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Bernd Rieken

Wie die Schwaben nach Szulok kamen. Erzählforschung in einem ungarndeutschen Dorf. Mit einem Nachwort von Károly Gaál

Frankfurt am Main 2000, Campus, 247 Seiten, ISBN 978-3-593-36481-0


Rezensiert von Csilla Schell
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.10.2024

Ich muss gestehen, ich kann mich kaum erinnern, dass ein ähnlich traditionell klingender Titel wie der, den Bernd Rieken seinem Buch gegeben hat („Wie die Schwaben nach Szulok kamen“), meine Erwartungen derart übertroffen hätte. Auch der Untertitel („Erzählforschung in einem ungarndeutschen Dorf“) lässt allzu wenig von dem erahnen, was uns in diesem Buch erwartet, sondern lässt eher herkömmliche „Heimatliteratur“ assoziieren, in der der Erzählstoff bezüglich Ansiedlungs- beziehungsweise Vertreibungsgeschichte meist auf eine vorhersehbare Art thematisiert wird.

Erst die im Inhalt aufgeführten, kernig klingenden Kapiteltitel wie „Verständigungsprobleme, Machtspiele“, „Vom Nutzen gestörter Kommunikation“, „Rechtfertigungsgeschichten“ und viele mehr, lassen Leserinnen und Leser aufhorchen, dass es hier um mehr als geläufige Analyse von traditionellem Erzählgut geht. Aus dem ursprünglich anvisierten Projekt des Autors in den 1990er Jahren, im Rahmen von Feld-Interviews von Ungarndeutschen in Szulok traditionelles Erzählmaterial, vor allem Märchen, Sagen und Schwänke, zu erheben, ist ein komplexeres Projekt geworden, das neben biografischen beziehungsweise Alltagserzählungen auch Geschichten mit Elementen von Aberglauben und Magie mit einbezog. Dabei hat Rieken die klassischen Genres nicht fallen lassen – im Gegenteil, er hat ihnen frisch erhobene Erzählstoffe von fünf Interviewten zugewiesen. Wie er selbst beschreibt, wollte er „einen Zusammenhang zwischen den traditionellen und modernen Genres der Volksprosa, die im autobiographischen Erzählen vorkommen, und der Lebensgeschichte herstellen“ (11, die Seitenzahlen sind der Pdf-Ausgabe entnommen und weichen leicht von der Druckfassung ab).

Als Einstieg bekommen wir einen Einblick in die Analyse der Interviewsituation durch die Offenlegung der im Hintergrund wirkenden Prozesse, die Interviewende mit Interviewten verbinden, die ihnen aber meist kaum bewusst sind – ein Phänomen, mit dem wir in der ethnografischen Befragung auch zu tun haben dürften. Das beginne schon damit – legt sich der Autor mit einer abgrundtiefen und messerscharfen Ehrlichkeit, die das ganze Buch kennzeichnet, fest –, dass Forschenden und Beforschten „sehr daran gelegen [ist], Spuren zu hinterlassen und ‚verewigt‘ zu werden“ (19). Daraus resultiere, dass sich zwischen ihnen unmerklich „eine persönliche Beziehung“ konstituiere, da „beide den gleichen Ehrgeiz besitzen, [sich] der Öffentlichkeit zu präsentieren“ (ebd.).

Rieken, der sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Volkskunde gleichermaßen zu Hause ist, „seziert“ nicht nur die Interviewsituation, sondern nimmt anschließend Erzählung, Erzählende und Erzähltes psychologisch gekonnt in den Blick. Dies tut er umso mehr, da die volkskundliche Feldforschung seiner Ansicht nach „bisher nur wenig Gebrauch von tiefenpsychologischen Fragestellungen gemacht“ habe, obwohl innere Zusammenhänge bei Texten und Erzählungen „auch tiefenpsychologisch deutbar“ seien (23). Dabei geht es Rieken nicht darum, „pathologische Verhaltensweisen“ aufzudecken, sondern nur zu zeigen, „daß das Unbewußte eine mächtige Kraft ist, mit deren Auswirkungen man immer rechnen sollte und die man zumindest auch teilweise wahrnehmen kann“ (20).

Im Kapitel 2.1.3 mit dem Titel „Biographischer Kontext der Erzählungen“ erscheint psychologisches Wissen besonders vorteilhaft, um den Hintergrund des biografischen Erzählstoffes auszuleuchten. Dabei wird zum Beispiel dargelegt, wenn Erzählungen „typischen Kompensationsschicksalen“ zugewiesen werden können, die – im Sinne von Alfred Adler – „aus einer Minus-Situation eine Plus-Situation machten“ (27). Manch Interviewte oder Interviewter wird hier regelrecht auf die Couch gelegt, wie zum Beispiel der Befragte, bei dem sein betontes, früher vorhandenes Erzählvermögen „das kompensatorische Element deutlich zutage“ trete: „Das, was er damals nicht bekommen hat, hat er sich im späteren Leben kompensatorisch auf andere Weise geholt oder holen wollen.“ (28)

