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Elmar Schieder
Als wär die Höll’ ausgelassen. Der Mythos Haberfeldtreiben
München 2023, Volk,192 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-86222-452-4
Rezensiert von Helga Maria Wolf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.09.2024
Mythen haben ein zähes Leben. Das bestätigt auch das vorliegende Buch über den bayerischen Rügebrauch des Haberfeldtreibens. „Den ersten Schilderungen zufolge handelt es sich […] um einen vor einem Haus verübten Lärmaufzug von Burschen aus dem Ort oder der näheren Umgebung. Dieser ist zunächst fast ausschließlich auf die oberbayerische Gegend des Leitzachtals beschränkt. Anlass für diesen Lärmaufzug waren zunächst sexuelle Verfehlungen. […] Zwischen 1766 und 1922 haben sich allerdings Erscheinungsform und Verlauf des Haberfeldtreibens erheblich gewandelt,“ schreibt Elmar Schieder (9–10). Der Autor ist Jurist und beschäftigt sich seit langem mit Rechtsvolkskunde. Schon vor 40 Jahren konnte er eine Reihe falscher Behauptungen widerlegen, die aber immer noch verbreitet werden. In ebenso seriöser wie unterhaltsamer Art schildert er die einzelnen Vorkommnisse mit Zitaten und stellt die Fakten im Anhang tabellarisch übersichtlich zusammen (143 Ereignisse zwischen 1716 und 1922).
Zu den Mythenerfindern zählten der Schriftsteller Joseph Friedrich Lentner (1814–852), der katholisch-konservative Münchener Volkskundeprofessor Johann Nepomuk Sepp (1816–1909), der Historiker Max Fastlinger (1866–1918) und der völkisch gesinnte Germanist Otto Höfler (1901–1987). Von der Ideologie ihrer Zeit beeinflusst, wollten sie den erst im Barock belegten Brauch auf die Germanen zurückführen. Sepp sah in den Ausführenden des Haberfeldtreibens Wotans wildes Heer. Fastlinger glaubte zu wissen, dass es sich dabei um eine „allen germanischen Volksstämmen eigene Buße für verletzte Frauentreue und Mädchenehre“ handelte. Der bekennende Nationalsozialist Höfler kam zu dem Schluss, dass die Haberfeldtreiber einen kultischen Geheimbund der Germanen fortsetzten (11–14).
Elmar Schieder beweist aufgrund eingehender Aktenstudien, dass das alles nicht stimmt. Er fand die ältesten Belege in Vagen (1716) und Parsberg (1766). Dort wurde eine ledige Mutter zum Opfer. 23 Burschen mit geschwärzten Gesichtern und umgebundenen Rosshaarbärten schlichen sich zum Bauernhaus, wo sie eine Katzenmusik veranstalteten. Sie hatten sich mit Kuhglocken, Kuhhörnern, Peitschen und Stöcken ausgerüstet und lasen Spottverse vor. Die Strafe von 9 Gulden, die sie erhielten, war weit höher als der Jahreslohn eines Knechtes. Außerdem ließ das Pflegegericht Miesbach die Haberer einsperren und öffentlich im Markt herumführen (25–30). Die Redensart „ins Haberfeld treiben“ hat weder mit dem Getreide Hafer noch mit der Ziege (lat. caper) zu tun. Der Meistersinger Hans Sachs verwendete sie um das Jahr 1500 im Sinn von „jemandem einen Korb geben“ oder „jemanden sitzen lassen“ (18). Außer ledigen Müttern erfasste der Rügebrauch auch andere missliebige Personen – in der Spätphase ganze Dörfer – wie Elmar Schieder ausführt.
Zu den von ihm falsifizierten Mythen schreibt er, beim Haberfeldtreiben handle es sich nicht um ein Sittengericht. Die Haberer waren (zumindest bis 1824) kein Geheimbund, auch nicht die ersten Sozialdemokraten oder Gegner des Zölibats. Im 19. Jahrhundert, auf das sich die meisten Gerichtsprotokolle beziehen, unterscheidet der Autor mehrere Phasen der Entwicklung. 1826 bis 1834 scheint der Brauch „unter dem Schutz der Kirche“ gestanden zu sein. 1828 zeigte der Pfarrer von Irschenberg beim Landgericht Miesbach das Verhältnis eines verheirateten Bauern zu dessen Magd an. Der Landrichter berichtete der Regierung überraschend wohlwollend über den „Unfug“, der „vom Volke für Spaß gehalten, […] insgeheim von der Geistlichkeit mit der Äußerung gebilligt wird, dass hidurch die Leichtfertigen, die bei Gericht straflos durchkommen, der Strafe nicht entgehen“ (39). Auch habe es keine Sachbeschädigungen oder Verletzten gegeben. Es existiert aber ein Erlass der Regierung von 1828, nach dem eine Gemeinde, in der getrieben wurde, Strafe zahlen musste. Dagegen wehrte sich ein Bauer mit einem Schreiben an Ludwig I. von Bayern persönlich. Die „verhunzte Sache“ zog sich hin, bis der König entschied: „Ebenso hat künftig eine Einschreitung gegen die alte Sitte des Haberfeldtreibens nur insofern stattzufinden, als solche im Interesse der öffentlichen Ordnung absolut nötig ist. 27. April 1833 auf seiner Königl. Majestät allerhöchsten Befehl – Ludwig I.“ (44)
Die Periode von 1839 bis 1852 übertitelt der Autor mit „Neue Attraktionen, straffe Organisation“ (55–74). Bisher waren die Haberfeldtreiber nächtens plötzlich erschienen und lautlos wieder verschwunden. Dies änderte sich mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1848. Militärdienst galt nun als Ehrendienst, was sich auf den Rügebrauch auswirkte: „Sie kamen in militärischer Ordnung zum Treibort und stellten sich auch dementsprechend ausgerichtet auf.“ (55) Zwischen 1852 und 1857 blieb es aufgrund behördlicher Sanktionen ruhig. Außerdem hatten Teilnehmer, obwohl strengstes Stillschweigen vereinbart war, einige Kameraden verraten, die streng bestraft wurden (77).
