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Sandra Eckhardt

Pferdewissen. Ein wissensanthropologischer Blick in die Hannoveraner Pferdezucht

(Göttinger Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie 16), Göttingen 2023, Universitätsverlag Göttingen, 303 Seiten, ISBN 978-3-86395-434-5


Rezensiert von Hans-Ulrich Schiedt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.10.2024

Die Kulturanthropologin Sandra Eckardt bezeichnet ihre aus einem Promotionsprojekt an der Universität Göttingen hervorgegangene Studie als eine Ethnografie, in welcher sie die Frage behandelt, was überhaupt Pferdewissen ist und wie sich dieses verändert (12), in temporaler Hinsicht, aber auch bezüglich der verschiedenen Kreise, die in die Pferdezucht involviert sind. Die Studie basiert auf der forschenden Begleitung des Arbeitsalltags der Züchterinnen und Züchter, der Veterinärinnen und Veterinären, der Funktionärinnen und Funktionäre der Zuchtvereine, des Zuchtverbands und der Landesgestüte, der Praktikerinnen und Praktiker und der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und natürlich auch der Tiere selbst. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf den landwirtschaftlichen Familienbetrieben, die in der Region Hannover eine wichtige Basis der Pferdezucht bilden.

Eine Stärke hat die Studie dort, wo sie in vielen Details die Verwobenheit des Pferdezuchtwissens und der verschiedenen Formen der Zuchtpraxis mit Fragen und Gewissheiten zu den jeweils gültigen gesellschaftlichen Ordnungssystemen herausstellt. Eine Zielsetzung, die Eckhardt zu Beginn in Worten der amerikanischen Historikerin Harriet Ritvo als „analogy between the breed-oriented rhetoric having to do with animals and questions of race having to do with humans“ formuliert, sowie in Worten der Historikerin Kristen Guest und der Anglistin Monica Mattfeld: „To think about animal breed is to think about human society and its structure […].“ (34)

Primärquellen der Studie sind die im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung hervorgegangenen Notizen über den Zuchtalltag, Protokolle offen geführter Gespräche, Tagungsnotizen, audiovisuelle Formate und leitfadengestützte Interviews mit Exponentinnen und Exponenten der Pferdezucht. Zum weiteren methodischen Instrumentarium gehört das aus dem französischen Poststrukturalismus hervorgegangene und dann vor allem in den USA weiterentwickelte geistes- und sozialwissenschaftliche Konzept der Assemblagen, in denen „verschiedenste Narrative und Rationalitäten, Verflechtungen und Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteurinnen und Akteuren“ der Pferdezucht zusammenwirken und in denen „das intentionale und unintentionale Neben- und Miteinander der Beteiligten und ihrer Wissensbestände“ (29) eine neue, eine besondere Qualität bekommt. Dazu referiert die Autorin auch auf die Multispecies-Ansätze (unter anderem 27–30), die in den Human-Animal-Studies verbreitet sind. Für die Erfassung des Zuchtalltags bezieht sich Eckhardt auch auf aktuelle sozial- und geisteswissenschaftliche Care-Konzepte. Mit dem Begriff Care fasst die Autorin das „fürsorgliche Wissen“, das sich aus dem mensch-tierlichen Umgang aus den „flexiblen Anpassungsprozessen des Zusammenlebens im Mikrokosmos landwirtschaftlicher Betriebe“ ergibt. (32 und 69) Nicht explizit methodisch eingeführt, aber in der Studie vielfach Gegenstand der Argumentation ist der Umgang mit audiovisuellen Präsentationsformaten und Bildverfahren. Was ein gutes Pferd sei und woran man es erkenne, ist nicht zuletzt eine Frage der Konvention der Präsentation, des standardisierten Vorzeigens und der Bildgestaltung, der seitlichen Standbilder der Zuchttiere, der fotografisch festgehaltenen Bewegungen von Trab und Galopp bis hin zu den Röntgenbildern, die zur Außensicht noch eine Innensicht ermöglichen und selbst dort noch Makel erkennen lassen, wo das Äußere überzeugt.

Die Autorin verfolgt ihr Thema, das Pferdewissen, entlang von Lebensphasen einzelner Pferde und bestimmter Mensch-Tier-Prozesse, die sie Linien respektive englisch lines nennt. Diese definiert sie bis ins Unbestimmte weit sowohl als konkrete Lebensläufe als auch beispielsweise als Spuren des Wissens oder noch offener und allgemeiner als „lines of becoming“. Dass Linien zudem konstituierende formale Elemente in der Einschätzung und Beschreibung der Pferdekörper sind und mit Linien auch genealogische Zuchtabfolgen gemeint sein können (84–85), hat beim Rezensenten mitunter den Lesefluss der im Übrigen sehr sorgfältig und verständlich geschriebenen Arbeit zumindest nicht gefördert.

Die Zeit, die mit der Studie abgedeckt wird, korreliert mit den Zeiträumen, auf welche sich die Informantinnen und Informanten aus eigener Anschauung oder über das in Familie und Vereins- und Verbandsstrukturen tradierte Wissen beziehen. Mit einleitenden Referenzen auf ältere schriftliche Quellen und auf historische Literatur leitet Eckhardt das Zuchtgeschehen der vergangenen Jahrzehnte aus noch größerer zeitlicher Tiefe her, so dass nun nicht nur eine Ethnografie des Pferdewissens, sondern mit dieser auch eine Skizze der Zuchtgeschichte vorliegt. Räumlich konzentriert sich die Autorin auf die Stadt und den Landkreis Göttingen und auf die Hannoveraner Zucht. Vergleichende Ansätze zu anderen Zuchten fehlen fast vollständig. Solche hätten gezeigt, dass sich die Verhältnisse, wie sie die Autorin in den Kapiteln 1 bis 5 für die Hannoveraner Zucht beschreibt, sehr ähnlich auch in anderen Zuchtgebieten in Deutschland, England, Frankreich oder Belgien entwickelten. Ein teilweiser Sonderweg, den die Hannoveraner Zucht aber wiederum mit anderen Regionen des nun global gewordenen Zuchtgeschehens teilt, ergibt sich aus der starken Fokussierung auf Elitesportpferde, die Eckhardt in Kapitel 5 bis 7 bis hin zur Konsequenz des Embryotransfers und dem neuerdings blühenden Geschäft mit Leihstuten beschreibt.

