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Bina Elisabeth Mohn

Kamera-Ethnographie. Ethnographische Forschung im Modus des Zeigens. Programmatik und Praxis

(Locating Media 13), Bielefeld 2023, transcript, 278 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-3531-7


Rezensiert von Torsten Näser
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.09.2024

Ein wesentliches Ziel der „Kamera-Ethnographie“, die im hier besprochenen Band behandelt wird, ist es, Forschenden für ihre Arbeit in vorzugsweise kleinräumigen Feldern epistemische und methodische Praktiken der video-kameragestützten Beobachtung, der Entdeckung und des dichten Zeigens von Phänomenen und Praxen an die Hand zu geben. Wissenschaftsgeschichtlich im Kontext von Laborstudien und vor dem Eindruck der Writing-Culture Debatte entwickelt, möchte die Kamera-Ethnografie methodisch systematisiert und unter Zuhilfenahme der Videokamera als Aktant Forschende dazu anleiten, Sichtbarkeit zu erzeugen und ein Sehen in Unterscheidungen und Zusammenhängen anzuregen. Dabei geht die Kamera-Ethnografie zunächst von einer Bildlosigkeit des Sozialen aus, also davon, dass nicht alles ohne weiteres visuell zu erfassen ist, sondern dass es dafür einer „hervorbringende[n] Methodologie“ (36) von Bildmaterialien bedarf. Diesen Prozess entwirft der Ansatz entlang der Blickarbeit in sechs einzelnen Forschungsphasen, die nicht streng chronologisch aufeinanderfolgen, sondern die zirkulär angewendet werden sollen. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Feldforschungsphase zu nennen, in der erste Aufnahmen mit dem Ziel, bei den Forschenden ein Interesse an etwas zu generieren, gemacht werden. In der Laborphase werden ausgewählte Aufnahmen in experimentellen Zugängen und zum Teil unter Zuhilfenahme von montagebasierten Verfremdungstechniken geschnitten. Aus diesen Versuchen werden in der Publikationsphase Filme beziehungsweise sogenannte Anordnungen, womit auch Videoinstallationen gemeint sein können. Diese werden sowohl dramaturgisch und didaktisch, als auch rhetorisch bearbeitet. Die Rezeptionsphase hingegen zielt auf Feedback-Erhebungen und daraus folgende Ko-Konstruktionen des Gesehenen durch die Rezipierenden. In der Reflexionsphasen wird das eigene methodische Vorgehen kritisch betrachtet. Die Anwendungsphase beschreibt schließlich den Übergang des Erarbeiteten in gesellschaftliche Anwendungskontexte.

Der Ansatz der Kamera-Ethnografie ist untrennbar mit dem Namen Bina Elisabeth Mohn verbunden. Mohn hat in diversen Kooperations- und Projektkontexten eine ganze Reihe filmische beziehungsweise Kamera-ethnografische Studien, in jüngster Zeit aber auch Video-Installationen realisiert, vor allem in Forschungsfeldern, in denen die Methode besonders prägnante Ergebnisse verspricht, etwa im pädagogischen Bereich im Rahmen von in Kindertagesstätten oder Schulen angesiedelten Forschungen. Eine Liste dieser Arbeiten ist auf der Website des Zentrums für Kamera-Ethnografie (kamera-ethnographie.de) zu finden, die auch Workshops sowie Projektberatungen anbietet. Auf der Website sind auch die Textpublikationen Mohns zur Kamera-Ethnografie aufgelistet, die bis in die Anfänge der 1990er-Jahre zurückreichen. Diese widerspiegeln die über Jahre sukzessive Entwicklung und Weiterentwicklung der Methode und umfassen zahlreiche Aufsätze in Sammelbänden, Handbuch-Artikel sowie mit der (unveröffentlichten) Magisterarbeit und der Dissertation sogar zwei Monografien. Angesichts dieser Fülle an Publikationen verwundert es nicht, dass am methodischen Ansatz interessierte Leserinnen und Leser im hier vorliegenden Band einiges aus den bereits existierenden Texten wiederentdecken.

Der Band stellt eine sehr umfangreiche systematische Methodenpublikation dar, die auf fast dreihundert Seiten den Ansatz der Kamera-Ethnografie sowie deren einzelne methodische Schritte detailliert beschreibt, theoretisch anbindet und reflektiert. Zur Übersichtlichkeit trägt zunächst die gut strukturierte Gliederung bei. Sie ermöglicht es auch Leserinnen und Lesern, die sich schon in die Thematik eingearbeitet haben, einige der aus den bisherigen Publikationen zentralen Schlagworte wie etwa das der Blickschneise schnell anzusteuern. Zum gelungenen Aufbau des Bandes liefert auch dessen druckgrafische Gestaltung einen wichtigen Beitrag, indem die einzelnen Kapiteltitel, aber auch inhaltliche Einschübe sowie Fallbeispiele auf farblich abgesetzten Seiten platziert sind. Vor allem die Fallbeispiele sind hier hervorzuheben. Sie konkretisieren die einzelnen methodischen Schritte und tragen dabei – im Wesentlichen durch die Auseinandersetzung mit den reichlich verwendeten Fotos beziehungsweise Screenshots – dazu bei, das eigene Hinsehen zu schulen und dadurch maßgeblich das Verständnis des Ansatzes zu befördern.

Die Kamera-Ethnografie kann nach wie vor als einer der innovativsten und – maßgeblich bedingt auch durch diesen alles in allem gelungenen Band – methodisch fein ausdifferenziertesten Ansätze innerhalb der visuellen Anthropologie bezeichnet werden. Angesichts dessen verwundert, dass sie nicht breiter im Diskurs aufgegriffen wird. Auch wenn die Gründe hierfür vielschichtig sind, mag es daran liegen, dass  immer wieder betont wird, wie., wie wenig der Ansatz mit anderen video-(ethno)grafischen Zugängen zu tun hat, vor allem denen – das wird zwischen den Zeilen deutlich –, die sich um den Terminus des ethnografischen Films versammeln. Sicherlich: Einige der Kritikpunkte, die Mohn gegenüber den Epistemen und Methoden ethnografischer Filmarbeit vorbringt (beispielsweise dessen Verständnis von partizipativer Forschung) sind berechtigt. Dennoch erschwert diese „boundary work“ die verschiedenen Ansätze synergetischer zu betrachten und die Kamera-Ethnografie für andere videografische Diskursfelder als anschlussfähig vorzustellen. Aus meiner Sicht liegt aber gerade darin Potential, da sich die Zugänge wechselseitig befruchten können, gerade weil sie durchaus auf geteilten Wissensbeständen fußen. So enthalten ethnografische Filme beispielsweise nicht selten Szenen, die stark an die sogenannten Anordnungen aus dem Kontext kamera-ethnografischer Studien erinnern, oft linear, zum Teil aber auch synchron via Splitscreen, wie es gerade in essayistisch-ethnografischen Filmen Gang und Gäbe ist. Hinzu kommt, dass die meisten ethnografischen Filmemacherinnen und Filmemacher ihr eigenes mediales Tun durchaus kritisch reflektieren: Dass sie am naiven Credo festhalten, einfach „Situationen aufzunehmen“, ist längst zur absoluten Ausnahme geworden. Aus diesem Grund hätte ich mir für die Publikation gewünscht, die Kamera-Ethnografie auch stärker entlang ihrer Schnittstellen zu anderen videografischen Methoden zu skizzieren. Dies begünstigte sicherlich, dass der Ansatz stärker aufgegriffen und ihm dadurch auch die Aufmerksamkeit zu Teil werden würde, die er ohne jeden Zweifel verdient.