1870 bis 1893 wird von den letzten großen Treiben berichtet. Die Gendarmen schossen scharf. Ein Bauer wurde schwer verwundet. Die „Volksjustiz“ war in den Sog des Folklorismus geraten. Münchener Künstler und Interessierte erhielten wohl extra Einladungen. Ab Mitte der 1880er Jahre reisten Zuschauer und Teilnehmer mit Kutschen und per Bahn zu den Spektakeln an. Das „Geheim-Comite der Haberer“ affichierte Werbeplakate. Die Veranstalter warnten „das zuhörende Publikum“ eindringlich, ihnen nicht zu nahe zu kommen, „damit nicht viele Todte und Schwerbetroffene vom Platz getragen werden müßten.“ Die Haberer kamen nun nicht mehr überwiegend aus dem eigenen Ort, sondern aus der Umgebung, und sie kannten die Opfer oft gar nicht (11, 123).
Nach 1893 konnte von „Verrat und Ende“ gesprochen werden. „Wenn es sich ergab, dann organisierte man ein Treiben auch auf Bestellung,“ wie 1895 in Aying. 1896 führte die Bevölkerung von Radevormwald ein Treiben gegen ihren Bürgermeister „wegen seines unsittlichen Lebenswandels“ durch. „Die Staatsanwaltschaft qualifizierte den Vorfall als Aufruhr und Landfriedensbruch […] Der Verteidiger merkte an, dass die eigentliche Rädelsführerin die Volkssitte sei, die in ganz Deutschland verbreitet sei, auch in Oberbayern. Sämtliche Angeklagte wurden freigesprochen.“ (160)
Im 20. Jahrhundert „lebt der Haberer-Mythos weiter“. 1922 fand in Dettendorf das letzte wirkliche Haberfeldreiben statt. Die polizeilichen Ermittlungen, die nicht übertrieben diensteifrig geführt wurden, verliefen im Sand (165 f.). „Schon relativ früh wurde der Habererbund mit den Sozialdemokraten in Verbindung gebracht […] Dann aber nahmen die Nationalsozialisten das Haberfeldtreiben als Brauch von echter deutscher Gesinnung für sich in Anspruch. […] Für die Nationalsozialisten war das Haberfeldtreiben seit der Zeit der Germanen ein Beweis für die Sittenreinheit des arischen Volkes.“ (167–168) 1963 konstituierte sich in Miesbach ein Verein zur Erinnerung an den alten Brauch. „D’Haberer“ wurden aktiv gegen Flughafenprojekte oder das Fernsehprogramm. 1970 gründeten sich „Die Haberer von Tötzham“.
„Der Gang durch die Jahrhunderte hat sehr deutlich gezeigt, wie sich aus einer harmlosen ‚Lustbarkeit‘ für die Burschen eine – nach heutigem Sprachgebrauch – regelrechte ‚Terrororganisation‘ entwickelt hat. […] Der Radau gipfelte im Schießen mit scharfer Munition auf Hausdächer, in Fenster und auch auf Personen.“ Kommerzialisierung setzte ein. Durch die fehlende Selbstkontrolle der Organisation „geriet der Habererbund in die Hände krimineller Elemente, die die Lust am nächtlichen Abenteuer, an einer Mutprobe oder am Krawallmachen unter dem Deckmantel eines ‚alten Brauchtums‘ anzog.“ Die heutigen Haberer knüpfen an das alte Charivari an, sind weniger derb und spenden den Erlös ihrer Feste für wohltätige Zwecke. Schließlich zitiert der Autor einen Heimatpfleger: „Der Habererbund ist nie aufgelöst worden!“
Das reich illustrierte Buch ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man überholte Interpretationen widerlegen kann – aber auch, wie schwierig es ist, die neuen Erkenntnisse populär zu machen. Nicht nur Mythen, auch „die Germanen“ haben ein zähes Leben.