Aktuelle Rezensionen
Michael Simon/Christina Niem/Mirko Uhlig (Hg.)
Reden über Freundschaft. Kindheit und Jugend in Erinnerungserzählungen älterer Menschen
(Volkskunde in Rheinland-Pfalz Jg. 37), Mainz 2022, Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz e. V., 186 Seiten mit Abbildungen, ISSN 0938-2964
Rezensiert von Laura Wehr
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.09.2024
Soziale Beziehungen im Alter sind bislang aus kulturwissenschaftlicher Perspektive kaum beleuchtet worden. Umso erfreulicher, dass sich nun in Mainz ein „großes Masterprojekt“ der Herausforderung gestellt hat, ältere Menschen zu ihren Freundschaftsbeziehungen in Kindheit und Jugend zu befragen und damit die biografischen Erzählungen von Angehörigen der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen jenseits ihrer „typischen“ Topoi auf ein spezifisches soziales Thema hin zu untersuchen.
Das zweisemestrige Studienprojekt mit dem denglischen Titel „Growing up in Germany – Narrative vom Heranwachsen“, das von sieben Studierenden unter Leitung von Michael Simon und Christina Niem 2021/22 pandemiebedingt nur punktuell gemeinsam im Seminarraum bearbeitet werden konnte, hatte zum Ziel, „sich mit der Geschichte der Kindheit vertraut zu machen sowie Sichtweisen unterschiedlicher Disziplinen wie etwa der Anthropologie, Soziologie, Historiographie und nicht zuletzt des eigenen Faches kennenzulernen“ (Niem, 5). In der begleitenden Methodik-Übung galt es, „sich das handwerkliche Rüstzeug für Befragungen oder etwa zum Umgang mit Fotografien anzueignen“ (Niem, 5).
Der Aufbau des zugehörigen Projektbandes „Reden über Freundschaft“ (dessen Titel wohl in Anlehnung an den im Band viel zitierten Albrecht Lehmann entstanden ist, zusammen mit dem Untertitel aber die Frage nach dem einen, zentralen Thema der Publikation aufwirft) entspricht der Chronologie des Studienprojekts: Nach einem kurzen Editorial von Michael Simon folgt eine thematische Einführung von Christina Niem, in der das Prozedere des Studienprojekts beschrieben und der (vorwiegend volkskundliche) Forschungsstand zu Erinnerungserzählungen respektive Freundschaft rekapituliert wird. Sodann übernehmen die Studierenden, die jeweils zwei Aufsätze verfasst haben: Neben einem methodischen Überblick sind so zwölf Artikel zu den unterschiedlichsten Facetten von Freundschaft entstanden; ein eher allgemein gehaltenes Fazit von Michael Simon sucht diese abzurunden. Ergänzt wird die Darstellung der Projektergebnisse dann noch durch den längeren Aufsatz einer Master-Absolventin, die das Aufwachsen in einer rheinhessischen Dorfgemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg auf Basis von Interviews mit den „letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen“ untersucht hat. Warum dem thematischen Teil des Bandes unkommentiert eine autobiografische Skizze des lokalen Mundartautors Volker Gallé zum Aufwachsen in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft angefügt wurde, erschließt sich allerdings nicht.
Auch in der Gesamtschau lässt der vorliegende Projektband die Leserin etwas ratlos zurück: Es steht zu vermuten, dass das Potential, welches das verheißungsvolle Thema der Freundschaftsnarrative älterer Menschen (für die Altersforschung, die Freundschaftsforschung, die Biografieforschung) geboten hätte, im Studienprojekt nicht vollends ausgeschöpft werden konnte. So erscheint der unklare Titel des Bandes als pars pro toto einer konzeptionellen Unschärfe, die sich sowohl in den vage gehaltenen Projektzielen als auch in der analytischen Bearbeitung sowie der Verschriftlichung der Ergebnisse widerspiegelt: Statt Narrative über Freundschaften in der Lebensphase Kindheit, die von älteren Menschen in der Gegenwart geäußert werden, zu untersuchen, werden oft Narrative über Kindsein zur Zeit des Nationalsozialismus beziehungsweise nach Kriegsende ausgebreitet; und statt Freundschaftserzählungen zu analysieren werden häufig Kindheitserzählungen nacherzählt. Im Ergebnis bedeutet dies: Immer wieder steht nicht das „Reden über Freundschaft“ im Zentrum der Betrachtung, sondern die (längst historisch gewordene und als solche aus der Gegenwart bestaunte) Kindheit.
