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Aktuelle Rezensionen


Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen/Ludwig-Uhland-Institut

Kultur ist. Beiträge der Empirischen Kulturwissenschaft in Tübingen

(Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Untersuchungen 128), Tübingen 2022, ekw Verlag u. Tübinger Vereinigung für Empirische Kulturwissenschaft e. V., 214 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-947227-11-2


Rezensiert von Michaela Fenske
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.09.2024

Angesichts der auch von Wissenschaftlern wie dem Politologen Ingolfur Blühdorn ausgerufenen Zeitenwende(n) (vgl. Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Berlin 2024) braucht es Selbstvergewisserungen. Das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft hat das 50-jährige Jubiläum seiner Umbenennung im Jahr 2021 für ein intensives Nachdenken über sein Geworden sein und seine jetzigen Standpunkte genutzt: eine Feier und zahlreiche Veranstaltungen, zwei Ausstellungen (eine davon mit Katalog, herausgegeben von Karin Bürkert und Reinhard Johler: „Die Umbenennungsfrage ist damit entschieden.“ Tübingen 2021) und der hier rezensierte Sammelband sind im Zuge dieses Nachdenkens entstanden. Das für „(junge) Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler und (Alltags-)Kulturinteressierte“ konzipierte „Lesebuch“ (10) ist Hermann Bausinger gewidmet, der gegen Ende des Jubiläumsjahres verstarb. Auf Bausingers 1994 erschienen Aufsatz „Kultur ist mehr …“ verweist auch der Titel des Bandes.

Die Umbenennung unseres Fachs wird gemeinhin als Teil des sozialen Aufbruchs der 1970er Jahre gedeutet. Sie ist damit Teil jenes Aufbruches, dessen Ende Blühdorn mindestens mit Blick auf die angestrebte sozial-ökologische Transformation in seinem neuesten Buch verkündet. Nun wirft Blühdorns Diagnose aufgrund seiner unklaren empirischen Basis sowie der starken Verallgemeinerungen durchaus Zweifel auf. Da angesichts der politischen und sozialen Entwicklungen unserer Tage jedoch weitgehende Einigkeit über die immensen Herausforderungen besteht, denen sich gerade unsere Alltagskulturwissenschaft gegenübersieht, nutze ich die Blühdornsche Zeitdiagnose, um zu fragen, was die EKW laut Lesebuch zur Verarbeitung der Krisenlage beizutragen hat. Um es vorwegzunehmen: Das Fach trägt vor allem Grundsätzliches in Anlage und Perspektive bei, nicht zuletzt, weil es sich seit seiner Neuaufstellung in Tübingen (und anderswo) stets in engem Austausch mit gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren sowohl in Kooperation als auch in Widerspruch entwickelt hat. Diese enge Verbindung zu Gesellschaft, ihre differenzierte Beobachtung und Deutung, ist es auch, die Bausingers wiederabgedrucktem Text erfrischende Aktualität verleiht.

In acht Beiträgen beleuchten die Tübingerinnen und Tübinger die derzeitigen Forschungsfelder und das Kulturverständnis ihres Instituts. Den Anfang macht Christoph Bareither mit seiner Skizze der Varianten des Kulturbegriffs am LUI. Neben bekannten, im Fach vielfach diskutierten Überlegungen um Offenheit, Inhalte und grundlegende Einordnungen des Kulturbegriffs und den damit verbundenen theoretischen Konzepten enthält der Beitrag auch Neues. Dazu gehört etwa die Öffnung, zwar nicht gegenüber posthumanistischen Theorien im Sinne einer Dezentrierung menschlicher Akteurinnen und Akteure insgesamt, aber immerhin im Sinne einer Erweiterung der Analyse um die „mehr-als-menschlichen Akteurinnen und Akteure“ (27). Die Fluidität und Diversität des von Bareither aufgefächerten Kulturverständnisses weiterführend, geht es Monique Scheer um „das Verstehen von Zusammenhalt in der Vielfalt“ (47). Hier setzt sich Scheer ebenso mit der Tradition des Denkens und Analysierens von sozialer Verbundenheit auseinander, wie sie wohlüberlegte Anregungen für aktuelle Diskussionen beiträgt: EKW wird hier als mit Wolfgang Schiffauer einmal mehr als „Differenzierungswissenschaft“ (62) gedacht, die Vielfalt erkundet und versteht. Thomas Thiemeyer widmet sich der „Kultur der Wissenschaft“ am Beispiel des Göttinger Forums Wissen. Thiemeyer geht es um Praktiken, Politiken und Räume des Wissens, für die ihm ein offenes Forum des gemeinsames Wissen-Schaffens zeitgemäß erscheint.

