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Karin Bürkert/Reinhard Johler (Hg.)

„Die Umbenennungsfrage ist damit entschieden.“ 19. Mai 1971, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

(Schriften des Museums der Universität Tübingen, MUT, 21), Tübingen 2021, Museum der Universität Tübingen MUT, 261 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-9821339-7-3


Rezensiert von Karl Braun
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2024

„In der Sitzung1 wurde eine Pause eingelegt, die Stimmung war gedrückt, und die Tendenz ging in Richtung einer längeren Vertagung. Aber ein Zu- und Einfall brachte die Wendung: Die vorher nie diskutierte Kombination ‚Empirische Kulturwissenschaft‘ zeigte nicht nur den Unterschied gegenüber den in einem eigenen Fachbereich zusammengefassten und weiterhin auf Hochkulturen ausgerichteten Kulturwissenschaften an, sondern sicherte auch einen eigenständigen Platz im Kreis der Sozialwissenschaften.“ (37) So fasst Hermann Bausinger, geschickter Erzähler der er war, nach gut 50 Jahren in „Wege zur EKW, Wege der EKW“ zusammen, wie es – praktisch aus heiterem, hier besser: düsterem Himmel – plötzlich und nachhaltig zur Tübinger Fachbenennung „Empirische Kulturwissenschaft (EKW)“ kam: ein Zu- und Einfall! Mit gutem Recht feiert das Ludwig-Uhland-Institut die Umbenennung, die am 13. Januar 1971 im Institutsrat beschlossen und am 19. Mai 1971 vom Stuttgarter Kultusministerium genehmigt worden war. Damit war zumindest für das Tübingen Institut die Namensfrage entschieden. Ein neuer Name für die Volkskunde, der die neue Ausrichtung des seine nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten beginnenden Faches markieren sollte, war auf der/m Arbeitstagung/Kongress in Detmold 1969 ein eher unterschwelliger, jedoch im Hintergrund die Debatte stark motivierender sowie auf der Hochschultagung in Falkenstein 1970 ein offen kontrovers diskutierter Gegenstand. Dort ergab sich laut Hermann Bausinger bei einer Abstimmung folgende Rangliste: „Kulturanthropologie, Kulturologie, Kultursoziologie, Europäische Ethnologie, Soziokulturologie, Kulturgeschichte, Sozialanthropologie“ (35). Laut Protokoll der LUI-Sitzung vom 19. Januar 1971 wurde vor der Abstimmung eine Tischvorlage von Utz Jeggle diskutiert, diese „war vor dem Hintergrund entstanden, dass sich 21 von 19 [sic] Volkskunde-Instituten für den Namen Europäische Ethnologie entschieden haben“.2  Bausinger führt nun einige Punkte an, „die für Ethnologie ins Feld geführt werden können“, zum Beispiel als „Name weit angemessener als Kultursoziologie“, nur um dann festzustellen, „dass man nicht ohne weiteres pragmatisch dafür votieren könne. […] Herr Narr fasst den Stand der Diskussion zu diesem Zeitpunkt unter der Formel: Europäische Ethnologie ist indiskutabel, zusammen“.

Daraufhin erfolgte die „Wendung durch den Zu- und Einfall“: „Die vorher nie diskutierte Kombination ‚Empirische Kulturwissenschaft‘“ (37) begann als langer, Maßstäbe für das Fach setzender und somit erfolgreicher Tübinger Alleingang ihren nachhaltigen Weg in der Ersetzung des Begriffs „Volkskunde“. Dem Fach insgesamt aber gelang es nach der Tübinger Umbenennung nicht mehr, sich auf einen einheitlichen Namen zu verständigen. Die einzelnen Institute griffen – mit Ausnahme der Zusammensetzungen, die den Begriff Soziologie enthielten – in den Falkensteiner Namenspool: Es begann die Zeit der vielen Namen für das ehemalige Fach Volkskunde, das jedoch unter dem Dach der wissenschaftlichen Fachvereinigung dgv (Deutsche Gesellschaft für Volkskunde) in einem festen Verbund verblieb.

