Aktuelle Rezensionen
Karolina Kühn/Mirjam Zadoff (Hg.)
To be seen. Queer lives 1900–1950
Ausstellungskatalog. NS-Dokumentationszentrum 07.10.2022–21.05.2023. München 2023, Hirmer, 399 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7774-3992-1
Rezensiert von Raul Reinhardt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.09.2024
Hinter den silbrig schimmernden Lettern „TO BE SEEN. Queer Lives 1900–1950“, welche sich im Sonnenlicht in den Farben des Regenbogens spiegeln, lenkt das Cover des Ausstellungskatalogs den Blick auf einen Abzug eines Glasplattennegativs aus dem Jahr 1933. Zu sehen ist ein amtliches Foto der kriminalbiologischen Sammelstelle Hamburg, welches sich heute im Staatsarchiv Hamburg befindet und einen sitzenden, androgyn wirkenden Menschen zeigt – sie selbst nennt sich Liddy.
Liddy Bacroffs Biografie bietet einen tiefen Einblick in das tragische Leben einer Person, die gegen gesellschaftliche Normen und Unterdrückung während der NS-Zeit kämpfte. Heinrich Habitz, so Liddys juristischer Name, geboren 1908 in Ludwigshafen, entschied sich früh ihre empfundene Weiblichkeit und sexuellen Vorlieben auszuleben, wodurch ihr Leben als Transvestit und Prostituierte in den 1920er und 1930er Jahren von mehrfachen Verhaftungen und Verurteilungen geprägt war. Trotz der schweren Repressalien verfasste Bacroff während ihrer Gefängnisaufenthalte berührende Texte, die ihr Innenleben beleuchten. Letztlich führte die Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime zu ihrer Ermordung im Konzentrationslager Gusen I im Jahr 1943.1
Mit einem Fokus auf den Zeitraum von 1900 bis 1950, insbesondere in Deutschland, thematisiert der Ausstellungskatalog, herausgegeben von Karolina Kühn und Mirjam Zadoff, sich stetig wandelnde Herausforderungen, denen queere Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüberstanden und bisweilen bis heute gegenüberstehen. Liddy Bacroffs Geschichte ist ein erschütterndes Zeugnis der Gewalt gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten und kann gleichermaßen als paradigmatisches Exempel gelesen werden für die Gräueltaten, die während dieser Zeitspanne an „devianten Subjekten“ der Gesellschaft verübt worden sind. Ihre Biografie verdeutlicht zudem die umfassende wissenschaftliche Recherche, die diesem Katalog zugrunde liegt. Erstmals wird ein breites Spektrum an bekannten und unbekannten Biografien, Fotografien, Zeitungsartikeln, Briefwechseln, Protokollen, Gedichten, Ausweisdokumenten und weiteren Archivalien gebündelt betrachtet, die bisher im Kontext der Verfolgung queerer Lebensrealitäten unbeachtet blieben.
Bereits die Einführung bietet einen fundierten Überblick über die thematischen Schwerpunkte und die Struktur des Katalogs, welcher sich in die Bereiche „Selbstermächtigung“; „Begegnen, Bewegen – Banden bilden“; „Wissen, Diagnose, Kontrolle“; „Körper fühlen, Bilder sehen“ sowie „Leben in der Diktatur“ untergliedert. In jedem dieser Kapitel finden sich zudem ein beziehungsweise zwei ergänzende Essays von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Bereichen, wodurch sich eine multidisziplinäre Perspektive ergibt. Zwischen den einzelnen Kapiteln artikuliert sich der historisch-gegenwärtige Diskurs ferner durch zeitgenössische Positionen diverser Künstlerinnen und Künstler, darunter unter anderen: Pauline Boudry, Renate Lorenz, Jonathan Penca und Wolfgang Tillmans, welche mit ihren Interpretationen und Interventionen auf ihre je eigene Weise queere Geschichte in ihrer Mannigfaltigkeit illustrieren. Daneben ist zu hoffen, dass die zweisprachige Darstellung der Inhalte in englischer und deutscher Sprache ebenfalls dazu beiträgt, dass dieses Werk einen internationalen Lesekreis erreicht und damit einen breitenwirksamen Dialog über die Bedeutung und Relevanz queerer Geschichten weltweit anregt.
Somit haben Karolina Kühn, Kuratorin der gleichnamigen Ausstellung und Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrum München, mit ihrem Ausstellungskatalog nicht nur eine Sammlung von historischen Sach- und Bildquellen für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern bieten zugleich auch einen Raum, um über die gesellschaftlichen Normen und die Unterdrückung queerer Identitäten im 20. Jahrhundert zu reflektieren. Neben neuen Erkenntnissen präsentiert der Ausstellungskatalog anschauliche Analysen von Schlüsselereignissen, welche die vielschichtigen Erfahrungen, Kämpfe und Geschichten queerer Lebenswege spiegeln: angefangen bei den ersten Emanzipationsbestrebungen um die Jahrhundertwende durch prägende Personen wie Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895), August Fleischmann (1859–1931), Anita Augspurg (1857–1943), Claire Waldoff (1884–1957) oder Gerda von Zobeltitz (1891–1963); der Etablierung des Sexualwissenschaftlichen Instituts in Berlin durch Magnus Hirschfeld (1868–1935) im Jahr 1919; der Intersexualitätslehre in der Zeit der Weimarer Republik, welche aus heutiger Perspektive fragwürdige Sexualitäts- und Geschlechternormen hervorbrachte; bis hin zur Zerstörung queerer Subkulturen während des nationalsozialistischen Regimes sowie der anhaltenden Diskriminierung von L.G.B.T.Q.I.A.+ Personen in der Nachkriegszeit.
