Aktuelle Rezensionen
Florian Amort/Thomas Herbst (Hg.)
Das Bayerische Staatsorchester. 500 Jahre gelebte Tradition
Kassel 2023, Bärenreiter, 287 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Gottfried Heinz-Kronberger
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 18.09.2024
Ein Band wie ein Kaleidoskop in historisch-musikalischem Licht – das opulente Werk zum Jubiläum des Bayerischen Staatsorchesters enthält einen Überblick über dessen Entwicklung von der Hofkapelle zum modernen Orchester, wobei der Leser den Protagonisten des Ensembles begegnet und auf einen Rundgang durch die Musikgeschichte mitgenommen wird. Während in den Anfängen Sänger und Komponisten im Vordergrund standen, sind es heute die Dirigenten und Instrumentalisten. Gleich geblieben ist jedoch das Engagement der Wittelsbacher, unter deren lange Zeit unmittelbaren, aber auch heute noch fördernden Obhut das Ensemble stand und steht, weshalb der Jubiläumsband nur folgerichtig mit dem Grußwort S.K.H. Herzog Franz von Bayern beginnt. In den nachfolgenden Grußworten lobt der Staatsintendant Serge Dorny die „Wurzeln und Flügel“ des Ensembles für die Zukunft, und für den Orchesterrat schlägt Andreas Riepl einen sehr schönen Bogen von den frühen Förderern über die demokratische Struktur des Orchesters hin zum Publikum und der die Seele stärkenden Kraft der Musik. Auch wenn der Herausgeber in seinem Vorwort anmerkt, dass 2023 ein gewähltes Jubiläumsjahr ist, das nicht auf ein eindeutiges Gründungsdatum des Ensembles zurückzuführen ist, erscheint die Begründung für die Festlegung auf 1523 durchaus plausibel: In diesem Jahr erfolgte die Anstellung des Hofkomponisten Ludwig Senfl in der Hofkapelle.
Die Herausgeber – Florian Amort unter Mitarbeit des Orchestermitglieds Thomas Herbst – teilen den Band in sechs übergeordnete Kapitel ein. Im ersten wird der Werdegang noch vor dem gewählten Gründungsjahr bis zum Orchester im Zeitalter des Nationalsozialismus zunächst chronologisch unter dem Überbegriff "Wendepunkte der Orchestergeschichte" betrachtet. Sechs Artikel beleuchten die immer wieder durch politische Einflussnahme geprägte Entwicklung, die hier nur in Schlaglichtern nachgezeichnet werden kann: Von der Sängerkapelle zunächst mit Instrumentalbegleitung, dann für Musik bei der Tafel und später als Herrschaftssymbol bei politischen Anlässen sowie Hochzeiten hin zum frühen Orchester, in das später die legendäre „Mannheimer Hofkapelle“ integriert wurde, und das schließlich, maßgeblich unter Wagnerʼschen Einflüssen, zum Opernorchester par excellence wird. Auch der Status der Ensemblemitglieder änderte sich: Die einstigen Hofkapellmusiker wurden 1919 schließlich in den Stand des Beamten gehoben und zu Staatsmusikern. Die NS-Zeit wird als schwierig beschrieben, auch wenn man in München mit den NS-Machthabern immer in guten Beziehungen stand, die es erlaubten, Forderungen zu stellen, ohne bedingungslose Unterwürfigkeit zu zeigen. So lehnte Clemens Kraus 1944 einen neuen Vertrag als Generalmusikdirektor ab, weil wehrfähige Musiker aus dem Orchester abgezogen werden sollten. Das zweite Kapitel mit dem Titel „Prägende Dirigenten des 20. und 21. Jahrhunderts“ widmet sich in acht Artikeln jeweils einem Dirigenten, teils in Interviewform wie bei Zubin Mehta und Kent Nagano, teils als Portrait wie bei Felix Mottl, Bruno Walter, Hans Knappertsbusch, Joseph Keilberth, Wolfgang Sawallisch (der einzige originäre Münchner) und last, but not least Kirill Petrenko. Dass der in dem vorangegangenen historisch ausgerichteten Kapitel bereits genannte Clemens Krauss keinen eigenen Artikel erhält, ist verständlich. Warum aber Georg Solti, Rudolf Kempe und Ferenc Fricsay kein Portrait gewidmet ist, ist nicht erklärt. Hingegen wird der – zugegebenermaßen langjährige – Gastdirigent Carlos Kleiber en detail behandelt. Dennoch – die vorhandenen Portraits liefern einen imposanten Einblick in die Probenarbeit und die Persönlichkeiten der Generalmusikdirektoren, die immer wieder an den „Hausgöttern“ Wolfgang Amadeus Mozart, Richard Wagner und Richard Strauss einen Klang etablieren, der dem Bayerischen Staatsorchester Weltruhm verleiht.