Der vorliegende Band feiert 50 Jahre der kultusministeriellen Genehmigung des Namens „Empirische Kulturwissenschaft“. Der Anlass, diesen Termin groß zu würdigen, war desto naheliegender, da der Diskussionsprozess für die Umbenennung der dgv bereits begonnen hatte und sich EKW als Favorit abzeichnete. Nur ein paar Wochen nach dem 19. Mai 2021, am 22. September 2021, entschieden sich die Mitglieder der dgv – wenn auch in mühseliger Wahl – für den Tübinger Namen: „Deutsche Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft“ (DGEKW). Der Österreichische Fachverband für Volkskunde beschloss am 21. Januar 2022 die Umbenennung in „Österreichische Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft und Volkskunde“ (ÖGEKW). Die Schweizer Gesellschaft für Volkskunde entschied sich am 28. Oktober 2023 für „Empirische Kulturwissenschaft Schweiz“ (EKWS). Viele der Universitäts-Institute des Faches haben sich bereits umbenannt, andere befinden sich im Umbenennungsprozess. Nach mehr als einem halben Jahrhundert hat sich der „Tübinger Zu- und Einfall“ breit durchgesetzt. Verständlich, dass sich der abzeichnenden Tendenz zum Tübinger Fachnamen folgend sein 50. Geburtstag gefeiert werden musste. Und dies ist durchaus gelungen. 

Der Tübinger Jubiläumsband ist eine stattliche, schön aufgemachte und reichhaltig illustrierte3 Publikation geworden. Der schon erwähnte Dokumententeil ist zum einen gerahmt mit Rückblicken auf die Umbenennung und deren Wege (Reinhard Johler, Hermann Bausinger), über die Institutssammlungen (Sabine-Müller Brem und Thomas Thiemeyer) sowie über Tonbandaufnahmen aus dem Institutsarchiv (Karin Bürkert),4 zum anderen mit Erinnerungen an das LUI (Christel Köhle-Hezinger, Wolfgang Alber) und einem Blick von außen von Orvar Löfgren. Dann folgt die Präsentation einer Ausstellung im Haspelturm, die Wolfgang Alber und Joachim Kallinich mit einer Bachelor-Studierenden-Gruppe zum Jubiläum erstellt hatten: „Unser Ding. Sachgeschichte als Fachgeschichte“ in 13 Dingen. Nicht eigens dokumentiert ist die zweite Jubiläumsausstellung in den Räumen des Museums der Universität Tübingen (MUT): „Die Umbenennungsfrage ist damit entschieden“, die die verschiedenen Aspekte der gesamten Publikation gezeigt haben dürfte. Den Schluss bildet eine Umfrage unter EKW-Studierenden über die Zukunft der EKW unter dem Titel: „The Legend Lives?“

Dieser Überblick kann nicht die Fülle des hier ausgebreiteten Materials und noch weniger die gelungene atmosphärische Dichte, vor allem in den Erinnerungsbeiträgen, wiedergeben. Ich will nur einige Aspekte herausgreifen.