Dass der rote Faden in einigen Aufsätzen – und damit im Gesamtband – verloren zu gehen droht, ist möglicherweise eine Problematik, die dem Format Studienprojekt geschuldet ist. Vermutlich hätte es neben einer stärkeren konzeptionellen Klarheit auch einer forcierten methodischen Anleitung – einige Master-Studierende führten ihr erstes Interview – bedurft, um methodisch reflektierter agieren zu können. So scheint die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner von Zufälligkeiten (respektive: persönlichen Bezügen) geleitet – was in Corona-Zeiten zwar verzeihlich erscheint, aber zu einem äußerst heterogenen Sample (Interviewpartnerinnen und -partner der Geburtsjahrgänge 1933 bis 1960) und bei dessen Beschreibung zu Plattitüden führt („Personen, die vor 1960 geboren waren und damit das Schicksal der Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge teilten, wobei die Jüngeren […] vor allem unter dem Eindruck der Wirtschaftswunderjahre heranwuchsen“). Als Leserin und Leser hätte man sich zudem im Methoden-Artikel anstelle der biografischen Kurzporträts der Befragten eine stärkere Reflexion des forschenden Tuns der Studierenden gewünscht. Dies hätte auch geholfen zu verstehen, welche Funktion den wenigen, kaum kontextualisierten historischen Fotografien im Band zukommt: Für deren methodische Handhabung hätte neben den einschlägigen Aufsätzen zum Umgang mit Fotoquellen sicherlich auch die kulturwissenschaftliche Dissertation von Nora Mathys zur historischen Freundschaftsfotografie inspirierende Impulse liefern können.
Gewonnen hätte der Projektband zudem durch eine klarere Struktur im Aufbau. Ausgehend von den vorliegenden Aufsätzen hätten sich Kapitel angeboten, unter die dann bestimmte Artikel gruppiert werden könnten; als Kapitelüberschriften böte sich etwa „Topoi von Freundschaft“ (die beste Freundin; wahre Freundschaft; das Ende der Freundschaft) an, „Materielle Kultur und Freundschaft“ (Freundschaft im Poesiealbum) sowie „Soziale Räume von Freundschaft“ (Freundschaft im Stadt-Land-Vergleich; Orte der Freundschaft; Aufwachsen im Gasthaus). Zudem erstaunt, dass weder „Gender“ noch „Migration“ als Ausgangspunkt für Aufsatzthemen gewählt wurden, wiewohl beide Themen in den Artikeln immer wieder durchscheinen und dann teilweise mit historisch anmutender volkskundlicher Sekundärliteratur (Weber-Kellermann) verbunden werden.
Dass die einzelnen Beiträge hinsichtlich ihrer analytischen Tiefenschärfe sehr unterschiedlich ausgefallen sind, ist angesichts des verheißungsvollen Themas und der innovativen thematischen Zugänge ein bisschen schade – und lässt sich wohl nicht nur auf schwierige Rahmenbedingungen (Stichwort: Corona) zurückführen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob der didaktisch wie methodisch innovative Ansatz des Studienprojekts, dass jede und jeder sich bei der Bearbeitung eines Themas nicht nur des „eigenen“ empirischen Datenmaterials bedienen, sondern auch mit dem der Kommilitoninnen und Kommilitonen arbeiten möge, konsequent umgesetzt wurde: Denn ein stärkerer Vergleich sowohl der Narrationen als auch der eigenen Forschungsresultate („Material gegen den Strich bürsten“) hätte dem einen oder anderen Aufsatz wohl gut getan – ebenso wie ein kritischeres Schlusslektorat sinnvoll gewesen wäre. Möglicherweise hätte so auch vermieden werden können, dass manche Artikel arg vom eigentlichen Thema abweichen, die erzählten Kindheitserinnerungen lediglich nacherzählen oder in ihren Ausführungen einem stereotypen Deutungsangebot der Befragten („Unsere Kindheit war trotzdem schön!“) unhinterfragt folgen.
Die Lektüre des Bandes lohnt dennoch, beinhaltet er doch auch wahre analytische Pretiosen – wie etwa im Artikel von Katrin Hagert und Alina Sotiieva über die im Datenmaterial aufgefundenen Erzählmuster oder im Aufsatz von Jannis Nickel über den Mythos der freien Wahl bei Freundschaften. Gewürdigt werden sollte auch, dass sich die Studierenden mit ihrem Projekt an ein sowohl innerhalb der Biografieforschung/Oral History als auch in der Alter(n)sforschung als auch in der historischen Kindheitsforschung kaum untersuchtes Thema herangewagt haben, über das sie (vermutlich) verhältnismäßig leicht mit den älteren Menschen ins Gespräch kommen konnten und an dem sie im Ergebnis erstaunlich viele unterschiedliche Facetten aufzeigen können.
Dass eine bilanzierende Reflexion der Studierenden als Vertreterinnen und Vertreter ihrer Generation darüber ausbleibt, inwiefern sich Freundschaften der (Nach-)Kriegszeit von „heutigen“ Freundschaften unterscheiden, was genau Freundschaft ausmacht und was daran auch zeitlos sein könnte, erscheint unter dem Blickwinkel der historisch argumentierenden Gegenwartswissenschaft als ein Versäumnis – umso mehr in Zeiten, in denen Kindheitsfreundschaften überall auf der Welt immer wieder jäh durch Kriegsgeschehen auf eine harte Probe gestellt werden.