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Cindy Drexl

Faszination Wilder Westen. Living History im Kosmos des Münchner Cowboy-Clubs

(Münchner Beiträge zur Volkskunde 48), Münster 2022, Waxmann, 397 Seiten mit Abbildung, ISBN 978-3-8309-4540-6


Rezensiert von Stefanie Samida
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.09.2024

Die sogenannte Indianisten- und Cowboyszene ist von der deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Forschung, die sich mit Reenactments und Living History beschäftigt, bisher marginal behandelt worden. Mit der 2020 am Münchner Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie eingereichten und über 350 Textseiten starken Dissertation von Cindy Drexl liegt nun eine Arbeit vor, die sich der „Faszination Wilder Westen“ am Beispiel des 1913 gegründeten Münchner Cowboy-Clubs annimmt und diese spezielle Hobbyistenszene ethnografisch zu erkunden sucht. Damit betritt die Autorin hinsichtlich der Epoche im deutschsprachigen Raum zweifellos Neuland, stehen doch üblicherweise der Amerikanische Bürgerkrieg, das Mittelalter, die „Wikinger“ oder noch weiter zurückliegende Kulturgruppen und Epochen im Fokus der Reenactmentforschung; der „Wilde Westen“ war hingegen nur vereinzelt Gegenstand der Analyse (zuletzt Petra Tjitske Kalshoven: Crafting „the Indian“. Knowledge, Desire, and Play in Indianist Reenactment. New York, Oxford 2012). Ähnliches lässt sich auch hinsichtlich des methodischen Ansatzes feststellen – noch immer gibt es deutlich zu wenige empirische Studien in diesem Feld. Eine kulturanalytische Untersuchung mit einer akteurszentrierten Perspektive ist daher mehr als begrüßenswert.

Ins Zentrum ihrer Arbeit rückt Cindy Drexl die Frage, wie es den Protagonistinnen und Protagonisten des Cowboy-Clubs München 1913 e.V. (CCM) gelingt, „in die Vergangenheit einzutauchen und diese körperlich erfahrbar zu machen“ (18) und sie greift hierfür auf die Konzepte „Authentizität“ und „Liminalität“ zurück. Die Studie, die sich selbst auch als eine über Vereinskultur und das „Leben“ im Verein versteht (206), nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand in einem Methodenmix. Die Autorin war 2017/18 insgesamt 18 Monate im Feld und ist in den Kosmos Cowboy-Club ein- und abgetaucht sowie von dort auch wieder aufgetaucht. Ihren Zugang zum Feld und ihre „Verwandlung“ von Forscherin zu Hobbyistin – Drexl spricht von „radikaler Teilnahme und Selbsterfahrung“ (60) – beschreibt sie dicht und ausgesprochen eindrücklich (56–87). Neben der teilnehmenden Beobachtung hat sie elf leitfadengestützte Interviews mit 19 Personen im Alter zwischen 22 und 83 Jahre durchgeführt und darüber hinaus – der CCM ist ein eingetragener Verein und besitzt ein Vereinsarchiv – auch archivalisches Material hinzugezogen. Ihr stand somit ein reichhaltiges Daten- und Quellenmaterial zur Verfügung, das sie inhaltsanalytisch ausgewertet hat. Das Buch schließt mit einem dreißig Seiten langen Anhang bestehend aus einem Abbildungs- und Literaturverzeichnis, dem Verzeichnis der Archivquellen, einer Liste der Feldforschungsaufenthalte und Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sowie einem Einblick in die von der Autorin besuchten Orte und Museen während einer USA-Reise im Jahr 2017.

Es sei schon an dieser Stelle erwähnt, dass sich nach der Lektüre des Buches ein ambivalentes Gefühl einstellt. Das liegt auch daran, dass der Arbeit vor Drucklegung eine Überarbeitung gutgetan hätte – das gilt auf inhaltlicher, stilistischer und zum Teil auch sprachlicher Ebene. Inhaltlich wäre ein Mehr „to the point“ beziehungsweise eine stringentere Fokussierung wünschenswert gewesen. Das gilt beispielsweise für Kapitel 4 „Der Wilde Westen at home“, das einen Überblick darüber liefert, wie sich das Interesse am „Wilden Westen“ seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland ausgebildet hat. Mit über 60 Textseiten schießt es für meine Bedürfnisse jedoch deutlich über das Ziel hinaus – selbst für solche Leser und Leserinnen, die sich nicht mit der Thematik auskennen sollten. Inhaltlich ist das Kapitel durchaus nachvollziehbar, aber die Ausführlichkeit wird dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand nicht gerecht, zumal auf Vieles davon schlicht ein Verweis genügt hätte. An einer Stelle resümiert die Autorin, fast schon entwaffnend offen, dass das Nachzeichnen der Klischeebilder „keinen Referenzrahmen für die Hobbyistinnen und Hobbyisten darstellen“ (147) würde. Hier hätte also getrost gekürzt werden können. Stilistisch und sprachlich wiederum hätte der Arbeit eine gründliche Durchsicht sicherlich genützt, zum einen um Redundanzen zu vermeiden, aber auch hinsichtlich der wörtlichen Wiedergabe der Forschungsliteratur, die ab und an einer Aneinanderreihung ähnelt und besonders unschön ist, wenn beispielsweise zwei Zitate – jeweils ganze Sätze – direkt aufeinanderfolgen (100). Eine Paraphrasierung ist nicht nur hier zweifellos die deutlich elegantere Variante. Sprachlich stören wiederum der vielfach umgangssprachliche Ton, ungelenke Formulierungen und verschiedentliche Tippfehler.