In ihrem Beitrag zur Technikforschung betrachtet Helen Ahner Technik als „produktives Rätsel“ (99), als Gegenstand und Perspektive von Forschung. Anschaulich beleuchtet sie verschiedene Orte und Narrative von Technik als Zugang zum Verständnis von Gesellschaft und ihren Alltagen. Um die in Tübingen im Gegensatz zu vielen anderen Fachstandorten nicht der Germanistik überlassene Sprachforschung geht es Hubert Klausmann. Auch er knüpft zunächst an der historischen Genese dieses Forschungsfeldes an, konkret am Arno-Ruoff-Archiv. Anschließend stellt er die aktuellen Sprachforschungen des LUI und deren hohe Relevanz dar, denn es macht gerade in Zeiten (scheinbar) drastisch auseinanderdriftender sozialer Gruppen einen Unterschied, wer in den verschiedenen Alltagsräumen mit wem reden und wen verstehen kann.

Die Hörbarkeit von Kultur bringen Karin Bürkert und Mirjam Nast den Lesenden nahe. Mit ihrer Einladung für eine „auditive historische Ethnografie“ (119), knüpfen sie an, auch in Tübingen erarbeitete Überlegungen zur historischen Ethnografie an und betreten zugleich Neuland. Sehr überzeugend wird hier eine Erweiterung der historischen Analyse um Klänge und das Zuhören als Methode erarbeitet. Die Relevanz von Kultur und Kulturarbeit ist Thema von Wolfgang Sannwald. Mit seinen Erfahrungen im Bereich des „Public Engineering“ am Beispiel des Landkreises Tübingen zeigt er zugleich, was die erfolgreiche Verbindung von Wissenschaft und Praxis für gesellschaftliche Erinnerungs- und Integrationskultur zu leisten vermag. Abschließend zeigt Reinhard Johler mit seinem Ausflug in die historische Wissen(schafts)forschung, dass innovative Ansätze in der Forschung schnell verloren gehen können. Dann nämlich, wenn andere lauter sind als die differenziert Argumentierenden. Am Beispiel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der kulturellen Vielfalt der Habsburg-Monarchie und des „Hibridismus“ zeigt er, wie ein offenes Konzept der Kulturanalyse im Zuge der Ideologisierung im 19. und 20. Jahrhundert zunächst verloren ging, um im 21. Jahrhundert in anderem Gewand wiederentdeckt zu werden.

Dichte empirische Forschungen in engem Austausch mit gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, offene Forschungskonzepte und -begriffe sowie Selbstreflexion wissenschaftlicher Akteurinnen und Akteure sind einige Antworten der Alltagskulturwissenschaft EKW im Zuge der Neuorientierung des Faches. Dabei liest sich das Lesebuch, gerade wegen seiner hier nur angedeuteten Differenzierungen, nicht gefällig, wie es bei dem postulierten Genre „Lesebuch“ zu erwarten wäre. Gerade deshalb eignet es sich allerdings auch als Teil unserer Antwort auf den Umgang mit den Herausforderungen der Zeit, weil es zum (weiteren) Nachdenken sowie gelegentlich zum Widerspruch herausfordert. Damit lädt es ein, die ursprünglich mit Tübingen und mit Hermann Bausinger verbundenen kritischen Perspektiven auf die (Alltags-)Kulturen in Wissenschaften und Gesellschaften weiter zu entwickeln.