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Martin Winter
Ernährungskulturen und Geschlecht. Fleisch, Veganismus und die Konstruktion von Männlichkeiten
(Kulturen der Gesellschaft 56), Bielefeld 2023, transcript, 293 Seiten mit Abbildung, ISBN 978-3-8376-6246-7
Rezensiert von Alexandra Rabensteiner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2024
Ausgehend vom „Veggie-Boom“ seit den 2010er Jahren legt der Soziologe Martin Winter mit seiner Monografie „Ernährungskulturen und Geschlecht. Fleisch, Veganismus und die Konstruktion von Männlichkeiten“ eine Studie vor, die sich mit den gesellschaftlich relevanten und umkämpften Themen Veganismus und Karnismus auseinandersetzt. Angelegt als eine „Soziologie der Ernährungskulturen“ (11) ist das Ziel der 2020 an der Technischen Universität Darmstadt eingereichten Dissertation sowohl theoretisch als auch empirisch die „drei Dimensionen der Ernährungsstile, der Lebensmittel und des Ernährungswissens aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive einzufangen“ (12), die Winter als Leerstelle der soziologischen Forschung identifiziert.
Aufgebaut ist die Arbeit in acht Kapiteln, die neben der Einleitung (Kapitel 1), einem kurzen Schluss von knapp neun Seiten (Kapitel 8) und dem methodischen Teil (Kapitel 4) in drei große Kernbereiche eingeteilt werden kann: den Forschungsstand (Kapitel 2), den theoretischen Rahmen (Kapitel 3) sowie den empirischen Teil, der sich über drei Kapitel erstreckt (Kapitel 5–7).
Der Forschungsstand ist in zwei größere Abschnitte unterteilt, die sich einerseits mit der sozialwissenschaftlichen Ernährungsforschung und andererseits mit Fleisch und Fleischverzicht auseinandersetzen. Auch wenn aus empirisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive am Forschungsstand bemängelt werden kann, dass Literatur aus unserem Fach teilweise fehlt, muss positiv hervorgehoben werden, dass der Autor auf eine Vielzahl von Forschungszweigen zurückgreift und so den Gegenstand in verschiedene Forschungstraditionen einordnet. Neben Klassikern wie den „Feinen Unterschieden“ von Pierre Bourdieu, Georg Simmels „Soziologie der Mahlzeit“ oder Eva Barlösius Standardwerk „Soziologie des Essens“, verweist er unter anderem auf Studien zur Mensch-Tier-Beziehung (30‒31), Texte der Sozialpsychologie (31) und Ergebnisse aus der Gouvernementalitätsforschung (35). Erwähnenswert ist auch sein Einbeziehen der historischen Perspektive, sowohl in Bezug auf die wissenschaftliche Literatur als auch bei der Betrachtung des „,Ernährungswandel[s]‘ im Spiegel des gesamtgesellschaftlichen sozialen Wandels“ (16), das (auch aus Sicht der Empirischen Kulturwissenschaft) einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bietet. Ausgehend vom Stand der Forschung identifiziert Winter für die verschiedenen Themenbereiche „Forschungsdesiderate“ (16), an die er im theoretischen und empirischen Teil anschließt.
Den theoretischen zweiten Teil der Arbeit denkt Winter nicht nur als Rahmung der Empirie. Vielmehr entwirft der Autor darin ein „soziologisches Forschungsraster“ (88), das er als Antwort auf eine relativ überschaubare Anzahl an soziologischen Theorien zum Thema Ernährung positioniert. Dementsprechend detailliert und kleinteilig (das Kapitel ist in bis zu vier Hierarchieebenen unterteilt) sind seine Ausführungen. Dadurch liest sich der Text wenig voraussetzungsreich und bietet für weitergehende Forschungen zum Thema eine gute Grundlage, wenngleich er sich bisweilen in Details verliert. Der Schlüsselterminus in Kapitel drei ist der Begriff „Ernährungskulturen“, welchen Winter auch im Titel seines Buches zentral an erste Stelle gesetzt hat. Ernährungskulturen versteht der Autor dabei als einen „Komplex aus Macht, Wissen und Materialisierungen“ (87), den er an den Forschungsansätzen aus den drei Bereichen Kultursoziologie, Cultural Studies und Science and Technology Studies (STS) mit geschlechtertheoretischem beziehungsweise feministischem Blick entlang der Aspekte Lebensmittel, Ernährungswissen, Körper und Geschlecht bespricht.
In den anschließenden Kapiteln fünf bis sieben füllt Winter die Theorie mit empirischem Material. Methodisch bezeichnet Winter seine Arbeit als „Ethnografie ernährungskultureller Wirklichkeiten“ (91). Obwohl auch hier Verweise auf empirisch-kulturwissenschaftliche Literatur fehlen, arbeitet der Autor mit unserem Fach überaus bekannten Zugängen: Teilnehmende Beobachtung und ethnografische Interviews – in unserem Fach eher als informelle Gespräche bezeichnet – auf insgesamt zwölf Fach- beziehungsweise Publikumsmessen (sowohl zu veganer Ernährung als auch zum Thema Fleischproduktion sowie allgemein zum Thema Ernährung) sowie Analysen dort erhobener Dokumente, Analysen von Kochbüchern und schließlich leitfadengestützte Expertinnen- und Experteninterviews aus den Bereichen Ernährungswissenschaften, veganen/vegetarischen NGOs, Produktion von Fleischalternativen und Messeorganisation. Das Material wurde im Sinne der Grounded Theory durch offenes, axiales und selektives Kodieren analysiert.
