Aktuelle Rezensionen
Andrea Heistinger/Elisabeth Kosnik/Gabriele Sorgo
Sorgsame Landwirtschaft. Resiliente Praktiken im ökologischen Landbau
(Neue Ökologie 4), Bielefeld 2022, transcript, 139 Seiten, ISBN 978-3-8376-4898-0
Rezensiert von Barbara Wittmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.09.2024
Seit etwa Mitte der 2010er Jahre hat sich innerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung eine neue Konjunktur der Auseinandersetzung mit landwirtschaftlichen Lebens- und Arbeitswelten entwickelt – bedingt sowohl durch ökologische, klimatische wie auch gesellschaftliche Problematiken der Lebensmittelproduktion als auch durch innovative wissenschaftliche Ansätze etwa aus den Bereichen der Multispecies- und Agro-Food-Studies. In diesen Kanon reiht sich auch das zu rezensierende Werk ein, welches auf einem zwischen 2017 und 2019 am Grazer Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie angebundenen Drittmittelprojekt zu resilienten Praktiken im ökologischen Landbau basiert. In qualitativen Mikrostudien wurden dazu vier Betriebe in strukturschwachen Regionen der Steiermark und Niederösterreichs mittels Interviews und Feldforschungsaufenthalten untersucht, „die sich aktuellen Tendenzen der Rationalisierung im ökologischen Landbau entziehen“ (21).
Die Höfe, die das transdisziplinäre Forscherinnenteam – bestehend aus der Europäischen Ethnologin Elisabeth Kosnik, der Kulturhistorikerin Gabriele Sorgo und der Agrarberaterin Andrea Heistinger – in den Blick nimmt, sind als Klein- beziehungsweise Kleinstbetriebe mit Flächen zwischen zwei und 30 Hektar einzuordnen. Deren Betreiberinnen und Betreiber zeichnen sich durch ein ausgeprägtes Denken in Netzwerkstrukturen aus, die sich auf menschliche ebenso wie auf nicht-menschliche Akteurinnen und Akteure beziehen. Aufgrund der Tatsache, dass – neben der starken Motivation der Betriebsinhaberinnen und ‑inhaber, ihre Autonomie zu wahren – auf den beforschten Höfen diese vielfältigen Beziehungsebenen im Vordergrund stehen, bezeichnen die Autorinnen ihr Feld denn auch titelgebend als „sorgsame Landwirtschaft“. Zwar ist diese Begriffswahl – in Bezug auf den Aufbau des Buches an zu später Stelle erklärend eingebettet in Gabriele Sorgos Kapitel „Wirtschaften im Zusammenhang“ – und ihre Herleitung aus sozialwissenschaftlichen Care-Theorien nachvollziehbar, gleichzeitig deutet sie aber bereits auf eine Grundproblematik des Buches hin: Die Autorinnen betonen immer wieder die vorherrschende „Umsicht, Rücksicht und Voraussicht“ (108) auf den beforschten Betrieben und beschreiben deren Wirtschaftsweise als „Gabenfluss, der im Gegensatz zu den sozial unwirksamen Deals des Marktes das gute Leben in seinen körperlichen, emotionalen und kulturellen Dimensionen garantiert“ (113). Bei der Lektüre erscheinen die Kleinbetriebe daher als positiv besetzte Horte einer gelebten Utopie, auf denen kaum Konflikte existieren, wo die äußerst hohe Arbeitsbelastung aus einer intrinsischen Motivation heraus gerne in Kauf genommen wird, und auf denen die im Buch am Rande thematisierte, teils wenig vorhandene Akzeptanz durch das ländliche Umfeld der Betriebe vorwiegend auf einer konservativen Ablehnung weniger innovativ denkender Menschen beruht. Bei aller zum Teil verständlichen Sympathie der Autorinnen für ihr, in Zeiten von Biodiversitätsverlust, Klimawandel und agrarischen Ausbeutungsstrukturen, Alternativen aufzeigendes Forschungsfeld, hätte eine etwas kritischere Distanz die grundsätzlich spannenden Ergebnisse zu Überlebensfähigkeit und -strategien der Betriebe inmitten eines gnadenlos Ausscheidende produzierenden Marktsystems multiperspektivischer fundieren können.
