Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Nelly Valsangiacomo/Jon Mathieu (Hg.)

Sinneslandschaften der Alpen. Fühlen, Schmecken, Riechen, Hören, Sehen

Wien/Köln 2022, Böhlau, 140 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-205-21632-2


Rezensiert von Daniela Sandner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.09.2024

In sechs Beiträgen erkunden die Autorinnen und die Autoren des vorliegenden Sammelbandes die Alpen sensorisch. Claude Reichler, Nelly Valsangiacomo und Bernhard Tschofen nähern sich von der Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaft her, Isabelle Raboud-Schüle und Beat Gugger auch von musealer Seite.

Die Herausgebenden, Jon Mathieu und Valsangiacomo, leiten in das Thema ein: die sinnliche Wahrnehmung einer Landschaft, der Alpen. Sie erkennen ein zunehmendes Interesse an sinnlichen Wahrnehmungen in Wissenschaft und Gesellschaft im deutschen Sprachraum, etwa ab den 1980er Jahren, vermehrt aber ab 2000 (7). Einheimische vermaßen die Alpen seit jeher sinnlich, erst die Reisenden aber schrieben exzessiv darüber, wobei die sinnlichen Beschreibungen des Zürcher Gelehrten Conrad Gessner im 16. Jahrhundert vermutlich den Anfangspunkt bildeten. In der europäischen Aufklärung, so die Theorie, habe schließlich der Sehsinn über die anderen Sinne triumphiert (13).

Claude Reichlers Beitrag zu „Fühlen und Tasten“ vertieft die immaterielle Dimension der Landschaft. Hierbei spielen bildende Kunst, Literatur, insbesondere Gedichte, und auch Kurpraktiken des 19. Jahrhunderts eine tragende Rolle. Die ästhetische Dimension der Landschaft werde dabei von einer Vielzahl an Sinnen bestimmt, sie sei polysensorisch, so Reichler. Die Kur galt im 19. Jahrhundert als Heilmittel, die Berge erfuhren eine landschaftliche Aufwertung bei alpinen Kuraufenthalten. Naturmedizin und Reformbewegungen mit Sonnen- und Luftbädern, Spaziergängen und Hydrotherapien sollten die modernen Menschen und ihre (bürgerlichen) Leiber gesunden und befreien.

Isabelle Raboud-Schüles Studie über den Geschmack der Alpen und das „Schmecken“ führt die Lesenden durch die kulinarischen Eigenheiten alpiner Regionen. Die Entwicklung der Regionalküchen und die Auseinandersetzung mit dem kulinarischen Erbe bieten Einblicke in die Veränderungen der alpinen Esskulturen insbesondere der letzten einhundert Jahre. Die kulinarische Vielfalt ist dabei geprägt von sauren und bitteren Noten, zum Beispiel bei Käse- und Wurstwaren, Sauerkraut, Roggenbrot, Weinen, Likören und Spirituosen (48). Die Produktpalette vermittelt nicht nur einen Einblick in die gastronomische (und touristische) Welt der Alpen, sondern auch in regionale, kulturelle Identitäten.

Beat Guggers olfaktorische Umschau „Alpendüfte“ rekurriert auf die Ausstellung „Alpendüfte – eine Ausstellung für die Nase“ im Forum der Schweizer Geschichte in Schwyz (2003), die später unter dem Titel „Mit der Nase in die Berge. Alpine Duftgeschichte(n)“ im Alpinen Museum in München und im Wintersportmuseum in der Steiermark gezeigt wurde. Die olfaktorische Alpenwanderung führt durch eine spezielle Topografie und einzigartige Landschaft mit intensiven Düften stark riechender Kräuter (68). Im 19. Jahrhundert wurde die „würzige Bergluft“ zu einer der wichtigsten Grundlagen des aufkommenden Kurtourismus (70). Die Bedeutung der Alpenluft als Heilmittel und spätere Umweltverschmutzungen verdeutlichen die Veränderungen in der Wahrnehmung und Bewertung von Düften.

Nelly Valsangiacomos Beitrag zu den „Klangregimes der Alpen“ lenkt die Aufmerksamkeit auf die akustische Seite der Sinneslandschaft. Naturklänge, Bergmusik aber auch Tier- und Arbeitsgeräusche sowie ihre sich wandelnden Bedeutungen bieten einen grundlegenden Zugang zu alpinen Klangwelten und deren politischen Vereinnahmungen. Auch die modernen Lärmentwicklungen, die Geräuschkulissen der Touristengebiete (96) und der in den 1970er Jahren einsetzende (auch akustische) Schutz der Alpenlandschaften finden Erwähnung.

Abschließend analysiert Bernhard Tschofen in „Die Alpen sehen“ die Entwicklung eines alpinen Blickregimes unter anderem anhand von Faltpanoramen als alpinen Souvenirs und von Bergfilmen. Sein kursorischer Überblick erstreckt sich von der panoramatischen Naturwahrnehmung des 17. Jahrhunderts bis hin zu deren massenmedialer Durchdringung im 20. Jahrhundert.

Insgesamt bietet der Sammelband „Sinneslandschaften der Alpen“ erste Ansätze für eine sinnliche Erforschung der Alpen. Die interdisziplinäre Herangehensweise und die Bandbreite der Beiträge ermöglichen eine tiefergehende Reflexion über die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und vermittelten und erlernten Regimen. Gelegentliche Redundanzen, insbesondere die vielzähligen Verweise auf Conrad Gessner (9–11, 22, 72, 85–86), ebenso auf Johann Jakob Scheuchzer, fallen bei der Lektüre auf, sind aber nicht unbedingt störend.

Der Sammelband eröffnet neue Perspektiven für ein junges Forschungsfeld. Eine sinnliche Kulturgeschichte der Alpen befindet sich noch im experimentellen Stadium (9), schreiben auch die beiden Herausgebenden. Insofern lässt sich hoffen, dass sich in den kommenden Jahren und in der intensiveren Auseinandersetzung mit der Sinnesgeschichte auch eigenständige Methodiken und Begrifflichkeiten entwickeln. So verweist Beat Gugger in seinem Beitrag beispielhaft darauf, dass wir keine differenzierte Sprache haben, um Düfte und Gerüche zu beschreiben (65).