Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Peter Hinrichs

„Dancers to a Discordant System“. Kreativität und Praxis in der Metal- und Hardcore-Szene

(Praxis und Kultur 7), Göttingen 2022, Cuvillier, 604 Seiten, ISBN 978-3-7369-7605-4


Rezensiert von Maximilian Schulz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.09.2024

Der in den 1960er Jahren entstandene Heavy Metal sowie der in den 1970er Jahren entstandene Hardcore Punk prägen bis heute diverse Musik- und Populärkulturen. Von internationalen Musikfestivals über prägnante Band-T-Shirts und ikonische Album-Cover macht die Szene mit ihrer Kreativität von sich reden. Die Wirtschaft hat die ökonomische Bedeutung der Ressource Kreativität bereits erkannt, und die Auseinandersetzung in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung verweist auf ein Forschungsfeld mit viel Potential. Bereits 2012 prägte Andreas Reckwitz mit seinem Buch „Die Erfindung der Kreativität“ den Begriff des Kreativitätsdispositivs und setzte sich kritisch mit dem Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung auseinander.

In diesen Kontext gehört die hier zu besprechende Monografie des Kieler Kulturanthropologen Peter Hinrichs. Hinrichsʼ Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie sich kreative Potentiale in der Metal- und Hardcore-Szene verstehen lassen und welche Rolle kreative Kräfte bei der Transformation von Metal und Hardcore spielen. Der Metal-Szene wurde das erste Mal 1998 eine kulturwissenschaftliche Arbeit gewidmet, Bettina Roccors Monografie „Heavy Metal – Kunst, Kommerz, Ketzerei“. Neben vereinzelten Publikationen in der Kulturwissenschaft erschienen zum Thema Metal auch weitere Monografien und Sammelbände in der Soziologie und Musikwissenschaft. Seit 2015 publiziert das interdisziplinäre Magazin „Metal Music Studies Journal“ regelmäßig Beiträge zum Forschungsfeld. Mit ersten Veröffentlichungen in den 2000er Jahren ist der Hardcore Punk vor allem Forschungsgegenstand in Cultural Studies und Soziologie. Hinrichs bringt mit seinem Werk nun eine neue Perspektive in die Fachdiskurse der Erforschung dieser Szene.

Der Forschungsansatz von Hinrichs ist praxeologisch und bindet außerdem Diskursanalysen ein. Die vorgestellten Praxiskonzepte orientieren sich unter anderem an den Arbeiten des Kulturwissenschaftlers Lawrence Grossberg sowie des Soziologen Thomas Alkemeyer. Das Forschungsdesign ist abduktiv angelegt und bezieht sich in erster Linie auf die Arbeiten des Soziologen Jo Reichertz. Angelehnt an die Reichertzsche Theorie wird zuerst eine erklärende Hypothese gebildet, aus der im nächsten Schritt deduktive Vorhersagen entwickelt werden. Der empirische Teil dient schließlich der Deduktion und soll die aufgestellten Vorhersagen der Arbeit verifizieren. Methodisch stützt sich Hinrichs wesentlich auf umfangreiche Feldforschungen, vor allem Interviews mit Musikerinnen und Musikern, Veranstalterinnen und Veranstaltern und Publizistinnen und Publizisten aus der Szene im Kreis Hamburg und in Schleswig-Holstein sowie autoethnografische Beobachtungen, die ihm seine eigene Zugehörigkeit zur Hardcore- und Metal-Szene ermöglicht haben. Hinzu kommen qualitative Inhaltsanalysen von 152 Albumrezensionen aus zwei szenerelevanten Musikzeitschriften.

Die Studie besteht insgesamt aus drei Teilen. Gleich zu Beginn reflektiert Hinrichs den Szenebegriff und grenzt ihn auch gegen andere Konzepte wie das der Teilkulturen ab. Der theoretische erste Teil der Arbeit schließt mit einem eigenen Kapitel zum Begriff der Kreativität. Hier setzt sich Hinrichs mit dem geisteswissenschaftlichen Diskurs des Kreativität-Konzepts auseinander und nähert sich diesem unter anderem durch die historische Entwicklung und die Untersuchung des Genie-Begriffs. Wesentlich ist ihm die Schnittstelle von Kreativität und soziokulturellem Umfeld, die Kreativität in der Praxis.

Der empirische Hauptteil der Arbeit beginnt mit der Analyse der Albumrezensionen mit dem Fokus auf Codes, die Hinweise auf die Wertungsregime in der Metal- und Hardcore-Szene geben sollen. Hieraus leitet Hinrichs drei Wissenskonzepte ab, die grundlegende Relevanz für die Definition von Kreativität innerhalb der Szene aufweisen: Stil/Genre, Zeitindex/Historizität und Idealität/Authentisierung. Diesen Konzepten sind drei Unterkapitel gewidmet, denen Reflexionen zu wiederkehrenden Motiven der Rezensionen, wie beispielsweise szenisch-kreative Praxis, angeschlossen werden. Die bereits in den Rezensionen analysierten Muster werden in den Interviews weiter untersucht und tragen mit neu ermittelten Sinnstrukturen zur Festigung der Wertungsregime bei. Relevante Begrifflichkeiten, die mit den Interviewten besprochen werden, sind unter anderem der Szene-Begriff, die Beziehung zum Mainstream und die Frage nach der Bedeutung von Kreativität und Authentizität. Am Schluss des empirischen Teils wird die Forschung durch Autoethnografie und teilnehmende Beobachtung komplettiert. Die subjektiven Konzerterfahrungen des Autors sollen hier ergänzend neue Blickwinkel auf die Szene liefern.

In seinem Fazit verortet Hinrichs das kreative Potential von Hardcore und Metal in der Spannung zwischen Szene und Mainstream. Der Spielraum, der hier zwischen Regelkonformität und Regelbruch entstehen kann, wird von bestimmten Wertbeziehungen der Szene reguliert, die sich in stetigen Aushandlungsprozessen befinden. So können Szene-Werte sowohl kreativitätsfördernd für Individuen in der Szene sein, gleichzeitig aber auch Grenzen aufzeigen, die den Rahmen des Möglichen einschränken. Am Ende konstituieren die persönlichen Erfahrungen in der Szene die Erwartungen an dieselbige und bestimmen damit, wie sich die Szene weiterentwickelt.

Beim Lesen des mehr als 600-seitigen Buches erkennt man die Leidenschaft, die der Autor dem Forschungsfeld entgegenbringt. Ein kritischerer Blick auf die Szene wäre an manchen Stellen allerdings wünschenswert. So reflektiert der Autor die geschlechterbezogene Codierung der Szene nicht, stellt auch keine Fragen zur Relevanz von Männlichkeit als einem ihrer Konstitutionsprinzipien. Zwar wird der der Szene häufig vorgeworfene Sexismus vom Autor immer wieder zur Sprache gebracht, doch wird die eigene Forschungspraxis der Arbeit mit überwiegend von Männern verfassten Statements nicht reflektiert. Wenn jedoch über eine Szene diskutiert wird, in der ästhetisierte Härte, Aggressivität und damit im weitesten Sinne herkömmliche Männlichkeit als Merkmale von Authentizität verstanden werden, stellt sich die Frage, inwiefern diese Ideale auch die Konzepte von Kreativität beeinflussen. Immerhin erkennt der Autor an, dass das Thema Gender sich für weitere Forschungen in der Szene anbietet. Insgesamt gelingt es Peter Hinrichs, einen spannenden Einblick in die kreativen Potentiale der Metal- und Hardcore-Szene zu ermöglichen.