Die Ausstellung „Unser Ding. Sachgeschichte als Fachgeschichte“ schließt, ohne dass dies besonders betont werden würde, an die von Gottfried Korff theoretisch verantwortete und die Museumskonzeptionen im Fach und weit darüber hinaus nachhaltig beeinflussende Ausstellung „13 Dinge. Form, Funktion. Bedeutung“5 aus dem Jahr 1992 an. Die jetzt im Buch präsentierte Ausstellung zeigt – als versteckte Hommage an Korff – 13 Dinge aus der Geschichte und den Beständen des LUI, vor allem aus Studienprojekten mit Ausstellung, die – wie „Unser Ding“ auch – ihren Ort im Haspelturm hatten. Objekte sind zum Beispiel Ganzkopfmasken von Helmut Kohl und Dietrich Genscher (1989 in „Wilde Masken“ gezeigt), eine Olympia-Kerze (aus einem Rückblick auf die Münchner Olympiade, 1973), eine punkig umfunktionierte Polizeijacke (die 1986 in „Volkskunst heute“ zu sehen war), aber auch Utz Jeggles Forschungsbegleiter, seine braune Ledertasche, oder – als eine Art hausinterne „Devotionalie“ – einen liegenden Gartenzwerg mit der Aufschrift „H. Bausinger. Dem großen Erforscher des kleinen Mannes“, die Peter Barth und Joachim Kallinich zu Bausingers 50 Geburtstag 1976 gestaltet hatten. Begeht man/frau die Ausstellung virtuell,6 zeigt sich beim Rundgang, dass die im Buch präsentierte Form eine auf die Tradition der „13 Dinge“ zugeschnittene Version ist. Schön aber ist zu sehen, wie der eigentlich fensterlose Ausstellungsraum im Haspelturm durch virtuelle Fenster – durchaus als Statement zu verstehen – rundum zur Stadt geöffnet wurde.

Einen guten Einblick in die Stimmungslage am LUI in der Zeit nach der Umbenennung geben die beiden Rückblicke von Christel Köhle-Hezinger und Wolfgang Alber, deren Illustrierung die Aussagen über den gefühlsmäßigen Zusammenhalt nochmals erweisen. Die theoretisch ausgerichteten Essays von Reinhard Johler, Sabine Müller-Brem und Thomas Thiemeyer sowie von Karin Bürkert geben Einblick in die Neuausrichtung des LUI durch die Umbenennung. Vielleicht wäre der Wieder-Abdruck von Gottfried Korffs Aufsatz „Namenswechsel als Paradigmenwechsel?“ von 1996 hier eine sinnvolle, weil über die Tübinger Verhältnisse hinausweisende Ergänzung gewesen.7 

Diesen Blick über den Tübinger Tellerrand leistet jedoch der Essay von Orvar Löfgren „European Ethnology: Fifty Years of EKW“. In einem Dreischritt, begleitet durch eine eigenwillige Illustrationsstrategie, schreitet Löfgren, von Bausingers Haus-Metapher zu Beginn von dessen „Volkskunde“ aus dem Jahr 1971 ausgehend,8 die Geschichte der EKW im lokalen, aber eben auch nationalen und internationalen Rahmen ab: ein kurzweiliger, witziger Text über Phönix, Faust, Narziss. Neues aus alten abgewirtschafteten und damit überkommenen Gegebenheiten entstehen lassen (Phönix), dieses sich als progressiv Neues Verstehende mit Energie und Einfallsreichtum füllen (Faust), sich nach dieser Installierung, der Neueinrichtung des Hauses also, die ausgeführten eigenen Schritte und das neue Selbstverständnis, das selbstverständlich auch neue Trennungen einschließt, kritisch über- und bedenken (Narziss). Löfgren benennt diese Neuausrichtung als alltagsgebundene und fragt: „What does the focus on everydayness do to our identity and our perspectives on the world?“ (159), wobei der Gegenstand – everydayness, Alltag eben – sich immer differenzierter ausgestaltet und der Zusammenhalt nur in der methodischen Herangehensweise zu leisten ist. Und er schließt den Artikel: „This is the time to be grateful for what the many Tübingen male and female versions of the Phönix and of Faustus and Narzissus has brought us.“ (167) Dem ist nichts hinzuzufügen, und es bleibt dem Fach, das nun mehrheitlich zur Empirische Kulturwissenschaft im Tübinger Sinn gefunden hat, nichts als weitere 50 und mehr produktive Jahre zu wünschen.

