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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Anita Rotter

Postmigrantische Generation. Das intergenerationale Familiengedächtnis als Bildungsprozess

(Postmigrantische Studien 13), Bielefeld 2023, transcript, 381 Seiten, ISBN 978-3-8376-6678-6


Rezensiert von Fatma Sagir
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.09.2024

Die vorliegende Studie der Erziehungswissenschaftlerin und Bildungsforscherin Anita Rotter gliedert sich in sieben Kapitel, wobei Kapitel fünf und sechs den Kern bilden und sich „Familie und Biografie“ (201–258) und dem „intergenerationale[n] Familiengedächtnis als Bildungsprozess“ (259–302) widmen. Anita Rotter liefert mit der Buchhandelsausgabe ihrer Dissertation einen beachtlichen Beitrag zur Debatte und wissenschaftlichen Forschung um Bildung, Migration, Rassismus, gesellschaftliche Teilhabe und Bildungsherkunft. Die Autorin stellt die Bildungs- und Migrationsbiografien Tiroler Jugendlicher und ihrer Familien in den Mittelpunkt ihrer Forschung. Sie verortet den Bildungsprozess nicht nur in den gesellschaftlichen und politischen Kontext, in dem diese Jugendlichen leben (hier: Österreich), sondern schwerpunktmäßig in den Familien. Sie betrachtet in diesem Zusammenhang die Familie, oder den familialen Rahmen, als Bildungsort neben den üblichen Bildungsorten wie Schule, Ausbildung, Beruf, Universität etc. Des Weiteren bezieht sie migrations- und bildungsbiografische Narrative der Familien und deren Familiengedächtnis in ihre Analyse ein.

Damit lenkt sie den Blick der Forschung auf die Familie als Wissensressource und Netzwerk, die bei der Betrachtung und Untersuchung der Thematik meist vernachlässigt oder doch recht eingeschränkt wahrgenommen wird. Das Familiengedächtnis und die Erinnerungs- und Erzählpraktiken, die es schaffen, seien ebenfalls ein Bildungsprozess, so die These Rotters.

Das Familiengedächtnis sowie die Mobilitäts- und Migrationsgeschichten der Familien zeigt Rotter als reiche Quelle für die Jugendlichen, aus der sie eine Forterzählung und eine Narration des Selbst schöpfen (336–345). Die Autorin macht zudem deutlich, dass entgegen historischer Darstellungen die Migrationserfahrung für sogenannte Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten nicht mit den Anwerbeabkommen beginnt, sondern, dass Familien meist bereits Binnenmigrationserfahrungen vorweisen.

Bildung, so gilt das Versprechen, auch in der Bundesrepublik, soll den Eingewanderten den sozialen und ökonomischen Aufstieg ermöglichen und vor allem letztlich die Integration in die und Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft vollbringen. So stellt Rotter zu Recht fest: „Familial ist die Erkenntnis zentral, dass die mehrheimische Familie als Bildungsort fungiert und die jüngste Generation auf Bildungsherausforderungen vorbereiten kann und möchte […] Familien mit Mobilitätsgeschichte werden ohnehin häufig Bildungsaspiration zuerkannt, jedoch nur in Ausnahmefällen tatsächlich erreichter Bildungserfolg.“ (342)

So gelingt ihr eine profunde Auseinandersetzung mit der Thematik. Rotter eröffnet einen Einblick in die sogenannte postmigrantische Generation und ihren Umgang mit Fragen der Ausgrenzung, Resilienz und Identität, die Vielen unbekannt sein dürften, wenn sie nicht mit dieser Geschichte aufgewachsen sind. So war es für mich als Tochter einer Gastarbeiterfamilie beinah unerträglich schmerzhaft die mir so vertrauten biografischen Erzählungen dieser jungen Menschen zu lesen. Die biografischen Erzählungen und Portraits sind das Herzstück der vorliegenden Studie. Diese und die nuancierten Analysen von Anita Rotter machen diesen Band besonders lesenswert und, neben dem wertvollen Beitrag zur Forschung, zudem als Lektüre für Seminare besonders empfehlenswert.