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Maria Anna Willer

Nationalsozialismus auf dem Dorf. Über lokale NS-Herrschaft und ihre spätere Verdrängung

(Histoire 214), Bielefeld 2024, transcript, 361 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-7034-9


Rezensiert von Dirk Thomaschke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.09.2024

Das Buch handelt von Aschau im Chiemgau. Die Autorin hat selbst 25 Jahre in der Gemeinde gelebt und über viele Jahre an der Ortschronik der Gemeinde mitgearbeitet. Aus dieser Zeit (2000 bis 2017) stammen die Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die einen wichtigen Quellenfundus der zu rezensierenden Studie bilden. Das Gleiche gilt für die Kenntnisse der Autorin über den zweiten, noch wichtigeren Quellenbestand: das Gemeindearchiv aus der Zeit des Nationalsozialismus. Eher zufällig über das Kriegsende hinaus erhalten, dann jahrzehntelang in Vergessenheit geraten, Mitte der 1990er-Jahre „wiederentdeckt“ und weitere zwei Jahrzehnte mehr oder weniger geheim gehalten, hat die Autorin diese Dokumente durch ihre Veröffentlichung nun erstmals einem weiteren Kreis zugänglich gemacht.

Handelt es sich also im Wesentlichen um die erweiterte Fassung einer bereits erschienenen Dorfchronik? Die Antwort ist ein entschiedenes Nein. Denn mit der offiziellen Anmeldung ihrer auf die Opfer des Nationalsozialismus fokussierten Studie als wissenschaftliche Dissertation im Jahr 2014 überschritt die Autorin mehr als nur die Schwelle zum Institut für Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie überschritt zugleich eine unsichtbare Schwelle zwischen der von historischen Laien und Anwohnerinnen und Anwohnern dominierten Ortschronistik zur akademischen Wissenschaft. Dieser Übergang schlug sich in vielerlei Differenzen nieder, beispielsweise der Neugewichtung der Quellenhierarchie: Die eigene Analyse der Archivunterlagen, ergänzt um überregionale Bestände wie Spruchkammerakten, Endschädigungsakten und Erbgesundheitsgerichtsakten, rangierte nun vor den Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und nicht umgekehrt. Zugleich unterlag der vormals offene Zugang der Autorin zu den lokalen Archivalien nunmehr neuen Restriktionen und die Autorin anonymisierte einen Großteil ihrer Fallstudien. Darüber hinaus veränderte sich das Verhältnis von Nähe und Distanz zu ihrem Untersuchungsgegenstand maßgeblich. Die wissenschaftliche Distanz erforderte letztlich auch die geografische, denn das Changieren zwischen den beiden Welten ging nur eine Zeit lang gut. Die Autorin berichtet von einer Reihe anonymer Briefsendungen, die sie zu einer (letztlich ergebnislosen) Anzeige wegen Volksverhetzung und dem Umzug aus Aschau im Jahr 2017 veranlassten.

Inhaltlich geht die Arbeit von einer zweigeteilten Fragestellung aus. Mit der ersten Frage sucht Maria Anna Willer den Anschluss an die allgemeine Forschungsliteratur zu Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus und bedient das Desiderat einer (mikrogeschichtlichen) Lokalisierung dieser Forschungen. Die zweite Frage konfrontiert ihre Ergebnisse mit der lokalen Erinnerungskultur. Dabei ließ die rasche und weitgehende Verdrängung der Verbrechen nach 1945 viel Raum für Leerstellen, die schließlich mit Um- und Neuerzählungen der Vergangenheit gefüllt werden konnten; ein Prozess der nicht selten zu der hinlänglich bekannten „doppelten Ausgrenzung“ der Opfer führte.