Im ersten Abschnitt des empirischen Teils (Kapitel 5) beschäftigt sich Winter mit der Frage, mit welchen materiell-diskursiven Praktiken Veganismus und vegane Lebensmittel im ernährungskulturellen Konflikt um Hegemonie positioniert werden. Der Autor erkennt in seinem Material drei zentrale Strategien, die er als Normalisierung, Flexibilisierung und Wissenschaftlichkeit bezeichnet: Erstens wird vegane Ernährung über Normalisierung und Distinktion zu einer normalen Ernährungsform gemacht („Flexibler Normalismus“). Zweitens findet über vegane Lebensmittel eine Entideologisierung der Ernährungsform statt, indem sie sich in erster Linie an sich flexitarisch ernährende Personen richten. Die dritte Strategie zur Etablierung des Veganismus liegt für Winter in der Verknüpfung mit „gesellschaftlich hegemonialen Diskursen“ (127), die er in Tierethik und Ökologie (ethisch-politisch), in Gesundheit beziehungsweise körperlicher Fitness sowie Männlichkeit sieht. Gerade für letztere beiden bilden die Ernährungswissenschaften wichtige Impulse. Denn, so Winters abschließendes Resümee, Ernährung sei heute legitimierungsbedürftig.
Das sechste Kapitel der Arbeit kann als Kernstück der Studie betrachtet werden und bildet den längsten Abschnitt. Dicht geschrieben und die Empirie überzeugend mit der vorher ausgeführten Theorie verknüpft, setzt sich Winter mit „Wissen und Technologien des Veganismus und Karnismus“ (159) auseinander und nimmt vier Praxisbereiche in den Blick: Ernährungswissenschaften, Kochen, Veganismus und Lebensmittelproduktion. Er arbeitet dabei drei unterschiedliche Wissenspraxen und Materialisierungen heraus, die er als nutritional, kulinarisch und ökologisch bezeichnet und jeweils in Verbindung zu Vorstellungen hegemonialer Männlichkeiten setzt. In der nutritionalen Materialisierung werden Lebensmittel durch die Ernährungswissenschaften zu quantifizierbaren Wissensobjekten, die der Mensch anhand seiner biologischen Bedingungen, wie Alter und Geschlecht, in einer bestimmten Menge zu sich nehmen muss, um gesund zu bleiben. So werden in dieser Materialisierung auch Körper und Geschlecht zu naturwissenschaftlichen Wissensobjekten. Als Fallbeispiel betrachtet Winter im anschließenden Kapitel sieben, das durch seine Kürze auffällt und als Anhang beziehungsweise Vertiefung von Kapitel sechs gelesen werden kann, das Protein in Hinblick auf die Aspekte Männlichkeit und Gesundheit. Er kommt zu dem aufschlussreichen Ergebnis, dass nicht mehr das Fleisch als solches männlich konnotiert wird, sondern der muskelaufbauende Nährstoff Protein, der auch über vegane Ernährung aufgenommen werden kann, das hegemoniale Männerbild stützt. In der kulinarischen Materialisierung bleibt das Lebensmittel als Ganzes bestehen und wird durch Geschmack und Konsistenz bestimmt. Geschlecht spielt auch hier eine Rolle, in dem sich der Geschmack, so Winter, an dem des Mannes ausrichtet. Als dritte Materialisierung arbeitet der Soziologie die ökologische heraus. Hier orientiert sich die „richtige“ Ernährung an Fragen nach Tierleid und Klimawandel, aber auch am Männlichkeitsideal der Naturbeherrschung in der Fleischproduktion und jener des Pioniers oder des Experimentierfreudigen in der Produktion von Fleischalternativen. Alle drei Materialisierungen (nutritional, kulinarisch, ökologisch) bieten Antworten auf die Frage nach der „guten“ beziehungsweise „richtigen“ Ernährung und eröffnen Blicke auf ernährungskulturelle Machtkämpfe.
Insgesamt erfüllt die Monografie die Erwartungen der Lesenden. Ausschließlich die in den Kapiteln zwei und drei stark gemachte Dimension der Klassenunterschiede verliert im empirischen Teil an Bedeutung. Die soziologische Arbeit kommt in vielen Aspekten der Vorgehens- und Analyseweise der Empirischen Kulturwissenschaft sehr nah. Aus fachlicher Perspektive ist es gerade deshalb schade, dass dahingehende fachliche Verweise weitgehend fehlen. Während Essen und Ernährung für die Soziologie, wie Winter konstatiert, lange Zeit randständige Themen waren, die jetzt gerade einen Aufwind zu erleben scheinen, gehört die Nahrungsforschung in der Volkskunde/Empirischen Kulturwissenschaft hingegen zu einem seit Jahrzehnten etablierten Forschungszweig. Nichtsdestotrotz bedeutet die Studie auch für die empirisch-kulturwissenschaftliche Nahrungsforschung einen Gewinn. Der empirische Teil der Arbeit scheint im Verhältnis zu den theoretischen Teilen der Arbeit aus Sicht der Empirischen Kulturwissenschaft zwar auffällig kurz, sodass an manchen Stellen eine Vertiefung sicherlich wünschenswert gewesen wäre. Ihre Anschlussfähigkeit im Fach bietet die Dissertation allerdings gerade über die in ihr entworfene „soziologische Theorie der Ernährung“ (12), die auch der Empirischen Kulturwissenschaft spannende Impulse geben kann.