„The Legend Lives?“, so lautet der Titel einer Umfrage unter aktuellen Studierenden (2021), die gefragt wurden „Was bedeutet für dich EKW und in welche Richtung könnte sich das Fach in Zukunft entwickeln?“ (215–225). 23 Antworten, ohne große Reflexion des Gewordenseins, geben Löfgrens Scherz ganz zum Schluss seines Artikels, in eine Bildunterschrift gebannt, recht: EKW (in Analogie zu DKW) ein „‚Ethnologischer Kraftwagen‘ rolling along new roads“ (167).

 

 


1 Das Protokoll der LUI-Sitzung vom 13. Januar 1971 ist – neben anderen Dokumenten zur Umbenennung – ohne Paginierung im Abschnitt „Akten“ (zwischen S. 80 und 125) des hier rezensierten Bandes abgedruckt. „Herr Bausinger bringt einen neuen Namen in die Debatte: L.U.I. für empirische Kulturwissenschaft“. Von einer Pause vermerkt das Protokoll nichts; dem neuen Vorschlag dürfte die Abstimmung über die Namen „Europäische Ethnologie“, „Sozialanthropologie“ und „Arbeitsstelle für soziokulturelle Forschungen (u. vkl. Archiv)“ und nach Ablehnung aller drei wohl auch die Pause vorangegangen sein.

2 Ebd. Die folgenden Zitate aus der genannten Sitzung.

3 In den Band eingestreut – jeweils auf Doppelseiten – sind alle Veröffentlichungen der Tübinger Vereinigung für Volkskunde, insgesamt also 128 Titelseiten, abgebildet, auf denen die Entwicklung der Forschungsschwerpunkte gut nachvollziehbar wird. Daneben viele Fotos aus Institut und Exkursionen. Es versteht sich von selbst, dass das berühmte Bausinger-Porträt, vor vergrößerter Comic-Serie ein Tarzan-Heft lesend, nicht fehlen darf (42). Die Ersterscheinung von „‚Tarzan‘–Professor Hermann Bausinger“ (Bildunterschrift) erfolgte unter der Überschrift „Uni-Professor ‚bettelt‘ um Schundhefte“ als Aufmacher in der Abendzeitung. 8 Uhr-Blatt vom 20. November 1967 und ist in der „Umbenennungsfrage“ leider nicht eigens, sondern nur mit Hinweis aus das Hausarchiv nachgewiesen.

4 Eine gekürzte Fassung des Artikels von Karin Bürkert: Unerhörte Aufnahmen. Eine auditive Ethnografie zur Detmolder Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1969. In: Hande Birkalan-Gedik u. a. (Hg.): Detmold September 1969. Die Arbeitstagung der dgv im Rückblick (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 131). Münster, New York 2021, S. 127–150.

5 Gottfried Korff, Martin Rexer u. Hans-Ulrich Roller: 13 Dinge. Form, Funktion. Bedeutung. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Volkskultur in Württemberg, Waldenbuch Schloss vom 3. Oktober 1992 – 28. Februar 1993. Stuttgart 1992.

6 Über diese Seite des MUT gelangt man zu einem virtuellen Rundgang durch „Unser Ding“,

www.unimuseum.uni-tuebingen.de/de/ausstellungen/online-ausstellungen/360-ausstellungen [18.12.2023].

7 Gottfried Korff: Namenswechsel als Paradigmenwechsel? Die Umbenennung des Faches Volkskunde an deutschen Universitäten als Versuch einer „Entnationalisierung“. In: Sigrid Weigel u. Birgit Erdle (Hg.): Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus (Zürcher Hochschulforum 23). Zürich 1996, S. 403–434.

8 Herrmann Bausinger: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Berlin 1971: „das Haus ist in einem so radikalen Umbau begriffen, daß kaum mehr erkennbar ist, wo die tragenden Teile sind; die Räume haben keine vier Wände mehr, sind nicht mehr klar definiert“, S. 7.