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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Anna Danilina

Ethiken der Essenz. Eine Emotions- und Körpergeschichte der Rasse in inneren Kolonien (1890–1933)

(Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart Bd. 7), Göttingen 2023, : Wallstein, 444 Seiten mit  Abbildungen, ISBN 978-3-8353-5167-7


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.09.2024

Anna Danilina studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Religionswissenschaft und hat ihre Dissertation im Fach Geschichte bei der Historikerin Stefanie Schüler-Springorum an der Technischen Universität Berlin verfasst. Darin untersucht sie, wie Rasse als jeweils unterschiedlich konstruierte, ausgelegte und angewandte Kategorie zu einem Identitätselement verschiedenster – vor allem völkisch orientierter – Gruppen führte, die in lebensreformerischen und „alternativen“, aber auch zionistischen und liberalen Gemeinschaftssiedlungen im Sinne einer „inneren Kolonie“ in der Weimarer Republik zusammenlebten. Es geht also nicht nur beziehungsweise nur zu einem Teil um Ideologien und theoretische Denkmuster, sondern auch und vor allem um die individuelle Gefühlswelt der siedelnden Personen, um ihre Körperlichkeit und ihre Praxis („Selbstsorge“) und um die Frage, wie und mit welchen Elementen in den Siedlungen Rasse „gemacht“ und jeweils persönlich übersetzt und angenommen wird (15–17). Dabei steht die Überlegung im Zentrum, inwieweit selbst als lebensreformerisch definierte körperliche Verfahren – im weitesten Sinne – für die Konstruktion jener Rassepraktiken konstitutiv waren: Vegetarismus, Meditation, (Frei-)Körperkultur, Rhythmische Gymnastik, Ausdruckstanz und die – nur von sehr wenigen Personen praktizierte – völkische Runengymnastik. Dieser Forschungsansatz schließt ebenso Fragestellungen der Kolonialismusforschung mit ein als auch Theorien von „critical whiteness“ und „critical race“.

Statt einer konventionellen Einleitung in das Thema, die auch Forschungsstand, Archive und Quellen referiert, wählt die Autorin eine Art Überlieferungsansatz, in dem sie danach fragt, wie und ich welcher Form die Überlieferung von Quellen in entsprechenden Archiven über ihre Subjektivität beziehungsweise über die gemachten Regeln der Aufbewahrung selbst vorgeformt ist und den Blick auf historische Zeugnisse damit von vornherein lenkt und steuert. Gleichzeitig sind auch wir entsprechenden subjektiven Einflüssen und Haltungen unterworfen; gerade auch im Hinblick auf ein Thema wie Rassismus (17, 380, 395–397). Dass alle Forschung subjektiv ist und unter anderem abhängig von der Überlieferungssituation, vom jeweiligen Zeitgeist, von der eigenen Befindlichkeit und der eigenen Herkunft und sozialen Prägung ist natürlich nichts Neues, sondern wurde und wird vielfach thematisiert und sollte ohnehin als Standardwissen stets im Hintergrund wissenschaftlicher Analysen Berücksichtigung finden.

