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Thorsten Gieser

Leben mit Wölfen. Affekte, Gefühle und Stimmungen in Mensch-Wolf-Beziehungen

(Human-Animal Studies 29), Bielefeld 2023, transcript, 238 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6522-2


Rezensiert von Mieke Roscher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2024

In vielen Regionen Deutschlands kehren Wölfe in Gebiete zurück, in denen sie zuvor ausgerottet worden waren. Dies hat in den letzten Jahren zu Diskussionen über die Auswirkungen ihrer Rückkehr auf lokale Ökosysteme, Landwirtschaft und Gemeinden geführt. Begegnungen mit Wölfen wurden häufig konflikthaft gedeutet. Die Frage, wie man solche Konflikte am besten lösen kann, ist und bleibt ein kontroverses Thema mit scheinbar nur zwei möglichen Positionen, Pro-Wolf oder Anti-Wolf. Ein Multi-Spezies-Ansatz für Begegnungen mit Wölfen, so wie ihn Thorsten Gieser in seinem Buch wählt, verkompliziert hingegen das Beziehungsgeflecht und berücksichtigt die Perspektiven, Praktiken und Handlungsweisen verschiedener Interessengruppen, einschließlich des Menschen, des Wolfs und anderer Arten, die vom Vorhandensein der Wölfe betroffen sind. Sein Ansatz ist der einer Etho-ethnografie, den die Philosophen und Ethnologinnen Dominique Lestel, Florence Brunois und Florence Gaunet (Etho-ethnology and Ethno-ethology. In: Social Science Information 45 [2006], H. 2, S. 155–177) bereits 2006 vorgeschlagen haben, der bis dato aber wenig empirische Umsetzung erfahren hat. Dieser Ansatz berücksichtigt die Situationsdeutungen, die Tiere machen, die menschlichen Interpretationen dessen, was die Tiere tun und „denken“, und schließlich die Auslegung, die Menschen von den Interpretationen anderer Menschen über das Verhältnis von Tieren und anderer Menschen vornehmen. Für diese Untersuchungen hat sich der Autor ins Feld begeben und dazu zwei neuralgische Punkte ausgewählt: die Lausitz als etabliertes und den Westerwald als neues Wolfsgebiet. Er ist der Prämisse gefolgt, den Wolf dahin zu begleiten, wohin es ihn treibt, um damit das ganze Bündel interspezifischer Kontakte und Kontaktmöglichkeiten aufzudröseln, die diese „lupo-humane Gesellschaft“ (24) charakterisiert. Die Präsenz von Wölfen in unserem gemeinsamen Lebensraum rege dazu an, unsere Gesellschaft als „more-than-human“ zu betrachten und neu in ihrer ganzen Komplexität zu überdenken, so Giesers These.

Dabei geht es ihm um „Affekte, Emotionen und Gefühle“, die sich in „Atmosphären, Stimmungen und Sentiments“ (18–19) untersuchen und verfolgen lassen könnten, und auch wenn diese Unterscheidungen auf den ersten Blick etwas artifiziell anmuten mögen, so ist doch eines zentral, nämlich dass er die Gegenseitigkeit der Mensch-Wolf-Beziehungen kartografieren möchte und zeigen will, wie sie sich auch in Abhängigkeit voneinander in Geschichten, Praktiken und Landschaften einschreiben. Sie strukturieren ferner das Buch, das anhand bestimmter Begegnungsnarrative die Mikro-, Makro- und Mesoebene der Beziehungen und Verhältnisse zwischen Wolf und Mensch aufblättert, ihre körperliche Präsenz, Wirkmacht, Responsiviät und ihre Agency verdeutlicht sowie die Ko-Existenz und die Begegnungsräume, die ein „Wolfsmanagement“ evozieren, darlegen soll. Auch wenn er dies nicht explizit macht, wird anhand dieses Vokabulars bereits erkennbar, dass sich der Autor im weiteren Bereich der Animal Studies verortet und deren Theorien auch anwendet.