In den zunächst historisch ausgerichteten Kapiteln "Auf der Suche nach den Besten" und "Arbeitskosmos Staatsorchester" befassen sich die Autoren in chronologischer Reihenfolge mit den herausragenden Musikerpersönlichkeiten von den Zeiten der Hofkapelle bis zu den Solisten des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus werden der Orchesteralltag und die Anwerbung bzw. Auswahl des Nachwuchses von familiären Musikerdynastien bis hin zur heutigen „Hermann-Levi-Akademie“ dargestellt. Die größte Schwierigkeit für den Nachwuchs ist dabei die immense Repertoirekenntnis des Orchesters, die ungleich höhere Forderungen an den individuellen Musiker stellt, als er in seiner Ausbildung lernen kann.
Im Kapitel „Auftrittsorte und Musizierformen“ geht es um die Spielstätten, die sinnbildlich aufzeigen, wie sich die Funktion des Ensembles nach und nach vom liturgischen Begleiter zum Musiker im gesellschaftlich anerkannten Umfeld gewandelt hat. Der Blick auf die technischen Neuerungen, die besonders mit dem Neubau des Nationaltheaters einhergingen, zeugt davon, dass Spielstätten auch für Menschen, nämlich für das Publikum konzipiert sind. Hervorgehoben und auch andernorts in dem Band immer wieder erwähnt ist die Gründung der „Musikalischen Akademie“, die 1811 aus den eigenen Reihen des Orchesters erfolgte, als erste öffentliche Konzertgesellschaft. Mit Unterbrechungen sind Konzerte auch heute noch wesentliches zweites konzertantes Standbein des Bayerischen Staatsorchesters.
Im letzten Kapitel „Mit Tradition in die Zukunft“ ist ein Interview mit dem aktuellen Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski abgedruckt, der die Tradition in der „DNA eines Kollektivs“ gespeichert sieht und gemeinsam mit dem Orchester nach dem Klang der jeweiligen Komposition sucht. Auch er hebt hervor, dass die „Musikalische Akademie“ den Musikerinnen und Musikern des Bayerischen Staatsorchesters „gehört“. Und er schlägt den Bogen zum Anfang des Bandes, indem er sagt, „die Kunstförderung der Wittelsbacher hat über Jahrhunderte tiefe Spuren hinterlassen, die bis heute segensreich wirken“. Im abschließenden Artikel zur „Traditionspflege und Öffnung“ wird neben der angestiegenen Zahl der Musiker – 20 im Jahr 1523 versus 144 im Jahr 2023 – betont, dass Musikerinnen und Musiker auch eine kulturelle, soziale und wirtschaftliche Bereicherung einer Stadt sind, indem sie u.a. Instrumentenbauer anziehen. Eine Aufzählung von Uraufführungen, Dirigenten und wichtigen Solisten mündet ins 21. Jahrhundert.
Dass das Bayerische Staatsorchester 2022 zum achten Mal in Folge zum „Orchester des Jahres“ gekürt wurde und mit seinem im Band mehrfach erwähnten „dunklen, warmen Klang“ in der Nachwuchsausbildung neben der Hermann-Levi-Akademie auch das Jugendensemble ATTACCA unterhält, gehört ebenso zur „DNA des Bayerischen Staatsorchesters“.
Ein Anhang mit Anmerkungen, Hinweisen auf Ton- und Videoaufnahmen sowie einem Abbildungsverzeichnis runden diesen lesenswerten, umfang- und facettenreichen Band ab.
Insgesamt lässt sich sagen, dass zahlreiche Beiträge versuchen, den zeitlichen Umfang des halben Jahrtausends zu umfassen, was mitunter schwierig ist, weil manche Zeitsprünge notwendig sind, um zum eigentlichen Anliegen des Artikels zu kommen. Dieser Nachteil entpuppt sich aber als Vorteil in dem Sinne, als dass man eigentlich alle historischen Artikel auch unabhängig voneinander lesen und so unabhängig von der Reihenfolge seinem Lesegenuss frönen kann.
Die vielfältigen, teilweise einzigartigen Abbildungen bereichern den Band. Der einzige kleine Wermutstropfen ist, dass es etwas Mühe bereitet, die Nachweise zu finden, da diese im Verzeichnis der alphabetisch aufgeführten Institutionen numerisch angegeben sind. Zudem wäre interessant gewesen, wo und wann die Interviews mit Zubin Mehta, Kent Nagano und Vladimir Jurowski geführt wurden.
Im Ganzen ist der Band in jedem seiner Artikel ausgewählter gewissenhafter Autoren faszinierend zu lesen und schafft Einblicke in Historie und Gegenwart des Bayerischen Staatsorchesters, samt seinen Protagonisten am Pult. In seiner Vielfältigkeit der Beiträge wirkt der Band wie ein Kaleidoskop, das in vielen Brechungen und Facetten die Faszination des Orchesters über die Jahrhunderte beschreibt und historische, institutionelle, persönliche sowie ensemblespezifische Aspekte aufzeigt.