Hieran knüpft ein weiterer Punkt an, der in Bezug auf die wissenschaftliche Einbettung des Forschungsprojektes verwundert: Zwar greifen die Autorinnen mit den Arbeiten Donna Haraways und vor allem Puig de la Bellacasas „soil communities“ einige „große Namen“ auf, allerdings finden kaum Bezugnahmen auf die mittlerweile in großer Anzahl vorhandenen Feldforschungen und Mikrostudien – aus der Europäischen Ethnologie ebenso wie aus Nachbarfächern – zu ähnlichen Feldern statt. So hätten etwa Anknüpfungen an oder Vergleiche mit den zahlreichen, beispielsweise unter anderem am Standort Würzburg durchgeführten Multispecies-Studien zu ländlichen Ökonomien, Arbeiten aus dem Kontext der dgekw-Kommission zur Kulturanalyse des Ländlichen oder zumindest den vielen – und bezüglich ihrer Rolle in der agrarischen Produktion vergleichsweise ohnehin bereits überbeforschten – empirischen Einblicken in CSA (Community Supported Agriculture)-, Solawi (Solidarische Landwirtschaft)- und gemeinwohlorientierte Landwirtschaftsstrukturen die Chance geboten, die eigenen Ansätze sowohl intra- wie auch interdisziplinär anschlussfähiger zu machen. Dabei laden gerade Kapitel wie Elisabeth Kosniks sorgfältig Pauschalisierungen oder Homogenisierungen vermeidende Ausführungen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Oststeiermark sowie zum Stellenwert der breit verankerten ökologischen Landwirtschaft Österreichs zu einer vergleichenden räumlichen Kontextualisierung ein.
Zunächst vor allem im Hinblick auf die Anwendung innovativer Methoden vielversprechend liest sich das Vorhaben der Autorinnen, rekonstruktive Genogrammarbeit nach Bruno Hildenbrand anzuwenden. Dabei soll die Sichtbarmachung von „historischen und familiensoziologischen Daten der letzten drei Generationen eines individuellen Menschen“ (29) dazu beitragen, Entscheidungen und Handlungspraxen auch auf der Basis kollektiver Muster und vor dem Hintergrund von Familiengeschichten analysierbar zu machen. Allerdings wird diese Methode im Folgenden kaum mehr kritisch reflektiert und starr auf das Forschungsfeld angewendet, wodurch sowohl die Individualität der einzelnen Personen als auch vielfältige weitere Einflüsse auf ihre Lebenswelten und -geschichten auf die familiären Biografien reduziert werden. Mitbedingt wird dieser Eindruck dadurch, dass dem beforschten Feld selbst im Buch nur wenig Raum gegeben wird und die Menschen auf den Betrieben eher schablonenhaft bleiben. So wird auf die einzelnen Fallbeispiele nur in Andrea Heistingers Kapitel „Wie aus Familiengeschichten sorgsame Landwirtschaft entsteht“ intensiver eingegangen und selbst hier fallen die entsprechenden Beschreibungen recht kurz aus. Nicht zuletzt bleibt auch die begriffliche Tragfähigkeit der stark betonten Innovationsfähigkeit mit Blick auf die innerlandwirtschaftlich seit langem etablierten Formen von Direktvermarktung, Marktverkauf und Hofläden kritisch zu hinterfragen.
Dabei hätte eine vermehrte Einbettung von Material aus Interviewtranskripten und teilnehmenden Beobachtungen sowie eine über die Betonung der relevanten Familienstrukturen mutiger hinausgehende Beleuchtung der Höfe der wichtigen Grundausrichtung des Buches mehr Gehalt gegeben: Nämlich herauszustellen, wie es die beforschten Höfe erreichen, „langfristige Beziehungen herzustellen und Menschen und ihre Umwelten – im Sinne der ‚foodwebs‘ – als Gemeinschaften zu verstehen“ (120). Dies gelingt in den einzelnen Beiträgen nicht immer, dennoch bildet „Sorgsame Landwirtschaft“ gerade mit Blick auf die Evidenz einer Überlebensfähigkeit von Betrieben, die von der agrarischen Beratung gemeinhin als nicht (mehr) überlebensfähig klassifiziert werden, nicht nur kultur- und sozialwissenschaftlich, sondern ebenso agrarpolitisch spannende Ergebnisse ab.