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Katharina Bergmann

Jüdische Emigration aus München. Entscheidungsfindung und Auswanderungswege (1933–1941)

(Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern 13), Berlin 2023, XV, De Gruyter Oldenbourg, 375 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-11-072716-6


Rezensiert von Luisa Rupprich
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.10.2024

Den Nationalsozialismus aus der Täterperspektive darzustellen, war lange der einzig möglich erscheinende Weg in der Geschichtswissenschaft und für Museen. Aus den vorliegenden Quellen und Überlieferungen schien diese Perspektive leichter darzustellen zu sein als die der Opfer. Letztere hingegen wurden lange als große Masse von Menschen betrachtet, deren Lebenswege, Hoffnungen und Perspektiven aufgrund der scheinbar fehlenden Quellen nicht mehr zu rekonstruieren sei. Seit einigen Jahren wird diese Sichtweise aufgebrochen. Forschungsergebnisse, Bücher und Ausstellungen thematisieren nun die Perspektive der Betroffenen: von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie der aufgrund von § 175 (StGB) Verfolgten und anderen Gruppen. Auch das vorliegende Buch, die 2021 von Katharina Bergmann am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München vorgelegte Dissertation „Jüdische Emigration aus München. Entscheidungsfindung und Erinnerungswege (1933–1941)“ geht diesen Weg. Mithilfe der umfassenden Datenbank „Gedenkbuch der Münchner Juden“ des Münchner Stadtarchivs erfasst Bergmann die Möglichkeiten der Auswanderung von Münchner Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Der zeitliche Rahmen beschränkt sich auf 1933 bis 1941, da der Herbst 1941 mit dem Auswanderungsverbot für Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich das Ende der legalen Emigration bedeutete.

Das Buch verfolgt einen quantitativ-qualitativen Ansatz, was bedeutet, dass die quantitative Aufschlüsselung der betrachteten Gruppe mit den Biografien von 22 Personen aus vier Familien verknüpft wird. Die Verbindung der Makro- und Mikroperspektive auf methodischer Ebene soll die jeweiligen Vor- und Nachteile der beiden Vorgehensweisen ausgleichen. Bergmann stellt in der Einleitung kurz die vier Familien Blechner, Cahnmann, Goldschmidt und Schwager vor, deren Auswahl neben bestimmten sozialen Faktoren wohl auch in der guten Quellenüberlieferung begründet ist. Die Datenbank des Stadtarchivs München, die 99 % aller Münchner Jüdinnen und Juden umfasst, stellt die Basis für die umfassende statistische Aufschlüsselung dar, welche Bergmann als Grundlage für ihre Phaseneinteilung der Emigration sowie ihre Betrachtung anderer Einflussfaktoren verwendet. Darüber hinaus stützt sich die Autorin auf weitere Datenerhebungen wie zeitgenössische Volkszählungen oder Erhebungen der „Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung“. Mögliche statistische Abweichungen, die beispielsweise durch andere Gruppendefinitionen begründet sind, merkt die Autorin an und bereinigt die Werte. Diese vergleichenden Zahlen sind damit kohärent und unterstützen die Analyse.

Nach einer Definition verschiedener Begriffe wie Binnenmigration, Emigration und Rückwanderung teilt Katharina Bergmann die Emigration aus München in vier Phasen ein. Die erste umfasst die Zeit von Frühjahr 1933 bis Herbst 1937 mit einer ersten Verfolgungswelle zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft. Die zweite Phase reicht von Herbst 1937 bis September 1939 und beinhaltet auch die Reichspogromnacht vom 8. auf den 9. November 1938, die Bergmann weniger als Auslöser und mehr als Akzelerationspunkt betrachtet, also als beschleunigenden Faktor der Emigration. Die dritte Phase umfasst nur noch die Zeit zwischen dem Kriegsbeginn im Herbst 1939 und Oktober 1941. Die vierte Phase setzt im Oktober 1941 mit dem Ende der legalen Emigration aus dem Deutschen Reich ein. Danach begannen die großen Deportationswellen, die die 49 % der noch in München verbliebenen Jüdinnen und Juden in großen Gruppen in die besetzten Ostgebiete brachten, wo viele sofort nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Mithilfe der Datenbank können auch diejenigen Münchnerinnen und Münchner erfasst werden, die bereits ins Ausland emigriert waren und nach der Besetzung ihres Exils von dort aus deportiert wurden.