Mit derart offenen Auslegungen verfährt der Autor aber – und hier liegt eine besondere Stärke des Buches – auch bei der Beschreibung der eigenen Rolle, beispielsweise, wenn er sich seine Haltung in der Kommunikation bewusst macht und diese aufdeckt: „Mithin bin ich einem weit verbreiteten Abwehrmechanismus erlegen, der in der alltäglichen Kommunikation eine große Rolle spielt, nämlich den Gesprächspartner dann abzuwerten, wenn er Anteile repräsentiert, die in einem selber vorhanden sind, aber als unangenehm oder bedrohlich empfunden werden. Analytische Selbsterfahrung hat mir dabei geholfen, meine emotionale Reaktion selbstkritisch zu hinterfragen, denn es liegt in der Logik der Sache begründet, daß unbewußte Antriebe und Mechanismen unbewußt bleiben, wenn man versucht, ihnen primär auf kognitive, bewußte Weise beizukommen.“ (31) Dazu gehöre auch, dass man sich in die Position der Befragten versetzen müsse, aus deren Sicht die Befragungssituation so aussieht: „Ein Fremder aus der Großstadt, einer hoch-technisierten und rational orientierten Welt, kommt und möchte etwas über den ‚Aberglauben‘ der vermeintlich rückständigen Landbevölkerung wissen. Die Leute kommen sich unter Umständen vor wie museale Gegenstände, die man untersucht, aber nicht wie Individuen, die man ernst nimmt.“ (192) Derart hochreflexiven Auseinandersetzungen gebührt nicht nur Respekt, sondern sie regen die Leserschaft an, in Befragungssituationen eigene Voreinstellungen angemessen zu gewichten und Reflexivität gebührende Bedeutung beizumessen.

Neben Kritikpunkten, die Krisztina Kaltenecker in ihrer Rezension aus historischer Sicht bereits für die Erstveröffentlichung anführte (Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 43 (2000), S. 290–295), muss beanstandet werden, dass der Autor die Sprache(n) betreffenden Fragen nicht vertieft genug diskutiert. Dabei hätte es eigentlich dazu gehört darzulegen, welches Deutsch die Interviewten benutzten, wann sie dies erworben haben und welche Rolle das gerade angewandte Interview-Deutsch in ihrem Leben aktuell spielt. Hinzugefügt sei, dass im Falle der Ungarndeutschen ein zweisprachiges Erhebungs-Setting zu empfehlen gewesen wäre. Bei Deutschen in (und aus) Ungarn ist die Spracheinstellung so tief an die Selbstwahrnehmung und -definierung gebunden, dass bei den Ungarndeutschen eine lediglich auf eine Sprache (Varietät) setzende empirische Arbeit einer (reduzierenden) Vorstrukturierung gleichkommt. Denn Sprachwahl ist bei Ungarndeutschen fast immer konstituierender Teil der Interviewkommunikation selbst.

Ein anderer Hinweis betrifft die veröffentlichten Daten – eine Frage, deren Bedeutung seit der Erstveröffentlichung des besprochenen Werkes nicht ab-, sondern zugenommen hat. Die Veröffentlichung anonymisierter Gesprächsinhalte stellt natürlich kein Problem dar, die Frage stellt sich aber, bei wie vielen dargelegten Parametern eines Profils in einem Ort die Unkenntlichkeit (in einem kleinen Ort) für eine Person überhaupt noch zu gewähren ist? Damit wollen wir auf keinen Fall das Recht absprechen, solche ungemein spannenden Interviewinhalte zu publizieren, sondern auf ein Problem hinweisen, das uns alle stets – und in Zeiten von strenger werdenden Datenschutzregelungen sogar mit Nachdruck – beschäftigen wird.

Unterm Strich räumt am Ende dieser für die Kulturwissenschaft enorm lehr- und impulsreichen sowie experimentellen Analyse Bernd Rieken zwar ein, dass es „nicht immer notwendig [sei], die Karten so offen auf den Tisch zu legen, wie [er] es in den Gesprächen mit Herrn Berger getan habe“ (57); dies sei bei einem Thema wie der Motivforschung zum Beispiel nicht vonnöten. Doch es sei hingegen immer wichtig einen „vertiefte[n] Einblick in das eigene Innenleben und in das anderer zu bekommen“ (57). Nach der Lektüre dieses Buches wird man sich bei Befragungen vorab intensiver fragen müssen, ob man seine Motivationen und Voreinstellungen tief genug erhellt hat und ob man in der Interaktion eigener Projektionen Gewahr wird – Fragen, die in Einführungskursen der Kultur- und Kommunikationswissenschaften sicher heute noch ebenso Eingang finden wie zu meiner etwas zurückliegenden Studienzeit, doch in der ethnografischen Praxis scheinen sie nicht ausreichend Beachtung zu finden.