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Alessandro Testa

Ritualising Cultural Heritage and Re-Enchanting Rituals in Europe

(European Anthropology Series), Durham 2024, Carolina Academic Press, XVI, 253 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-1-5310-2673-8


Rezensiert von Michael Weiß
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.09.2024

Seit dem Inkrafttreten des UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes von 2003 hat sich darauf bezogen ein kulturwissenschaftlicher Kanon an Publikationen entwickelt. Eine der Kategorien des immateriellen Kulturerbes, nämlich „Bräuche, Rituale und Feste“ oder auf Englisch „social practices, rituals and festive events“, ist Ausgangspunkt der Monografie über die Ritualisierung kulturellen Erbes und die Wieder-Verzauberung von Ritualen in Europa des Sozial- und Kulturanthropologen Alessandro Testa. Testa untersucht anhand von vier Ritualen in Europa, die man je nach definitorischem Zugang auch als Brauchkomplexe bezeichnen könnte, welche Aushandlungsprozesse hinsichtlich einer „Wieder-Verzauberung“ – in Anlehnung an Max Webers Konzept der Entzauberung der Welt – vorliegen. Neben der Dekonstruktion dieser mythologischen Verklärung dechiffriert Testa weitere identitätspolitische Aspekte, die den jeweiligen Ritualen innewohnen.

Zunächst erklärt der Autor, wie sich sein Buch zusammensetzt. So sind die meisten Beiträge des Buches bereits publiziert worden, wurden jedoch für die kompilierte Form der Monografie überarbeitet. Auf die jeweiligen Änderungen, Akzentuierungen in der Ausgestaltung sowie theoretischen Neubewertungen geht der Autor transparent und erklärend ein. Die Monografie besteht aus zwei Teilen, denen ein Resümee, eine kurze Vita des Autors sowie Literaturverzeichnis und Index nachgestellt sind.

Der erste Teil des Buches umfasst drei Kapitel, die den konzeptionellen und theoretischen Rahmen der Monografie abstecken. Hierfür betont der Autor zunächst (Kap. 2), dass Festen und öffentlichen Ritualen ein epistemologischer Mehrwert innewohnt, wenn man diese als analytische Kategorien begreift und nicht als essentialistische Begriffe. Rekurs nehmend auf verschiedene Theoretiker (Antonio Gramsci, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Don Handelman) schlussfolgert Testa, dass Aushandlungsprozesse von Macht einen Teil von Festen und öffentlichen Ritualen ausmachen, es sich hierbei jedoch nur um eine mögliche analytische Dimension von mehreren handelt. Anschließend wartet Testa mit einem Überblick über die Begrifflichkeit Ritual und deren Forschungsstand auf (Kap. 3). Der symbolische Gehalt manifestiere Rituale, doch erst sein Verleihen schaffe das Ritual – Testa spricht von „ritualisation“ (58). Hierbei gibt es jedoch eine symbolische Hierarchie, die sich beim Ausüben der Rituale zeigt und die für den Forschenden einen analytischen Zugang bieten kann. Im vierten Kapitel zeigt Testa anhand der Begrifflichkeiten „folklore“ und „intangible cultural heritage“ auf, was die Verwendung dieser Terminologie jeweils mit sich bringt und welche Unterschiede im Sprachgebrauch von Forschenden, Trägergruppen und von Seiten der UNESCO bezüglich genannter Begriffe herrschen.

Im Fokus des zweiten Teils des Buches stehen vier Fallbeispiele von Ritualen, für die Testa ethnografische Feldforschungsergebnisse mit den bereits angeführten analytischen Begrifflichkeiten zusammenführt. Die ersten beiden Beispiele (Kap. 6) sind „the carnival of the deer-man in Castelnuovo al Volturno“ in Italien und „the Masopust in Hlinsko v Čechách“ in Tschechien, wobei „Masupost […] the Slavic version of carnival“ ist (100). Für das italienische Fallbeispiel zeigt Testa Kontinuität und Wandel der Karnevalsausübung auf. Zentral ist dabei die mythologische Verklärung, die ab den 1990er Jahren einsetzt. Testa legt dar, wie sie sich innerhalb der Trägergruppe und in Castelnuovo ausgestaltet, um diese anschließend zu dekonstruieren. Hierfür bezeichnet der Autor, Bezug nehmend auf James George Frazer, die symbolische Neubesetzung von Ritualen als „popular frazerism“, also eine mythologische Verklärung von Ritualen als Fruchtbarkeitsritus. Dies stelle eine Strategie der Trägergruppen dar, die Begrifflichkeit Tradition neu auszuhandeln und symbolisch neu zu versehen (149). Auch das tschechische Fallbeispiel wird hinsichtlich Glaubenskonstrukten rund um die Karnevalsausübung analysiert und mit dem italienischen Fallbeispiel kontrastiert. Im siebten Kapitel wird ein weiteres Ritual, der Karneval in Solsona in Katalonien, Spanien, angeführt. Anhand der drei bis dahin vorgestellten Rituale rücken kulturpolitische Aspekte hinsichtlich ihrer Analyse in den Fokus. Prozesse der „heritagisation“ (151–156) werden verdeutlicht sowie Implementierung und Auswirkung von „commodification, touristification, and musealisation“ (159–164) und Identitätskonstrukte, die mit Hilfe der Rituale entstehen. Kapitel 8 nennt als weiteres Ritual den Krampuslauf in St. Johann im Pongau, Österreich. Hierfür werden die Punkte der „ritualisation“ und „re-traditionalisation“ wieder aufgegriffen, aber auch die Mythenschöpfung anhand der Rituale rückt erneut analytisch in den Blickpunkt (187–192).

Mittels der vier Fallbeispiele erläutert Alessandro Testa, welche Aushandlungsprozesse rund um immaterielles Kulturerbe stattfinden können. Die symbolische Neubesetzung von Ritualen und die damit einhergehende mythologische Verklärung zeigt der Autor anhand des Begriffs des „popular frazerism“ auf. Dynamiken auf gesellschaftlicher, institutioneller und persönlicher Ebene, die das Ausüben von Ritualen beeinflussen, führt Testa im zweiten Teil des Buches zusammen. Die Monografie ist gut bebildert und gibt neben den Fallbeispielen aus den Feldforschungen des Autors weitere Beispiele aus der Sekundärliteratur an die Hand. Durch die Rückbindung der jeweils neu eingeführten Beispiele an bereits vorgestellte Erkenntnisse bleibt dem Lesenden der analytische rote Faden stets vor Augen. Das Einbinden der eigenen Empirie erfolgt konzise, dennoch nicht zu knapp, doch beim Lesen der Monografie kommt auch der Wunsch nach der Erläuterung weiterer Sichtweisen der Gewährspersonen auf. Einzig der vage Verweis auf mögliche vergangene Fruchtbarkeitsriten (121) innerhalb Europas kontrastiert die sonst ausführlich und spannend zu lesende „Wieder-Verzauberung“ von Ritualen, wobei der Autor durch seine Analyse die Kontinuitätsprämissen klar dekonstruiert und nicht erneut ins Feld führt.