Im Blick auf die zweite Fragestellung führten Willers Quellenstudien zwangsläufig auch zur Widerlegung eines der zentralen Topoi ihrer vormaligen Dorfchronik-Arbeit: dem Dorf als abgeschiedenem Schutzraum vor Verfolgung. Tatsächlich muss diese erinnerungskulturelle Konstruktion deutlich ambivalenter gefasst werden. Zwar gab es Prozesse der „Solidarität“ und „Hilfeleistung“ für einzelne Opfer, doch in begrenztem Umfang und in aller Regel nur durch lokale Funktionsträger, die sich dabei zudem weiterhin innerhalb des engen Rahmens der NS-Ideologie bewegen mussten. Hier von Widerstand oder Systemopposition (oder auch systematischer Opposition) zu sprechen, wäre zu viel. Demgegenüber verwendet die Autorin 200 Seiten an beklemmenden, akribisch recherchierten Fallstudien dazu zu zeigen, dass Personen aus einem sehr breiten Spektrum an NS-Opfergruppen in Aschau diskriminiert und verfolgt worden sind – von „Juden“ und „Zigeunern“ über „politisch Unzuverlässige“ und Katholiken bis zu Opfern von Euthanasie und eugenischen Maßnahmen und als „Asoziale“, „Arbeitsscheue“ oder „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslager deportierte Menschen. Für diese Opfer habe sich die räumliche Nähe einer vermeintlich abgeschiedenen „Face-to-face-Gesellschaft“ vielfach negativ ausgewirkt.

Zumal der Überwachungsstaat auch dann vor Ort „präsent“ war, wenn er sich nicht konkret greifen ließ. Willer verwendet in diesem Zusammenhang wiederholt Michel Foucaults Metapher des „Panoptikons“, um die Wirkmechanismen der „Disziplinarmacht“ im NS-Staat zu fassen. Die detaillierte Rekonstruktion der Gleichschaltung der alten und der Errichtung neuer Verwaltungsstrukturen, die die Autorin in einem gesonderten Abschnitt behandelt, sind hierbei nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite war dieses System (in Anlehnung an Foucault) auf die Selbstdisziplinierung und Initiative der Bevölkerung angewiesen. Die Autorin kann mittels dieses Theorems an vielen Stellen die allgegenwärtigen Machtstrukturen des NS-Staats sichtbar machen, ohne dass diese sich zwangsläufig in bewussten Bekenntnissen oder Diskriminierungsabsichten äußern mussten.

Eine andere Frage ist hingegen, ob es unbedingt erforderlich gewesen wäre, die aus der Ethnografie stammende Grounded Theory zur methodologischen Fundierung der Arbeit zu bemühen. Die Autorin verweist vor allem dann auf die Grounded Theory, wenn sie verschiedene Quellensorten zusammenbringt, unterschiedliche Teilbausteine größerer Theorien und Erklärungsmodelle kombiniert oder sich weitere (nachvollziehbare) Freiheiten nimmt. In diesem Sinne beschreibt der Begriff Grounded Theory jedoch wenig mehr als den für geschichtswissenschaftliche Studien meist ohnehin üblichen Eklektizismus beziehungsweise Pragmatismus. Was der Arbeit hingegen gut zu Gesicht steht – und worin sich Ethnografie und Geschichtswissenschaft in der Praxis deutlich unterscheiden – ist die ausführliche, selbstreflexive und biografisch angereicherte Besprechung des Arbeitsverlaufs sowohl im Hinblick auf die „Feldforschung“ als auch deren theoretische Reflexion. Die geschichtswissenschaftliche Fachkultur, so zumindest der Eindruck des Rezensenten, fördert es eher nicht, sich offen zum eigenen Forschungsverlauf zu äußern, der meist viel mehr von Kehrtwenden und Zufällen sowie Ziel- und Planlosigkeit gekennzeichnet ist, als die „Ergebnisse“ suggerieren.

Ein Manko hat das Buch unterm Strich allerdings. Es ist streckenweise zu umfangreich geraten, vor allem in Einleitungs- und Schlussteil. Hier finden sich viele ermüdende Wiederholungen und sogar wortgleiche (Zitat-)Repetitionen. Nicht zuletzt dadurch wirkt die Argumentationsstruktur in diesen Passagen etwas konfus und wird der Lesefluss erheblich gestört. Es wäre schade, wenn dies einige Leserinnen und Leser abschrecken würde, denn es handelt sich – das zeigt die schwierige Entstehungsgeschichte überdeutlich – um ein sehr wichtiges, sehr aktuelles Buch.