Aktuelle Rezensionen
Cordula Endter/Anamaria Depner/Anna Wanka (Hg.)
Materialities of Age and Ageing
(Anthropological Journal of European Cultures 32, H. 1), Oxford 2023, Berghahn, XI, 137 Seiten mit Abbildungen, ISSN 1755-2923
Rezensiert von Nicole Zielke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.09.2024
Ausgangspunkt der Sonderausgabe des Anthropological Journal of European Cultures ist der Umstand, dass Materialitäten des Alter(n)s in anthropologischen Studien zu altersbezogenen Themen tendenziell vernachlässigt und die vielfältigen Erfahrungen des Alterns als subjektiver Prozess sowie Identität und Praxis in den Fokus gerückt werden. Dies impliziert die Anerkennung, dass das Alter(n) selbst keine Eigenschaft eines Menschen ist, sondern als Phänomen durch die Verflechtung verschiedener Materialitäten, Praktiken, Diskurse und Subjektivitäten entsteht. Der Alterungsprozess konstituiert sich aus diskursiv-materiellen Praktiken, an denen eine Vielzahl nichtmenschlicher und menschlicher Akteure beteiligt sind. Die Studien des Sonderheftes verfolgen die Frage, wie materiell-objektive und persönlich-subjektive Dimensionen der Alternsforschung verschränkt und Schnittstellen zwischen der Kulturanthropologie und Alterssoziologie, zwischen Wissenschafts- und Technologiestudien sowie Umwelt-, Kultur- und kritischer Gerontologie hergestellt werden können.
In der Studie von Melanie Lovatt geht es um die Bedeutung der Abwesenheit des Zuhausegefühls in der stationären Pflege. Mittels einer verkörperten Lebensverlaufsperspektive geht die Autorin davon aus, dass das Zuhausegefühl von der sozio-materiellen Interaktion im Lebensverlauf bedingt wird. Demnach sind materielle, körperliche und zeitliche Dimensionen des Lebensverlaufs miteinander verknüpft. Sie kommt zu der wesentlichen Erkenntnis, dass nicht nur der Übergang in die stationäre Pflege, sondern auch das Leben und Wohnen im Pflegeheim forschungsrelevant sind. Daher seien mehr Längsschnittstudien mit dem Ansatz verkörperter Lebensverläufe erforderlich, um auch Alterungsprozesse und langfristige Erfahrungen von Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern zu erfassen.
Anna Wanka verknüpft mit ihrer Untersuchung der relationalen Ko-Konstitution von Alter und Heimat im Übergang von der Arbeit in den Ruhestand die Umweltgerontologie mit der Lebensverlaufs- beziehungsweise Übergangsforschung. Individuelle Übergänge werden durch Transformationsprozesse des Zuhauses mitkonstituiert und die häusliche Umgebung prägt wiederum die Veränderungsprozesse. Die Studie bezieht sich auf drei Übergangsdimensionen: Bedeutungen, Praktiken und Verhandlungen. Zum einen verändert sich mit dem Übergang die Bedeutung des Zuhauses, das Ort der Nichtarbeit, Freiheit und Zuflucht wird, aber auch Gefängnis sein kann. Zum anderen wird das Zuhause der neuen Lebenssituation angepasst – was wiederum dazu führt, dass die Grenzen des Zusammenlebens und die Veränderungen der häuslichen Umgebungen zwischen Partnerinnen und Partnern neu verhandelt werden müssen. Schließlich verdeutlicht die Studie, dass Lebensverläufe nicht nur individuell, sondern zwischen Menschen, an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten zu betrachten sind.
Die Studie von Irene Götz und Petra Schweiger untersucht die Möglichkeiten zur Selbstfürsorge älterer Frauen in prekären Lebensverhältnissen und stellt eine herausragende Verknüpfung zwischen der Sozialen Ungleichheits- und der Materialitätsforschung her, indem sie die häuslichen Arrangements schutzbedürftiger älterer Frauen in den Fokus rückt. Die Forschung offenbart auf eindrückliche Art und Weise, wie diese Arrangements geschlechtsspezifisch, lebensgeschichtlich, sozioökonomisch und politisch miteinander verwoben sind. Der Wohnort als vertrauter Handlungsspielraum macht es den Frauen leichter, mit den vielfach prekären Situationen – der physischen, wirtschaftlichen und sozialen Verwundbarkeit – durch Selbstfürsorge und soziotechnische Vorkehrungen umzugehen. In den eigenen vier Wänden und der gewohnten Nachbarschaft können die Frauen sich noch (mehr oder weniger) um sich selbst kümmern oder auf die angestrebten Formen der Selbstfürsorge und -genügsamkeit setzen, indem sie unterschiedliche Überlebensstrategien (mentale Strategien, Einstellungen, körperliche Praktiken, sozio-materielle Techniken) entwickeln. Das Zusammentreffen von Prekarisierungserfahrungen und politisch sowie wirtschaftlich bedingter Prekarität mag nirgendwo so sichtbar und zugleich unsichtbar und wenig beachtet zu sein wie im privaten Bereich des Lebens von Frauen im Alter. Denn gerade die von der neoliberalen Rhetorik bedingten Gefühle von Bescheidenheit und Selbstgenügsamkeit sorgen für ein akzeptiertes Prekariat, indem die Frauen sich praktisch nicht beschweren können und ihnen eine politische Stimme fehlt.