Den Kern der Doktorarbeit bildet Kapitel 6 – überschrieben mit „Kosmos Cowboy-Club“ –, dem ein knappes Kapitel zur Geschichte des CCM vorgeschaltet ist, der mit seiner mittlerweile über 100-jährigen Geschichte als ältester noch bestehender deutscher Cowboy-Club gilt, und das den Leserinnen und Lesern wesentliche Informationen zum Verein liefert (Vorläufer, Vereinsstruktur sowie Hinweise auf den sozio-ökonomischen Hintergrund des Samples der Arbeit). Stark ist das Buch, wenn es die subtilen „Konflikte“ innerhalb des Vereins aufdeckt, etwa wenn es um die Nutzung des gemeinsamen Areals (192–212) geht und – natürlich – um die große Frage der Authentizität (212–266) und damit um Dogmatismus einerseits und Auflehnung andererseits; gemeint ist zum einen das Beharren der „Authentiker“ auf klaren Regeln und zum anderen das Untergraben eben dieser Regeln, wenn Vereinsmitglieder verschiedentlich ein anderes beziehungsweise breiteres Verständnis (auch in zeitlicher Hinsicht) vom amerikanischen Westen mit- oder einbringen. Überzeugend sind auch die sechs ausführlichen Porträts, die am Ende der Arbeit präsentiert werden (267–341). Hier werden nicht nur einzelne Clubmitglieder vorgestellt, sondern jeweils dicht am Material auch ihre Motivation und Rollenidentität herausgearbeitet und gezeigt, wie sich für die Akteurinnen und Akteure der Übergang vom Alltags-Ich zum Hobby-Ich gestaltet beziehungsweise wie sie ihn selbst gestalten und wie sie ihre Rolle verstehen. Es geht also um Übergangsrituale oder im Sinne Victor Turners um liminoide Akte.

Die Studie bestätigt und untermauert darüber hinaus vieles, das bereits für andere Living History-Szenen herausgearbeitet wurde. Hierzu zählt etwa die Gegenwartsflucht, die Suche nach dem „einfachen Leben“ und der Natur sowie ein gewisser Pragmatismus, schließlich möchte niemand (mehr) im 19. Jahrhundert leben. Das gilt für das Essen, die Herstellung von Kleidung und hygienische Standards gleichermaßen – auf die Vorzüge der Gegenwart wie den Metzger um die Ecke, die Nähmaschine sowie moderne Duschen und Toiletten möchten die Wild-West-Akteurinnen und ‑Akteure am Ende nicht verzichten. Letztlich wird also „niemals bis zu 100 Prozent Hobby gemacht“ (263) oder anders gesagt: Die innerhalb der Szene hochgehaltene Authentizität hat dann eben doch ihre Grenzen und das ist den Protagonistinnen und Protagonisten durchaus bewusst.

Was bleibt? Insgesamt wäre eine intensivere Diskussion der eigenen Ergebnisse vor dem Hintergrund zahlreicher anderer Arbeiten zum Thema „Living History“/„Reenactment“ wünschenswert gewesen. Gerade das Einordnen und Sich-Verorten fehlt: Wo liegen Überschneidungen oder Ähnlichkeiten zu anderen Epochen? Wie zeigen sie sich? Womit lassen sie sich erklären? Cindy Drexl verpasst es, ihre Ergebnisse in einen größeren Rahmen einzuhängen, denn ganz so neu sind einige der Erkenntnisse eben nicht, auch wenn sie erstmals und unbestritten reichhaltig empirisch unterfüttert sind. Hinzukommt, dass viele Stränge in der Arbeit mitlaufen und man sich als Leserin bisweilen fragt: Ist das nun eine Arbeit über eine spezielle Vereinskultur, eine zum Thema „Living History“ oder geht es doch mehr um Hobbytum? Interessierte an allen drei Feldern oder einem der drei Gebiete werden auf alle Fälle in der vorliegenden Studie fündig werden – man hätte sich allerdings eine klarere Fokussierung gewünscht.