Aktuelle Rezensionen
Balázs Borsos/Fruzsina Cseh/Csaba Mészáros (Hg.)
Reckoning and Framing. Current Status and Future Prospects of Hungarian Ethnography in the 21st Century
(Hungarian Ethnology Studies 1), Münster 2022, Waxmann, 336 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4629-8
Rezensiert von Michael Prosser-Schell
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2024
Alle 20 bis 30 Jahre, so schreiben die Herausgeber in ihrem kurzen Vorwort, sei für eine wissenschaftliche Disziplin die Zeit gekommen, Inventur zu machen und sich über ihren Status und über das, was man an Forschungsarbeiten und Forschungsresultaten sozusagen auf dem Konto habe, Rechenschaft geben. Um Berechnen und (Ein-)Rahmen geht es also, um Bestandsaufnahmen und Zukunftsperspektiven der Ungarischen Ethnografie, deren Ausformulierungen allerdings zum großen Teil auch übertragbar auf Problemstellungen desselben Faches in anderen europäischen Ländern wären. Das Buch wird vorgestellt als Ergebnis von mehreren Tagungen und Konferenzen, die vom Komitee für Ethnografie an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften seit 2018 in diesem Sinne organisiert worden sind. (Einer der großen Unterschiede der Ungarischen Ethnografie/Kulturanthropologie etwa zu Deutschland besteht darin, dass die außeruniversitäre Akademie der Wissenschaften, heute das „Hungarian Research Network“ – HUN-REN – als Nachfolgeorganisation, eine herausragende Rolle in der Forschung spielt und auch personell mindestens ebenso zahlreich, wenn nicht stärker besetzt ist als die Universitätsinstitute). Im Einleitungsbeitrag skizziert Balázs Balogh, Ethnograf und Generaldirektor der Abteilung „Humanities“ am HUN-REN, was sich in den letzten zwei Dekaden an neuen Zielfeldern des Faches entwickelt beziehungsweise was sich gewandelt hat. Bemerkenswert ist seine Feststellung, dass sich das Interesse von Forscherinnen und Forschern nunmehr verstärkt auch auf Untersuchungen mit oder in Zentralasien und China richtet (21–22). Er konstatiert zudem, dass das Interesse an Ethnografie in Ungarn wohl noch nie so groß gewesen sei wie gegenwärtig, dass aber die akademisch vertiefte Nachwuchsausbildung an den Universitäten dem kaum nachkommen könne, ja sogar in einer bedrängten Situation sei (16). Dies führe unter anderem zu einem erheblichen Dilemma zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung („Dilemma of Basic and Applied Research in Hungarian Ethnography“, so auch der Titel seines Beitrags).
Die umfangreichste Aufmessung unternimmt der Beitrag über „Ethnography and Cultural Anthropology in Higher Education“ von Róbert Keményfi, Károly Teperics, Éva Bihari Nagy und Máté Kavecsánszki (25–69). Wer aktuelle und systematisch erfasste Informationen zur Entwicklung der Demografie in Ungarn überhaupt, zu den Qualifikationszahlen der Schulen, zu den Studierendenzahlen (aufgeschlüsselt nach Regionen) und insbesondere über die Studierenden der Ethnografie/ Kulturanthropologie (aufgeschlüsselt nach Lehrveranstaltungstypen und Haupt- und Nebenfachabsolventen und anderes mehr) seit dem Jahr 2000 sucht, erhält sie hier.
Ein weiterer Übersichtsbeitrag von Miklós Cseri und Lajos Kemecsi (71–93) benennt und erläutert die großen Sammlungen an Sachkultur sowie die riesigen Daten- und Bibliotheksbestände am neuen Zentral-Museum für Ethnografie in Budapest (Feldprotokolle, Fotografien, EDV-gespeicherte Quellen, Fachliteratur) sowie am großen zentralen Freilichtmuseum des Landes, dem „Szabadtéri Néprajzi Múzeum“, das nach dem Vorbild von Stockholm auch als „Skanzen“ bezeichnet wird. Eine Übersicht über die regionalen Museen und die Charakteristik der kleineren dörflichen oder ländlichen Museen (ungarisch „tájházak“) sowie über die Besucherzahlen insgesamt ergänzt den Beitrag. Lajos Kemecsi ist Generaldirektor des Ungarischen Ethnografischen Museums am Hösők tere in Budapest (mit insgesamt 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern derzeit), hervorgetreten auch durch Arbeiten zur neuen allgemeinen, 2022 in Prag beschlossenen Museums-Definition sowie durch eine Monografie zum ländlichen Architekturerbe (Megőrzött építészet [Bewahrte Baukunst], Debrecen 2020). Miklós Cseri ist der Generaldirektor des zentralen Ungarischen Freilandmuseums in Szentendre.