Dies zeigt sich auch im zweiten Kapitel, das bemüht ist, Affektkonstellationen vom Tier her zu schreiben und das gleichzeitig eine klare Absage an die gängige ethologische Forschung ist, die hier als viel zu schematisch dargestellt wird. Vielmehr müsse man das Körper- und Erfahrungswissen in dynamischen Prozessen als ein gemeinsames „Werden“ begreifen. Anhand dreier inneranimalischer Beziehungen, Wolf – Rabe, Wolf – Wildschwein und Wolf – Mensch, zeigt der Autor überzeugend, wie Wissen situativ abgerufen wird und sich in unterschiedlichen Begegnungen verschiedenartige Routinen entwickeln: spielerische, räuberische, kommunikative. Er benutzt dazu kleine empirische Vignetten, folgt der Story-telling Methode, zeigt also auf, dass man der Kreativität der Tiere nur mit eigener Kreativität begegnen kann. Eine abschließende Lesung der von ihm hier beschriebenen interanimalen Interaktionen zwischen zwei Jägern, zwei Wölfen und einem Hund durch die Bild-Zeitung, die filmisch festgehalten wurde, zeigt allerdings auch, wie anders eine solche Situation wahrgenommen wird.

Wieso das Wolfsbild relativ starr ist, zeigt der Autor im nächsten Abschnitt. Grund sei vor allem eine anthropozentrische Sicht, auch innerhalb der Forschung, die nach wie vor fein säuberlich zwischen menschlicher und tierlicher Welt zu unterscheiden sucht und neue Impulse, etwa der Human-Animal Studies, die die Konvivialität und das Relationale in den Mittelpunkt rücken möchte, weitgehend ignoriere. Dies sei geradezu „realitätsfern“ (65), führe aber eben zu vorgefertigten Denkmustern. Anhand der Wiederansiedlung von Wölfen im Westerwald zeigt Gieser indes, dass es schon die „gefühlte“ Wolfsnähe ist, die Menschen reagieren lasse. Eine „affektive Agency“ der Wölfe sei daher nicht von der Hand zu weisen, werde jedoch durchaus unterschiedlich rezipiert, politisch, ökologisch, emotional. Dies wird alles sehr schön beschrieben und bebildert, wie der Autor insgesamt die eigene Einbettung in den Diskurs, als Anthropologe und Jäger, auch ausreichend transparent gemacht. Nicht deutlich wird aber, was die vom Autor eingeführten Konzepte des „affektiven Arrangements“ (68) und der „polyzentrischen Beziehungsgeflechte“ (87) eigentlich von den Akteur-Netzwerken der praxeologischen Handlungstheorien unterscheidet und ob auch die wichtige Doppelbetrachtung von „Affekten“ einerseits und „(materiellen) Effekten“ (91) andererseits nicht die Auflösung von materiell-semiotischen Knotenpunkten in neuen Schläuchen ist. Diese Knotenpunkte Harawayscher Lesung ließen sich meines Erachtens durchaus auch in den Atmosphären finden, die Thema des vierten Kapitels sind. Dies schmälert nicht die empirische Leistung, die hier vertieft die „gefühlten“ Kräfte des Wolfes, die „individuelle, subjektiv-emotionale Erfahrungen“ der Begegnung abbilden und gleichsam zeigen, wie diese aus „größeren intersubjektiven affektiven Strukturen hervorgehen“ (92). Die „Ökologien“ oder „Landschaft[en] der Angst“ (95), so zeigt Gieser deutlich, offenbaren sich hier in ihrer ganzen Variabilität, zwischen sehr differenzierten Instanzen von Räubern und Beute.

Anschaulich vertieft wird diese Gemengelage anhand der Gemeinde Ralbitz-Rosenthal in Sachsen und des dort ansässigen Rosenthaler Rudels, das alle affektiere, weil es die ganze Landschaft „wölfisch“ (101) gemacht hätte. In Rosenthal wurde aber nicht nur das Machtgefälle zwischen den verschiedenen Akteuren evident, auch das Stadt-Land-Gefälle wird hier thematisiert – der Ort wurde zum Hotspot der politisch-agitatorischen Auseinandersetzung, in dem es längst nicht mehr nur um die realen und durchaus verstörenden Bilder der Wolfsrisse ging. Die Beziehungen zeigten sich hier als „komplex, fragil, ambivalent und in stetiger Weiterentwicklung“ (107). Dies schließt ebenso die Beziehungen zu den Schafen mit ein, die vorwiegend Opfer der Attacken waren. Nicht nur litten diese unter den Angriffen – auch mental, wie der Autor richtig darstellt – sie wurden aber zudem in besonderer Weise exponiert und schutzlos gemacht.

