner Tochter; sy hat ein groß(en) bauch. Die Tochter: herr er hat mich Redlich 3 mal genomen und wil mich nit mer.“ „Redlich“ meint wohl nach einem Eheversprechen. Der in dieser Staffage vorgestellte Fall vertritt einen sehr großen Teil der beim Offizialat geführten Prozesse.
Im Ausstellungs-Essayband zeigte Duane Henderson an einem Fallbeispiel „Sexualmoral und Eherecht im Spiegel kirchlicher Ehegerichtsbarkeit in Freising“ und knüpft daran die Frage „Alles nur Sex ?“ Im vorliegenden Band geht es um die „Ehezuerkennungsklage“ von Michael Wolgemut gegen die Malertochter Magdalena vor dem Freisinger Offizialat, 1471 (Christopher Kast, 34–46) und um den „Eheverspruchsprozess“ von Maria Margaretha Fischer gegen Michael Franz vor dem Archidiakonatsgericht Baumburg, 1664–1665 (Roland Götz, 47–68). Kast bringt das Offizialatsprotokoll (lateinisch und in Übersetzung) und Götz fünf offizielle Dokumente und elf Liebesbriefe des Beklagten. Es verwundert, dass bei dem großen und breit angelegten Projekt „Verdammte Lust“, in dem Körperlichkeit eine so große Rolle spielte, die Impotenzverfahren der Offizialate keine Untersuchung erfuhren. Die Bedeutung dieser Gerichte ist dem Kreis der Mitarbeiter durchaus bekannt.
Mit einem Schritt ins 19. Jahrhundert beendet Roland Götz den Band. Er rekonstruiert aufgrund der Pfarrmatrikel verschiedener Pfarreien die Lebensgeschichte der unehelichen Mutter Elisabeth Bahl, 1833–1892, die sukzessive von zwei Männern sieben Kinder gebar und nach der Eheschließung mit ihrem letzten Partner drei weitere. Entsprechend einer erzbischöflichen Verordnung zum Umgang mit Frauen, die mehrfach unehelich Mutter geworden waren (Quelle 1) wurde sie 1861 und 1865 vom Pfarrer in Weyarn vorgeladen und ermahnt (Quelle 11, 13–15, 18–20).
Der vorliegende Band ergänzt und erweitert den Ausstellungs-Essay-Band und macht bewusst, wie hochwertig die Quellenarbeit anzusetzen ist.
1 Vgl. dazu meine Rezension im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2023, S. 311–313.
2 Rainer Beck: Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land, Unterfinning 1671–1770. In: Richard van Dülmen (Hg.): Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. München 1983, S. 112–150 u. 233–241; Stefan Breit: „Leichtfertigkeit“ und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit. In: Ancien Regime. Aufklärung und Revolution 23 (1991), S. 267–294.
3 Walter Pötzl: Geschichte und Volkskunde des Marktes Dinkelscherben. Dinkelscherben 1987, S. 403–418; ders.: Mörder, Räuber, Hexen. Kriminalgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Heimatkunde des Landkreises Augsburg 20). Augsburg 2005, S. 315–335.