Nach Kriegsende litten vor allem homosexuelle Männer noch bis in die 1970er Jahre unter § 175, wie im Ausstellungskatalog von Sébastian Tremblay in seinem Beitrag „Der Rosa Winkel: Vielschichtige Symbolik und Erinnerung in der Schwulenbewegung beiderseits des Atlantiks“ behandelt wird. In den 1980er Jahren verschob sich der gesellschaftliche Blick auf Homosexualität_en weiter durch die aufkommende AIDS-Epidemie, wodurch erneut Stigmatisierungs- und Marginalisierungserfahrungen Teil des Alltags wurden. Es ist daher kaum verwunderlich, dass sich sowohl in unserer noch immer in Teilen patriarchalstrukturierten Gesellschaft als auch in der Scientific Community, bisher nur partiell mit queerer Historie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt wurde. Diese Geschichte(n) wurden häufig übersehen, vernachlässigt oder gar vernichtet. Deutlicher formuliert: „Queere Geschichte wird nach 1945 kaum erinnert oder archiviert. Bis heute kennen wir nur einen Teil der Vorreiterinnen und Vorreiter der queeren Emanzipationsbewegung. Noch weniger wissen wir über das Leben derjenigen, die verfolgt, ins Exil getrieben, ermordet wurden – oder einfach unsichtbar geblieben sind.“ (386)
Das dem Ausstellungskatalog vorangestellte Begleitwort der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, sowie die Förderung und Unterstützung durch die Kulturstiftung des Bundes, unterstreichen die gesellschaftliche Relevanz des Themas, das sich weit über den rein historischen Kontext hinaus bis in die Gegenwart erstreckt und hoch aktuell ist. Nicht zuletzt die jüngste Gesetzesänderung im Irak im April 2024, welche homosexuelle Beziehungen mit bis zu 15 Jahren Haft sanktioniert, evoziert frappierende Assoziationen, die nur unweigerlich an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern lassen.2 Ähnliches konstatiert die Juristin und afroamerikanische Transaktivistin Michaela Dudley in ihrem Beitrag „Weimar 2.0: Reflexionen zwischen Regenbogen und Rosa Winkel“, in dem sie einerseits den historisch-rechtlichen Kontext hierzulande nachzeichnet und andererseits die gegenwärtige globalwirkende Realität entfaltet: „Weltweit wird Homosexualität in sage und schreibe 69 Ländern weiterhin kriminalisiert, und in elf Staaten steht darauf sogar die Todesstrafe. […] Ausgerechnet in der bunten Republik Deutschland, meiner Wahlheimat, erdreiste ich mich, vor ‚Weimar 2.0‘ eindringlich zu warnen. […] In unserer geschichtsvergessenen Spaßgesellschaft bauen wir Safe Spaces auf noch ungeräumten Minenfeldern auf.“ (64–66)
Obgleich der Hauptaugenmerk des Ausstellungskatalogs auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland sowie auf den zahlreichen Darstellungen diverser Biografien und Objekten liegt, lassen sich nicht nur in Dudleys Essay, sondern auch bei allen anderen Beitragenden gegenwartskritische und supranationale Blickrichtungen erkennen. Durch die eingehende Analyse der Vergangenheit – mithilfe der vielschichtigen Quellengrundlage – wird Historizität erfahrbar gemacht, wodurch Einsichten für das Verstehen derzeitiger globaler und politischer Entwicklungen gewonnen werden können. Die Herausgeberinnen legen daher einen eindrucksvollen und bedeutenden Grundstein zur Erforschung und Dokumentation queerer Geschichte(n) und liefern darüber hinaus einen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Gender- und Sexualitätsforschung sowie zur historisch-hermeneutischen Interpretation queerer Lebenswelten. „TO BE SEEN: Queer Lives 1900–1950“ ist einerseits ein herausragendes Beispiel für kulturwissenschaftliche „Aufarbeitungsarbeit“ und andererseits ein wichtiges Zeugnis der Widerstandsfähigkeit und Kampfbereitschaft queerer Menschen in einer Zeit der Unterdrückung und Diskriminierung. Sowohl die Sonderausstellung im NS-Dokumentationszentrum in München als auch der Ausstellungskatalog tragen gleichermaßen dazu bei, die unsichtbaren Geschichten und Lebenswelten queerer Menschen sichtbar zu machen und zu erhalten. Abschließend sei daher auf die begleitende Webseite verwiesen, welche eine Fülle von weiterführenden Informationen – darunter ein Glossar mit grundlegenden Begriffen und eine digitale Zusammenstellung der Ausstellungsinhalte über das Ende der analogen Ausstellung hinaus – bereitstellt.3 Dies ermöglicht es den Rezipierenden, sich vertieft mit dem Thema auseinanderzusetzen und bietet dabei eine wertvolle Ergänzung zum gedruckten Werk.
1 Vgl. Gedenkbuch für die Toten des KZ Mauthausen und seiner Außenlager. Liddy Bacroff (Heinrich Habitz) 1908–1943. Mauthausen Memorial, www.raumdernamen.mauthausen-memorial.org/index.php?id=4&p=52894 [25.5.2024].
2 Siehe hierzu: Irak stellt homosexuelle Beziehungen unter Strafe. In: Tagesschau 28.4.2024, www.tagesschau.de/ausland/asien/irak-haftstrafe-homosexualitaet-100.html [25.5.2024].
3 Siehe hierzu: To Be Seen. Queer Lives 1900–1950. NS-Dokumentationszentrum München, www.stories.nsdoku.de/tobeseen [25.5.2024].