Aktuelle Rezensionen
Jan Kellershohn (Hg.)
Der Braunkohlebergbau im 20. und 21. Jahrhundert. Geschichte – Kultur – Erinnerung
(Landesgeschichtliche Beiträge 1), Halle an der Saale: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, 2023, 298 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-948618-52-0
Rezensiert von Michelle Orth
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.09.2024
Mit dem Pariser Klima-Abkommen im Jahr 2015 hat sich auch die öffentliche Debatte über Klimawandel und Energiewende entfaltet. Diese wird in den letzten Jahren von einer wachsenden Zahl wissenschaftlicher Beiträge begleitet. Dabei liegt der Fokus oftmals auf der Frage nach der Umsetzung einer klimabewussteren Energiepolitik in den 197 Ländern, die die Vereinbarung unterzeichneten. Auch wenn diese umstritten ist, kohlestoffbasierte Volkswirtschaften stehen in vielen Ländern, so auch in Deutschland, vor enormen Herausforderungen. In Monografien und Sammelbänden wird dieser Prozess des „Umbruchs“ auf verschiedene Weise begleitet. Der vorliegende Band schließt an solche Arbeiten an. Basierend auf einer Tagung des Instituts für Landesgeschichte am Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt im Dezember 2021 (9) untersuchen die Beiträge die vielschichtigen Aspekte des Braunkohlebergbaus in Deutschland und dessen weitreichenden Auswirkungen auf Gesellschaft, Umwelt und Kultur und bieten tiefgehende und facettenreiche Analysen. Herausgeber Jan Kellershohn und die Mitautorinnen und Mitautoren haben eine beeindruckende Sammlung von Aufsätzen zusammengestellt, die historische, kulturelle, ökologische und soziale Dimensionen des Bergbaus (mit Fokus auf den Braunkohletagebau) beleuchten. Dabei werden Ansätze und vergleichende Perspektiven dargestellt, sowie die „Vergangene Gegenwart, Gegenwärtige Vergangenheit, Zukünftige Vergangenheit“ (5–6) des Braunkohlebergbaus untersucht. Thematisch stehen vor allem die Bereiche des industriellen Erbes und der Kultur, die Frage nach Umweltverschmutzungen und Rekultivierungsmaßnahmen sowie die Untersuchung von Grenzen auf sozialer und kultureller Ebene im Fokus der Aufsätze.
Der Sammelband beginnt mit einer Untersuchung des industriellen Erbes des Braunkohlebergbaus. Kellershohn beschreibt, wie Überreste des Bergbaus, wie im düster wirkenden Film „Gift“ (1995) dargestellt, das kulturelle Gedächtnis prägen. Der Film des britischen Filmemachers Mike Stubbs und von Ulf Langheinrich, der in der betroffenen Stadt Wolfen-Bitterfeld in Ostdeutschland aufgewachsen ist, kann als kurze visuelle Reise durch die surreal wirkende Landschaft der Tagebaue aufgefasst werden und gibt damit Leserinnen und Lesern einen Eindruck der Region. Helen Wagner und Sabine Breer analysieren anschließend die Bedeutung von Kunst und historischen Erinnerungen aus der Bergbauära, deren zugehörige Objekte heute in Archiven bewahrt werden.
Ein bedeutender Teil des Buches widmet sich der Umweltverschmutzung durch den Tagebau und den Strategien zur Rekultivierung der zerstörten Landschaften. Martin Baumert hebt die Rolle der ostdeutschen Expertinnen und Experten hervor, die innovative Methoden zur Neutralisierung der Versauerung in Abraumhalden erarbeiteten und damit international führend waren. Auch die Entwicklungen in Westdeutschland, insbesondere im Rheinland, werden beleuchtet.
Felicitas Weiß und andere Autorinnen und Autoren untersuchen die sozialen und kulturellen Auswirkungen des Braunkohleabbaus. Sie analysieren die traumatischen Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner, die wegen des Tagebaus umgesiedelt wurden, und speziell den Einfluss auf kulturelle Minderheiten wie die sorbische Bevölkerung in der Lausitz. Diese Studien zeigen die tiefreichenden sozialen Auswirkungen auf und langfristigen Folgen für betroffene Gemeinschaften.
Der Sammelband überzeugt durch die Breite der behandelten Themen und eröffnet damit unterschiedliche Perspektiven. Von der kulturellen Bedeutung des industriellen Erbes bis hin zu den technischen und ökologischen Herausforderungen der Rekultivierung bieten die Studien einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Aspekte des Braunkohlebergbaus. Alle 15 Beiträge im Band basieren auf gründlichen Forschungen und die Analysen sind detailliert ausgearbeitet. Besonders hervorzuheben ist die Untersuchung der ostdeutschen Rekultivierungsstrategien, die in ihrer Methodik und ihrem Erfolg international betrachtet werden sollten. Zudem verleiht die Einbindung von Analysen und Reflexionen kultureller Phänomene, wie die der Kunstwerke aus der DDR-Zeit, und das Eingehen auf Sorbinnen und Sorben dem Band eine zusätzliche Tiefe und zeigt damit die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses in postindustriellen Gesellschaften.
Der gesetzte räumliche Schwerpunkt auf Deutschland, insbesondere Ost- und Westdeutschland, grenzt das Thema Braunkohlebergbau geografisch ein. Eine breitere internationale Perspektive hätte die globale Bedeutung der im Werk behandelten Themen noch deutlicher hervorheben können.
Insgesamt ist der Sammelband eine wertvolle Ressource für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende und alle, die sich für die Geschichte und Zukunft des Braunkohlebergbaus interessieren. Er bietet nicht nur einen historischen Rückblick, sondern auch wichtige Einsichten in die Herausforderungen und Chancen, die mit der Rekultivierung der Bergbaugebiete und deren kulturellem Erbe verbunden sind.