Dass es mit dem Herdenschutz in Deutschland oft nicht weit her ist, erklärt Gieser mit den Gefühlswelten, die Schäferinnen und Schäfer, professionelle wie unprofessionelle, gegenüber der Situation entwickeln würden: Trotz und Ärger seien stets nach Außen gerichtet und überlagerten die eigentlich immerwährenden Sorge um die Tiere, die als Spezies durch und durch vulnerabel und „nah am Tod“ gebaut (132) beschrieben wird. Interessant ist aber vor allem die Feststellung, dass Herdenschutz auch deshalb abgelehnt wird, weil er als gleichbedeutend mit der Akzeptanz des Wolfes gesehen wird. Noch weniger Akzeptanz hat der Wolf nur bei der Jägerschaft, deren Gefühle der Autor ebenfalls seziert und sie hier vor allem als Herrschaftsverlust deutet, der oft auch in Hass umschlage. Wölfe würden von ihnen als „respektlose“ (146) Bedrohung für die „Jagdtraditionen“ (149) gedeutet und letztlich auch für den permanenten Rechtfertigungsdruck verantwortlich gemacht. Inwieweit hier auch vergeschlechtlichter Kontrollverlust eine Rolle spielt, immerhin 93 % der organsierten Jägerschaft sind Männer, wie der Autor anmerkt, wäre interessant gewesen. Immerhin schienen insbesondere die markierenden Alphatiere besonderen Unmut erzeugt zu haben.

Eine Gruppe schließlich, mit der keine der beiden anderen etwas zu tun haben will, die so genannten Wolfsfreundinnen und Wolfsfreunde, beschreibt der Autor als die heterogenste. Ihre Gefühlswelten variieren vor allem dahingehend, ob sie sich eher dem Tier- oder Naturschutz verbunden fühlen, also wie sie sich gegenüber dem wölfischen Individuum positionieren. Gieser charakterisiert diese Gruppe als quasi im Paradoxon zwischen „Naturverbundenheit und Naturentfremdung“ gefangen (162). Die kulturelle Erfahrung der Natur wird hier vielleicht etwas voreilig über Bord geworfen, um mit Hartmut Rosa „die ökologische Grundangst der Moderne“ (162) zu beschwören, allerdings mag dies auch an den Perspektiven der ausgewählten Interviews liegen. Um die vielen Schattierungen der Gefühlswelten aller Akteure offensichtlich zu machen, benutzt der Autor für sie die Fettschrift im Text. Sie sollen ins Auge fallen. Dies ist sehr eindrücklich, denn es vermag die konfligierenden, sich jedoch auch ergänzenden, komplexen Gefühle sehr schön zu illustrieren.

Das letzte Kapitel schließlich zeigt, dass Wolfsmanagement immer eher Affektmangement ist, denn über das, was die Wölfe wirklich täten, wisse man gar nicht so wirklich Bescheid, sie entzögen sich gewissermaßen der Gouvernementabilität. Dieses Affektmangement, so beschreibt Gieser dicht an Material, das hier Infoveranstaltungen, Vorträge usw. umfasst, sei zwischen den Polen von Sachlichkeit und „Ängsten ernst-nehmen“ angesiedelt, wobei er zurecht darauf hinweist, dass sich auch der Hass auf Wölfe oft im Schafspelz der Ängste verberge. Ängste seien aber sozial anerkannt. Das Kapitel endet mit dem Wolf und wie eigentlich seine Affekte gemanagt werden könnten (Stichwort: Problemwolf) und weist hier auf die Grenzen der klassischen Ethologie hin, die über Konditionierungsversuche nicht hinaus gekommen zu sein scheint und dennoch darüber bestimmt, was wir als „normales“ Wolfsverhalten zu lesen hätten.

Thorsten Gieser hat ein anregendes Buch vorgelegt, das vor allem dadurch besticht, dass es von Anfang an auch vom Wolf her gedacht ist. Besonders interessant ist der immer wieder angemerkte Netzwerkcharakter und die Tatsache, dass auch andere Tiere, Wildschweine, Schafe und insbesondere Hunde, das Verhältnis Mensch – Wolf beeinflussen, weil sie selbst sehr spezifische Beziehungen zu ihnen aufbauen. Auch wenn diese Tiere nicht im Mittelpunkt der Erzählung stehen, zeigen sie doch, dass das affektive Umfeld multispezifisch ist. Dass im Diskurs die konfligierenden Affekte stets die konvivialen Affekte überlagern, müsse durch rigorose Beziehungsarbeit geradegerückt werden. Dazu muss man aber die Gefühlswelten kennen. Diese zu identifizieren ist der Verdienst dieses Buches.