Im ersten Teil befasst sich Anna Danilina mit der „inneren Kolonisation“ der Siedlungsgruppen und ihren theoretischen Voraussetzungen: Schriften, Entwürfe, Reformen und diejenigen Utopien, die völkische Aspekte beinhalten, um anschließend einige Siedlungen selbst und ihre Praktiken zu analysieren. Ausgewählt wurden von der Autorin als „völkisch“ eingestufte, allerdings ganz verschiedene Projekte wie Hellerau, Eden, Heimland und der Vogelhof. Kontrastiert beziehungsweise verglichen werden diese Siedlungen mit einer Bestandsaufnahme der zionistischen Siedlungsbewegung und ihrer Protagonisten. Bemerkenswerterweise werden dabei Personen wie der anarchopazifistische jüdische Schriftsteller Gustav Landauer, der 1919 an der bayerischen Räterepublik beteiligt war und von völkischen Freikorps ermordet wurde, als völkisch bezeichnet (128); auch einzelne zionistische Siedlungen in Israel werden als rassistisch und kolonial eingestuft (218). Im zweiten Teil befasst sich die Autorin mit den Handlungen, Gefühlswelten und Körperpraktiken völkischer beziehungsweise als völkisch eingestufter Gruppen. Zunächst werden neureligiöse Konzepte wie Theosophie und Mazdaznan – religiöse Zeremonien, spirituelle Jenseitsvorstellungen, Ernährung, Ethik – auf „arteigene“ Praktiken, zu denen auch arische Rassevorstellungen gehören, untersucht. Anschließend analysiert Anna Danilina neben völkischen Aspekten des Ausdruckstanzes die nur von wenigen Personen und auch damals selbst schon in der völkischen Bewegung als außenseiterisch wahrgenommene Runengymnastik, deren Körperpraxis sämtliche völkische und neureligiöse Aspekte von „Aufrassung“ bis zur „Erberinnerung“ beinhaltete; sie wird von einzelnen Gruppen übrigens bis heute praktiziert und als eine Art westlicher Runenyoga aufgefasst. Ausdruckstanz und Runengymnastik wurden in den von der Autorin analysierten Siedlungen allerdings nur sehr selten bis gar nicht praktiziert; in Hellerau befasste man sich vor allem mit Rhythmischer Gymnastik, in anderen Siedlungen wurde eine Vielfalt von Körperübungen praktiziert, vom klassischen Sport und traditionellen Turnen über Freikörperkultur bis hin zu Gymnastik, Yogasurrogaten oder auch als Leibesübung aufgefasste Gartenarbeit. Sport, Turnen und Körperkultur, so wird jedoch suggeriert, weisen über ihr Konzept einer „ganzheitlichen Erziehung des Menschen“ (334) – was auf die Idee des Sports nicht zutrifft, denn hier geht es von Anfang an um Einzelleistung, körperliche Spezialisierung, Individualisierung und Rekord – eine Nähe zur völkischen Ariosophie auf; eine bemerkenswerte Analogie.

Das Problem dieser Arbeit ist ein forschungsgeschichtliches: Über all diese Themen und etliche der Aspekte – sogar zur schon zeitgenössisch ziemlich abseitigen Runengymnastik, zu elitär-außenseiterischen Kleinstsiedlungen wie dem Vogelhof oder zur alternativ-religiösen Mazdaznan-Bewegung – ist in der Vergangenheit von mehreren Forschungsgenerationen bereits ziemlich erschöpfend geforscht worden. Gerade zur völkischen Bewegung und – aktuell – zur Lebensreformbewegung auch in ihren völkischen Varianten gibt es mittlerweile unzählige Arbeiten, die etliche Facetten, die die Autorin in ihrer Studie behandelt, auch schon früher einmal aufgegriffen und intensiv analysiert haben; nur mit anderem Vokabular. So ist es für Personen, die mit der Forschung, der Forschungsgeschichte und den Quellen des Themas vertraut sind, nicht ganz einfach, etwas komplett Neues zu erkennen. Zudem ist die Lektüre des sehr wissenschaftlich-formal formulierten Textes außerordentlich schwergängig und oft nicht leicht; das dürfte aber der Gattung „Dissertation“ geschuldet sein, von der eben eine bestimmte formale Text- und Inhaltstruktur erwartet wird. In diesen Rahmen gehören auch die mittlerweile üblichen sprachpolitischen Definitionen, Positionierungen und Abgrenzungen, die die eigene Stellung im Forschungsgefüge deutlich machen müssen. Auch hier wird ausführlich dargelegt (14–17), welche Adjektive klein, groß oder kursiv geschrieben werden und warum, und welche Begriffe Anführungszeichen bedürfen oder eben nicht. Der Rezensent sieht und begreift sehr wohl die Anpassungszwänge und den Konformitätsdruck im sich in der Selbstbeschreibung als liberal, kritisch und selbstkritisch gerierenden, in der Realität aber politisch aufgeheizten Universitätsmilieu. Aber die Gefahr droht, dass aus diesem Milieu eben auch konforme Arbeiten entstehen.