Nach der Einteilung und Erklärung der vier Emigrationsphasen in Kapitel vier befasst sich Bergmann in Kapitel fünf mit anderen Einflussfaktoren. Darunter sind die kollektiven Faktoren diejenigen, die mithilfe der Datenbank am eindeutigsten zu greifen sind. Zu ihnen gehören Alter, Geschlecht, Familienstand, Staatsangehörigkeit, Religionszugehörigkeit sowie der Beruf. Alle diese Faktoren schlüsselt die Autorin nach Emigrationsjahr auf, womit beispielsweise der Einfluss von Alter und Geschlecht auf die Auswanderungsmöglichkeiten klar wird. Emigrierten unmittelbar nach 1933 zunächst in erster Linie junge Männer, die unter Umständen nicht nur aus rassistischen, sondern auch aus politischen Gründen im Fokus der Nationalsozialisten standen, ermöglichte es beispielsweise später die „Dienstmädchen-Emigration“ vor allem Frauen nach Großbritannien auszuwandern. Auch die Zielländer der erfolgreich durchgeführten Auswanderungen werden nach diesen Faktoren aufgeschlüsselt. Den Einfluss von Berufen auf die Emigrationsbemühungen und -möglichkeiten versucht Bergmann mithilfe der HISCLASS-Klassifizierung vorzunehmen. Dies funktioniert für diejenigen Berufe gut, bei welchen ein Berufsverbot nachweislich zur Arbeitslosigkeit führte. Für andere Berufsgruppen waren jedoch eher der gesellschaftliche Einfluss sowie finanzielle Möglichkeiten bei der Auswanderung ausschlaggebend, Faktoren, für die statistisch keine ausreichende Datenbasis vorliegt. Dies gilt auch für die interindividuellen Einflussfaktoren. Finanzielle Möglichkeiten sowie persönliche Netzwerke und die Reisewege lassen sich nicht statistisch abbilden, weshalb sich die Analyse auf die qualitative Betrachtung der vier ausgewählten Familien konzentriert. Mithilfe der gut gewählten Briefe der Familienmitglieder stellt Bergmann die persönlichen Faktoren für die Emigrationsmöglichkeiten dar. Auch der letzte Abschnitt verlässt sich bei den individuellen Faktoren stark auf die Quellen der vier betrachteten Familien. Die Untersuchung von mentaler Konstitution, Sprachkenntnissen und der individuellen Verfolgungssituation sind spannende Fragestellungen, gehen jedoch teilweise in den Bereich der Spekulation, da vor allem bei der mentalen Konstitution keine Quellen vorliegen, die über diesen komplexen Bereich sinnvoll Einblick geben können. Bergmann führt dazu aus: „Während die Persönlichkeitsdisposition einer Person verhältnismäßig stabil ist, sind Emotionen fluide und verändern sich unter veränderten Zeitumständen, mit neuen Erlebnissen oder selbst in Abhängigkeit zur emotionalen Tagesform einer Person sehr schnell. Dieser Einflussfaktor ist daher nur schwer fassbar.“ (303) Die Analyse der mentalen Konstitution beschränkt sich folglich auf Briefe und später geführte Oral-History-Interviews, in welchen die Personen einen Einblick in ihre Gefühlswelt geben. Hier ist zu beachten, dass es sich dabei immer nur um Aspekte handelt, die die jeweiligen Personen bereit waren, mit anderen auch zu teilen.

Diese Einwände können den Wert des Buches jedoch keineswegs schmälern. Die vorliegende Arbeit überzeugt inhaltlich sowie aufgrund der nahezu vollständigen Datenbasis, die durch die Datenbank des Stadtarchiv Münchens sehr zuverlässig ist. Bergmanns „Jüdische Emigration aus München. Entscheidungsfindung und Auswanderungswege (1933–1941)“ stellt eine der umfassendsten Analysen zur Emigration einer jüdischen Stadtbevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland dar. Die zahlreichen Tabellen, die exakt nach Jahr, Alter, Geschlecht, Auswanderungsziel und anderen Faktoren unterscheiden, werden von der Autorin gründlich analysiert und zusätzlich durch die persönlichen Dokumente der vier betrachteten Familien sensibel mit diesem Quellenmaterial hinterlegt. Dieses ergänzt sehr passend die statistische Herangehensweise um die persönlichen Schicksale hinter den Zahlen. Man hätte vielleicht die Biografien und manche der Tabellen nicht in einem eigens angelegten Anhang hinterlegen müssen, da der wiederholte Sprung zwischen der Bezugnahme auf einige Quellen und Zahlen und ihrer detaillierten Aufschlüsselung im Anhang den Lesefluss an einigen Stellen etwas hemmt.

Unabhängig davon stellt das Buch aber eine umfassende, gut recherchierte und spannende Lektüre dar, die die Entscheidungsfindung und Möglichkeiten der Münchner Jüdinnen und Juden in den Fokus nimmt. Aus der großen Zahl der Verfolgten werden individuelle Menschen sichtbar, woran die Kombination der quantitativen mit der qualitativen Analyse einen entscheidenden Anteil hat. Die Statistik wird durch spannende Quellen wie Briefe und Memoiren anschaulich und gewinnbringend verknüpft. Die Lektüre eignet sich für alle, die sich intensiver mit der Geschichte Münchens sowie der der deutschen Jüdinnen und Juden beschäftigen.