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Markus Krumm/Eugenio Riversi/Alessia Trivellone
Die Erfindung der Katharer. Konstruktion einer Häresie in Mittelalter und Moderne
Regensburg 2023, Schnell und Steiner, 208 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7954-3797-8
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2024
Das vorliegende Werk informiert über ein internationales kollaboratives Buchprojekt, basierend auf Ausstellungen unter dem Titel „Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer. Die Konstruktion eines religiösen Feindbildes im hochmittelalterlichen Europa“, die um weitere Beiträge ergänzt worden sind. Vorab sollte kurz erläutert werden, wer die Katharer und deren Bewegung waren. Sie nannten sich die „Reinen“ und zwar im Sinne ihrer dualistischen Weltsicht aus göttlicher und teuflischer Existenz. Dabei spielte die Frage der menschlichen Sexualität eine wichtige Rolle, denn selbst in ehelichen Beziehungen hielten sie den Geschlechtsverkehr für ein Werk des Teufels. Die Reinen allein erreichen das Himmelsziel durch Askese.
Wir dürfen solche Anschauungen heutzutage nicht nur auf Frömmlerkreise in christlichen Bekenntnissen beziehen, sondern sollten uns auch das bekannte Faktum von massenhaften gemeinsamen Suizidversuchen strenger Sekten in Erinnerung rufen. Damit wären wir als historische Kulturwissenschaftler mitten in unseren Fragen nach der prägenden Kraft von Konfessionen und der Wahrnehmung jener vorzustellenden Studien für unser eigenes Fachverständnis. Natürlich wissen wir alle aus der gängigen Christentumsgeschichte, was philosophisch-theologisch dahintersteht: der antike Manichäismus, dessen eifernder Anhänger der spätere heilige Kirchenlehrer Aurelius Augustinus jahrzehntelang gewesen ist. Er war als öffentlicher Rhetorik-Professor ein philosophischer Gott-Sucher und Disputator. Sein später christliches Weltbild ist nach Meinung mancher Gelehrter davon stark geprägt, nämlich eine ebenfalls quasi dualistische Sicht, wenn auch nicht mehr im Sinne des Religionsstifters Mani, der eine Stufenfolge von Gläubigen anstrebte, und zwar bloße „Hörer“ (also wie novizenartige Katechumenen sozusagen noch in der Welt) gegenüber den asketischen „Erwählten“. Doch Augustinus’ Nachfolger haben ihn zum Erfinder von Erbsünde, Fegefeuer und dergleichen erkoren.
Die internationalen Beiträge aus Frankreich, Italien und England ermöglichte die Projektleitung durch Eugenio Riversi von der Universität Bonn und Alessia Trivellone von der Universität Montpellier. Anlass für das grenzüberschreitende Forschungsunternehmen bildete eine Ausstellung im Universitätsmuseum Bonn 2022 und an der Universität Köln 2023. Sie ging auf eine Posterausstellung an verschiedenen französischen Universitäten seit 2018 zurück. Das Begleitbuch hat Markus Krumm von der Universität München zusammengetragen, zum Teil übersetzen lassen und in Regensburg zum Druck gebracht. Der Verlag durfte es mit zahlreichen Abbildungen aus Manuskripten und den Zimelien der großen Bibliotheken in Paris und London versehen.
Ohne Inhaltsverzeichnis lassen sich vorzustellende Schriften nicht wirklich vor Augen führen. Die acht Kapitel lauten: „1. Forschungskonstrukt und Erinnerungsort. Die Katharer in der Moderne. 2. Spätantike Herkunft und mittelalterliche Verwendung. Das Wort ‚Katharer‘. 3. Kirchenreform und Häresie. Die ersten Ketzerverbrennungen in den Rheinlanden. 4. Die Erfindung im Kontext. Eckbert von Schönau und das Feindbild der Katharer. 5. Katharer in Norditalien? Polemische Texte und Feinbilder im Kontext. 6. Häresiekampf als Krieg. Der ‚Albigenserkreuzzug‘ und seine Wahrnehmung in den Rheinlanden. 7. Papsttum, Ketzer und Recht. Der Weg zur Inquisition. 8. Katharer und Katharismus. Perspektiven der jüngeren Forschung.“
Ein gutes Beispiel für die Art der Untersuchungen ist folgende Aussage: „Die 13 originalen Pergamentblätter der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 9992 überliefern 53 Urteile für 182 Personen aus der Grafschaft Toulouse vom Ende der hier thematisierten Inquisition. Diese Urteile zerfallen in zwei Kategorien: Kerkerhaft oder Exkommunikation. Es wurden keine Todesstrafen verhängt; schon gar nicht wurde jemand zum Scheiterhaufen verurteilt.“ (87) Es folgt die Dokumentation eines Falles aus dem Jahre 1246 in Latein mit Übersetzung (190–191). Andererseits findet sich für Toulouse zuvor auf Seite 184 die Abbildung 44, entnommen aus den Stadtstatuten vom Ende des Jahrhunderts mit der Darstellung eines Ketzers im Feuer, bewacht von zwei Bewaffneten. Das heißt, es hat inzwischen eine mentale Meinungsmache im Zusammenhang der Kriege gegeben.