Im Folgenden lotet die Kulturanthropogin das Spannungsfeld aus, in welchem einerseits die Zucht als zukunftsgerichtete Strategie gefasst wird, um mit einer an einem vielschichtig ausgehandelten Zuchtideal orientierten, geplanten Paarung gleichzeitig die Population zu verbessern und herausragende Tiere hervorzubringen. Andererseits impliziert der Zucht- und Rassebegriff immer auch ein statisches Ideal im Sinne eines „myth of origin“. Es gelingt der Autorin – eine weitere Stärke der Studie – jenseits aller definitorischen und begrifflichen Engführung nachzuweisen, dass die Pferdezucht mehr ist als die geplante, zielgerichtete Anpaarung zweier vielversprechender Tiere und mehr als eine diskursive Verfestigung eines Pferdeideals. Als Zucht fasst sie zudem die Schritte von der Zeugung und der Geburtshilfe über die Fütterung, die Stall- und Weideregimes, die Erziehung und das Training der Tiere, bis hin zur funktionalen und emotionalen mensch-tierlichen Arbeitspartnerschaft und bis hin zur Identifikation, der Bekanntmachung, der Verortung und Durchsetzung der Tiere in den Vereins- und Verbandsstrukturen und in der global gewordenen Pferdewelt. In diesen Linien umfasst die Zucht nicht nur den Druck zur Konformität und die Durchsetzung der individuellen Klasse (respektive die mehr oder weniger demütig hingenommene Einsicht der fehlenden Klasse) im Sinne der Zuchtstandards, sondern auch das individuelle Erkennen und Fördern der Anlagen der jungen Pferde sowie die stete Anpassung der Pläne an die jeweiligen Erkenntnisse und Eindrücke. Solche Pläne können durchaus anders ausfallen, je nachdem ob ein Pferd in traditionellen Zuchtbetrieben (traditionell meint in quellennaher Begrifflichkeit einen Betrieb, dessen Zucht bis in die Zeit der Verwendung der Tiere zur Arbeit zurückreicht) oder in von Neueinsteigerinnen und Neueinsteigern geführten Betrieben und je nachdem es in landwirtschaftlich basierten oder nichtlandwirtschaftlichen Betrieben oder gar in einem Landesgestüt gehalten und weiterentwickelt wird. Da entscheidet sich das Schicksal in verschiedenen Etappen, ob ein Pferd zum national und international reüssierenden Spitzen-, zum Sport- oder zum Freizeitpferd wird oder ob es – eine Wendung, die Eckardt bei den Züchterinnen und Züchtern öfter hört – „in die Wurst kommt“ (162). Gerade diese und ähnliche Wendungen veranlassen die Autorin zu einer allgemeinen Betrachtung, die hier auch als Leseprobe dient: „Die Drastik ihrer Sprache macht deutlich, wie existenziell diese Entscheidungen aus ökonomischer Perspektive für den Betrieb sind. Und gleichzeitig auch für den gelingenden Arbeitsalltag der Multispecies-Konstellationen. Doch alle möglichen anderen Versuche gehen einem ‚In-die-Wurst-Geben‘ – einem Verkauf an eine Schlachterei oder eine Abdeckerei – voraus. Es bleibt eine asymmetrische Beziehung und doch ein Miteinander.‟ (226)

Trotz allem Druck zur Konformität und einem starken Hang zum Konservatismus, welchen Eckardt als eine dominante Charakteristik des (Hannoveraner) Pferdezuchtmilieus nachweist (108–109 ), stellt sie auch immer fest, dass bezüglich der betrieblichen respektive der züchterischen Zukunftsentscheidungen Spielräume für persönliche Vorlieben und empathisches Handeln bestehen. Dass dabei in der Beschreibung auch einmal eigenes Mitfühlen durchscheint, wie beispielsweise in den Passagen um die Geburt des Fohlens oder in Momenten, in denen die Tiere die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, ist wohl nicht zuletzt der teilnehmenden Beobachtung selbst geschuldet, in welcher die Autorin ihre Position aktiv mitreflektiert. Der Wechsel solcher Passagen mit den ebenfalls beschriebenen Aspekten der ökonomischen Zwänge oder der neuen veterinärmedizinischen Möglichkeiten und Praktiken verhindert jeweils das Aufkommen eines Eindrucks unkritischer Nähe umgehend wieder.

Das Feld der aktuell attraktiven Beschäftigung mit Tieren ist stark interdisziplinär. Für die dazu notwendige zusätzliche Verständigungsleistung ist die Methode der teilnehmenden Beobachtung, mit der die Kulturanthropologin Sandra Eckardt das Wissen und die verschiedenen Trägerkreise des Wissens um die Hannoveraner Pferdezucht erfasst, ideal geeignet, die Lesenden aller fachlichen Provenienz in die Verhältnisse der Pferdezucht einzuführen. Es ist eine überzeugende Leistung, dass es der Autorin gelingt, die methodischen Ansätze in sprachlicher wie argumentativer Weise überzeugend und vielschichtig mit ihrem Forschungsgegenstand zu verbinden.