In seinen Erörterungen zu „Ethno + Science?“ (169–174) zeigt Balázs Borsos Verbindungen und grundsätzliche Zusammenhänge mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen auf. Darunter sind seine Beschreibungen des Zusammenwirkens mit der Medizin in Erkenntnisinteressen und Methodik (170) sowie des gegenseitigen Ineinandergreifens auf dem großen Feld der Ökologie (170–172) mit einigen Naturwissenschaften, zum Beispiel Botanik, Zoologie (Tierzucht) und Geowissenschaften, besonders aufschlussreich. Noch detaillierter ausformuliert werden diese Relationen in weiteren eigenständigen Beiträgen des Buches, so von Zsolt Molnár und Dániel Babai über die Kooperationsmöglichkeiten der Ethnologie innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen zum Schutz der Natur und der Kultur (157–167), von Veronika Lajos in ihren Überlegungen zum Verhältnis von ungarischer Ethnografie und der Sozialanthropologie (95–111), von Dániel Babai über die Rolle von Volkskundlerinnen und Ethnografen als (Ver-)Mittlern zwischen Landwirten und Naturschützern (175–198). Im Beitrag von Károly Zsolt Nagy mit dem etwas irreführenden Titel „From ‚a Den of Rogues‘ to Community Competencies“ (285–305) geht es um das Zusammenwirken von ethnografischem Wissen und der Theologie, hauptsächlich der Reformierten Kirche in Ungarn.
Der Historiker József Ö. Kovács diskutiert die Rolle von Ethnografie und Anthropologie in geschichtswissenschaftlicher Forschung (133–153). Er zählt, mit reichem Literaturverzeichnis, in dem auch viele deutschsprachige Schriften von Johann Gottfried Herder über Max Weber bis Hans Medick Berücksichtigung finden, die gegenseitigen Berührungsfelder und Forschungsbereiche unter verschiedenen Oberbegriffen auf. Im Bereich dessen, was im deutschsprachigen Forschungszusammenhang Frömmigkeitsgeschichte heißt (ungarisch vallási kutatás oder hitvilág), spricht der Autor kurz von „spectacular research results“ (141), erwähnt aber keine. Vielleicht darf man an dieser Stelle die international bekannten Arbeiten von Dániel Bárth zur Problematik von Exorzismus und Aufklärungsdiskurs im 18. Jahrhundert nennen (Übersetzungen mittlerweile auch auf Deutsch und Englisch), ebenso Tamás Mohays Mammutwerk zur Wallfahrtveranstaltung von Csíksomlyó (bislang nur auf Ungarisch publiziert). Hierin kommt zum Tragen, „what ethnographers alone know“ (Kovács 142), nämlich die Kombination und Kontrastierung von Schriftquellen und Feldforschungspraxis.
An der Schnittstelle zu anderen Disziplinen und Beiträgen zur „applied ethnography“ stehen László Mód und András Simon mit ihrer Arbeit zum Konnex zwischen Ethnografie und agrarischer beziehungsweise landwirtschaftlicher Produktion (199–210). Das geschieht etwa dann, wenn agrarökonomisch geprägte Gemeinden mit Hilfe der Ethnografie „rethink and redefine their own heritage“ (202) und damit ein werbewirksames Narrativ für ihre Produkte herzustellen vermögen. Dies betrifft neben dem alles überragenden Weinbau auch Akazien, Kürbisse, besondere Obstsorten, Heilkrautpflanzen und anderes mehr. Der Beitrag wird hier sehr konkret und präsentiert Resultate systematischer empirischer Feldforschung (was die Disziplin in Ungarn immer ausgezeichnet hat seit den Tagen von Bela Bartok und Edith Fél). Die Ethnografie konnte jedoch auch behilflich sein, wenn nachhaltige Arbeitsmethoden und pflanzliche Varietäten wiederentdeckt wurden und werden (201–203), nach der Kollektivlandwirtschaft der sozialistischen Zeit.
Mit einem Anknüpfungspunkt, der hohe Aktualität beanspruchen kann, beschäftigt sich Anikó Báti, nämlich mit ethnografischen Wissensbeständen im Zusammenhang mit dem Angebot des „Public Catering of Children“ (gemeint sind Schul-Mensen, 329–343). Fruzsina Csehs Beitrag behandelt den Einfluss von Ethnografie auf die heutige nichtfolkloristische und folkloristische Handwerkskunst (247–268). Ethnografische Forschung in der Volkstanz- und Volksmusikbewegung zeigt Katalin Juhász (213–246). Ein stark wachsendes Anwendungsfeld erschließt Zsolt Szilágyi, der sich der Kooperation von Ethnologie beziehungsweise von ethnologischem Wissen und der Diplomatie widmet (308–327): In Fragen und Problemen der internationalen Beziehungen und von Verständigungsnotwendigkeiten im Zeichen der Globalisierung spiele die Ausbildung in „Kulturdiplomatie“ eine immer wichtigere Rolle (315–318).
In dem den Sammelband abschließenden Beitrag von Károly Zsolt Nagy geht es im Wesentlichen um technische Sachverhalte der ethnografischen Forschung mit dem WorldWideWeb (anders als es der Titel „Ethno-Business, Ethnoporn, Etnofolk“ [sic] erwarten lässt, 345–361). Die Etablierung des Internets hat insbesondere für die Erzählforschung ganz erhebliche Konsequenzen, etwa bei der Entstehung und Verbreitung, Anreicherung oder Anpassung (framing) von sagenhaften Geschichten oder bei der populären Repräsentation von Personen in einer fundamental veränderten Form der Performanz.
Fazit: Die Herausgeberinnen und Herausgeber haben den Mut aufgebracht, eine unbedingt lesenswerte Zusammenschau zu wagen, die auch für das Fach im europäischen Gesamtrahmen unverzichtbare Befunde präsentiert und, weil die Problemstellungen nahezu sämtlich übertragbar sind, fundamentale Anregungen bietet.