Ein Raum- und Zeitsprung zurück ins Rheinland, wo der den einstigen Volkskundlern sehr geläufige Exempel-Autor Caesarius von Heisterbach über den Albigenserkrieg indirekt berichtet: „Von den dort (in Lavaur) aufgefundenen Häretikern seien 400 durch das Feuer und 50 durch den Galgen bestraft worden“, aber keine „Rechtgläubigen“ ums Leben gekommen (159). Schon im 11. und 12. Jahrhundert gibt es Nachrichten von Ketzerverbrennungen in den Rheinlanden. Sie hängen mit Versuchen einer Kirchenreform zusammen und mit der frühesten Erwähnung von Katharern, zugleich als Häretiker. Politisch ging es gegen die Lebensweise der Regularkanoniker. Bernhard von Clairvaux, der als Mönch etwas von den verschiedenen Anfechtungen (concubiscentia) verstand, wetterte gegen Häretiker, die das Eheleben für Unzucht erklärten (81). Über eine Ketzerverbrennung zu Köln 1163 heißt es: „Da sie nicht den katholischen Glauben annehmen und ihre unheilige Sekte aufgeben wollten, wurden sie [...] von den Richtern und vom Volk der Stadt verbrannt. Auf Anstiftung des Teufels blieben sie so hartnäckig bei ihrer Überzeugung, dass manche von ihnen sich selbst in die wütenden Flammen stürzten.“ (87) Jedenfalls galt im Mittelalter als eines der Häresiemerkmale das Anhangen an den Teufel. Daraus ist dann, wie man in den Kulturwissenschaften weiß, während der späteren Hexenprozesse die Teufelsbuhlschaft in die Delinquentinnen und Delinquenten hineingefoltert worden. Auch Luther glaubte, dass Missgeburten, damals „Monstra“ (Meerwunder) genannt, aus einer solchen Verbindung stammten und daher kein Lebensrecht besäßen. Den „Hexensabbat“ haben schon Miniaturen des späten 15. Jahrhunderts dargestellt (vgl. 61, Abb. 17).
Der Forschungsbericht referiert ausführlich die Schriften des Bischofs Jaques Bénigne Bossuet (1627–1704), der im Kampf gegen die Hugenotten die Albigenserkriege wiederentdeckte und daraus eine katharische Gegenkirche konstruierte (20–22). Heute sind im touristischen Selbstverständnis Südfrankreichs die Katharer zum Gegenstand der sogenannten Populärkultur geworden. Es gibt entsprechende Comics dazu (18–43, mit Abb.), auch das weltweit erfolgreiche Brettspiel „Carcassonne“ aus dem Jahre 2000 als „Erinnerungsort“.
Das Fazit für eine Europäische Ethnologie heute lautet: „Fund und Erfindung“ der einstigen Volkskunde waren ein wenig die Vorwegnahme heutiger konstruktivistischer Historik. Was wir seinerzeit an geistesgeschichtlicher Ideologie der letzten zweihundert Jahre zur Korrektur unserer wechselnden Kulturinterpretationen von „Volksüberlieferungen“ entdeckten, hat allerdings wenig zu tun mit gegenwärtigen Denkmoden der Vorstellung von „Wahrheit“ als Erkenntnis durch „koloniale“ Bedingungen. Deren Vertreter gerieren sich gerne als fortschrittliche Aufklärer mit Erziehungsauftrag. Nichts davon darf man bei den Katharer-Forschern erwarten. Sie überzeugen methodisch wie darstellerisch.
Schon lange wussten wir durch Jaques Le Goff von der Erfindung des Fegefeuers, durch Jean Delumeau (La péché et la peur) vom Phänomen der Culpalbilisation, von Philippe Ariès aus seinen Studien zu Kindheit und zum Sterben (Thanatologie) und jüngst von Peter Schäfer in Deutschland von der Erfindung der Erbsünde unter dem Titel „Die Schlange war klug“.
Unser Kollege Lenz Kriss-Rettenbeck hat uns allen schon lange ins Stammbuch das Motto geschrieben: „Gerede, Gebilde, Gebärde“. Das heißt nämlich, die oft fehlgeleiteten Fragen nach den ideologischen Hierarchisierungen der menschlichen Sinneskonstitution im theologischen wie akademischen Denken von Abend- und Morgenland nicht zu vernachlässigen. Unsere westliche Rangfolge von Wort und Bild, von Hören und Sehen steht unter anderem zur Debatte. In den Geistes- und Naturwissenschaften haben Wortverdinglichung und Schriftfetischismus (Ikonolatrie und Grapholatrie) das Bilddenken und die meisten Formen von symbolischem Kapital geringgeachtet. Heute sind in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen die drei Sprachen der menschlichen Kommunikation bewusst: die Sprache des Schriftlichen, die Sprache des Optischen und die Sprache des Performativen. Die Katharer und ihre unterschiedlichen Nachfahren gehören zu den Verächtern eines rationalen Weltbildes und der komplizierten menschlichen Natur.