Tiina Suopajärvi verbindet mit der partizipativen Untersuchung zur zukünftigen intelligenten Stadtentwicklung einen feministischen Materialitätsansatz mit der Affekttheorie. In verschiedenen Workshops hat sie mit älteren Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohnern, Forscherinnen und Forschern sowie Stadtplanerinnen und Stadtplanern über die zukünftige Entwicklung des Stadtraums unter Einbeziehung diverser Assistenzsysteme diskutiert. Aufgrund ihres empirischen Vorgehens hat sie mehrere Konfliktthemen verzeichnen können: einerseits die Objektivierung älterer Körper durch die Forscherinnen und Forscher sowie Stadtplanerinnen und Stadtplaner in der Grenzziehung zwischen jungen, sich schnell bewegenden und alten, langsamen, starren Körpern und andererseits die Frustration der älteren Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner über das einseitige Digitalisierungsverständnis der Stadtplanerinnen und Stadtplaner, dass E-Service-Angebote und Fernpflege die Unabhängigkeit Älterer schützen könnten. Jedoch sind die bisherigen E-Service-Angebote für ältere Menschen nicht attraktiv genug. Im Gegenteil, Fernpflege oder auch Pflege durch Robotik, die menschliche Betreuerinnen und Betreuer ersetzt, schüren Ängste. Denn für die ältere Stadtbevölkerung sind soziale beziehungsweise intergenerative Begegnungsmöglichkeiten und die Stärkung des Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühls viel bedeutsamer. Daher ist die Kombination aus Online- und Offlinediensten, um Zugang zur Stadt zu bekommen und Akteurinnen und Akteure im Stadtraum zu sein, entscheidend. Die Grenzen zwischen Jung und Alt verschwinden durch die Kombination aus Online und Offline und durch intergenerativ gestaltete Stadträume. Mit dem empirischen Design der Studie, die emotionalen Konfliktpunkte der beteiligten Personengruppen und deren Auswirkungen auf Grenzsetzungen herauszuarbeiten, wird veranschaulicht, wie wichtig es ist, verkörperte Erfahrungen in Bezug auf den Stadtraum bei der zukünftigen intelligenten Stadtentwicklung zu berücksichtigen. Der Gang zu einem Gesundheitszentrum oder die Fahrt mit dem Bus zur Bankfiliale ist eine verkörperte Erfahrung, die einerseits das Gefühl von Unabhängigkeit und Zugehörigkeit der Seniorinnen und Senioren zur Gemeinschaft, in der ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden, stärken kann. Doch andererseits sind diese Wege kaum zu bewerkstelligen, denn es scheint, dass die Stadt und ihre öffentlichen Dienstleistungen eher für andere Bürgerinnen und Bürger gedacht sind – für die Jüngeren und Leistungsfähigeren. Durch Entscheidungsfindungen und die Gestaltung von Dienstleistungen und städtischen Orten kann dies entweder unterstützt oder verhindert werden.
Tamar Amiri-Savitzky, Merel Visse, Ton Satink und Aagje Swinnen betrachten mit einem sensorisch-ethnografischen Ansatz die handwerklichen Freizeitaktivitäten von drei Frauen in der Lebensmitte und deren Erfahrungen des eigenen Körpers durch das kreative, handwerkliche Handeln. Die Autorinnen und Autoren untersuchen Phänomene sinnvoller Freizeittätigkeiten als relationale Verflechtungen mit der Umwelt und fragen nach verkörperten Bedeutungen der Lebensmitte, die sich aus den Beziehungen zwischen dem Körper, kreativen Freizeitbeschäftigungen und der räumlichen Umgebung ergeben. Denn wenn wir wissen, wie sich Sinnhaftigkeit „anfühlt“, können wir sie bemerken, wenn sie auftritt, sie vermissen, wenn sie fehlt und sie in unser Leben rufen, insbesondere in Zeiten, in denen es zu schwierigen Lebensübergängen kommt, wie etwa in der Lebensmitte. Gerade auch zukünftige Studien können von der Verwendung eines sensorischen Ansatzes profitieren, um kreative Freizeitbeschäftigungen und deren Bedeutsamkeit in der Lebensmitte mit einem größeren Pool von Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten zu erforschen, wie zum Beispiel Menschen im mittleren Lebensalter mit Behinderungen oder Migrationserfahrungen.
Mit anregenden theoretischen Perspektiven, herausragenden methodischen Zugängen und eindrücklichen empirischen Beispielen widmen sich die Studien den vielfältigen Formen des Alterns sowie den unterschiedlichen Formen der Materialisierung von Alterungsprozessen. Dabei denken die empirischen Ansätze materielle Konfigurationen wie unterschiedliche Räume und Dinge, menschliche Körper sowie zeitlich bedingte Veränderungen und Übergänge zusammen. Es geht um Bedeutungen, Verhandlungen, Modifikationen, prekäre Körper, Praktiken der Selbstsorge und sozialräumliche Exklusionen, verkörperte Erfahrungen, aber auch um die Frage, wie ermächtigende Praktiken des Altwerdens und Altseins gestaltet sein können.