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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Nadine Kulbe/Theresa Jacobs/Ines Keller/Nathalie Knöhr/Marsina Noll/Ira Spieker (Hg.)

Bildarchive. Wissensordnungen – Arbeitspraktiken – Nutzungspotenzial

(ISGV digital. Studien zur Landesgeschichte und Kulturanthropologie 4), Dresden 2022, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), 290 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-948620-03-5


Rezensiert von Gabriele Wolf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.10.2024

Die außeruniversitären Institute und Landesstellen, die in der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft als Gruppe organisiert sind, diskutieren bei ihren Tagungen seit vielen Jahren Themen und Probleme, die trotz aller organisatorischer Unterschiedlichkeit der Einrichtungen und ihrer jeweils regionalen Ausrichtung doch gemeinsame Anliegen spiegeln: Bildarchive sind ein solcher Gegenstandsbereich. Im Namen der Herausgeberinnen umreißt Nadine Kulbe in ihrer Einführung Bildarchive als „Portale, die lebensweltliche Praktiken, kulturelle Phänomene und historische Prozesse ‚sichtbar‘ machen können“ (8). Doch Bilder sind in ihren Aussagen veränderbar, unterliegen teils Dekontextualisierungen, Metadaten müssen vielfach neu erarbeitet werden. Die an Bildarchive gestellten Erwartungen aus Digitalisierung und Veröffentlichung der Bilder für ein wissenschaftliches und allgemein interessiertes Publikum nehmen viele Institutionen an und begegnen ihnen auf unterschiedliche Weise, wie die Beiträge des nun vorliegenden Tagungsbandes zeigen.

Das Organisationsteam der für April 2020 in Dresden vorbereiteten Tagung war durch den Beginn der Corona-Pandemie unvermittelt vor die Herausforderung gestellt, sehr kurzfristig aus einer Präsenzveranstaltung ein Online-Format zu gestalten – zu diesem Zeitpunkt das erste Mal im Fach. Alle Referentinnen und Referenten waren bereit ihre Vorträge aufzunehmen; diese Videos konnten acht Wochen lang auf einer eigenen Website abgerufen, Diskussionsbeiträge schriftlich eingepflegt werden. Eine anschließende Online-Umfrage diente der Evaluierung. Über diesen Vorgang insgesamt, die inhaltlichen Überlegungen, die organisatorischen und technischen Vorbereitungen sowie die Erfahrungen der Teilnehmenden, berichtet Nathalie Knöhr am Schluss des Bandes.

Die 17 weiteren Aufsätze sind vier Themenbereichen zugeordnet, beginnend mit „Nutzungspotentiale der Bildarchive“. Ulrich Hägele stellt die Alltagsfotografien von Heinz Pietsch (1926–1989) vor, von dem das Tübinger Kreisarchiv rund 100 000 Dias, dazu Schwarzweißaufnahmen und Super-8-Filme aufbewahrt. Vor dem Hintergrund von Pietschs Biografie und seinen Bildthemen wird seine Motivation zu fotografieren deutlich: Ihm ging es darum, „jeden Augenblick als einmalig wahrzunehmen“ (19). In einem Praxisseminar wählten Studierende Bilder zu fünf thematischen Schwerpunkten aus und kuratierten eine Ausstellung, die noch immer digital zu sehen ist. Am Beispiel der riesigen Bildbestände der ethnologischen Museen in Leipzig und Dresden lotet Agnes Matthias Probleme und Möglichkeiten für ein zeitgemäß reflektiertes Ordnungssystem für Fotografien aus, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert unter „kolonialen Vorzeichen“ und verstanden als „Instrument der objektiven Erfassung einer zumeist […] ‚fremden‘ […] Welt“ (29) entstanden sind. Ihre Auseinandersetzung mündet in ein Plädoyer für eine digitale „immaterielle Restitution“ im Sinne eines „shared heritage“ (30). Thekla Kluttig stellt die Kategorien des im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig verwendeten Inventarisierungssystems vor, beschreibt einige größere Fotosammlungen und geht auf die prekäre Personalsituation vieler Stadt- und Kreisarchive ein, die trotz zahlreicher Projekte eine systematische Erschließung in weite Ferne rücken lässt. Um Formen und Ziele von Wissenschaftskommunikation allgemein und besonders die des Instituts für sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) geht es Nadine Kulbe mit Schwerpunkt auf der Verwendung von Bildern aus dem dortigen Bildarchiv. Sie erläutert die digitalen Portale, die den Bildbestand thematisch geordnet präsentieren, sowie Blogs und Social-Media-Kanäle, die für Publikationen und Informationen genutzt werden.

Im zweiten Abschnitt „Bildbestände und Kontextualisierungen“ schildert Elisabeth Haug die fotografischen Sammlungen der Badischen Landesstelle für Volkskunde und stellt exemplarisch an zwei Nachlässen unterschiedliche Vorgehensweisen der Erschließung dar. Aufwändigen nachträglichen Kontextrecherchen und einer Inventarisierung über lange Zeiträume durch wechselnde Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im einen Fall steht im anderen Fall die Übernahme einer thematischen Auswahl an Fotos samt Kontextinformationen aus der Hand des Fotografen gegenüber. Michael J. Greger widmet sich dem bildlichen Nachlass Richard Wolframs, der sich im Salzburger Landesinstitut für Volkskunde befindet und in weiten Teilen noch nicht detailliert erschlossen ist. Seine Biografie, seine Identifikation mit der Ideologie des Nationalsozialismus, seine Reisen und vielen anderen Aktivitäten liefern die Informationen, die es erlauben, Wolframs Auffassung von Ziel und Bedeutung bildlicher Dokumentationen zu analysieren. Scheinen sie auf den ersten Blick „immer wieder interessante Belege für teils vormoderne, zumindest aber häufig vergangene Lebens- und Bauweisen, Objektwelten, Bräuche, Tänze, Schauspiele und künstlerische Äußerungen in verschiedenen Teilen Europas“ (109) zu sein, so zeige sich bei kritischer Betrachtung, dass „die oberflächlich so ‚wahrhaftig‘ erscheinenden Bilder zum Teil Stilisierungen, ‚Wiederbelebungen‘ oder Ergebnisse von Auswahl beziehungsweise von Inszenierungen sind“ (109). Die fachgemäße Inventarisierung der von Wolfram angehäuften „Bilderflut“ erfordere folglich eine intensive quellenkritische Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Objekt. Theresa Jacobs und Ines Keller berichten über die langwierige und dann zufällig erfolgreiche Suche nach Fotos, die bei Untersuchungen „zur Lebensweise und Kultur der Sorben/Wenden“ (116) in den 1980er Jahren entstanden sind, nach der Wende 1989/90 aber für lange Zeit verschollen waren. Weil sie in aktuellen Projekten als historisches Material für Vergleiche dienen sollen, machten sich die Mitarbeiterinnen des Sorbischen Instituts nach deren Wiederauffinden an die Rekontextualisierung. In diesem schwierigen Prozess mussten „institutionelle Umstrukturierungen sowie Personalwechsel, Neuzuordnungen und Digitalisierung“ (126) nachvollzogen, mussten fehlende Informationen ergänzt und fehlerhafte Zuordnungen korrigiert werden, doch nur dadurch wird es möglich, die Bilder heute zu nutzen. Den „volkskundlichen Wissenschaftsamateur und Uhrenindustriellen Oskar Spiegelhalder“ (129), der „von etwa 1890 bis 1920 Alltagsgegenstände aus dem Kultur- und Landschaftsraum Schwarzwald“ (133) sammelte, stellt Christina Ludwig als Person und in seinen Aktivitäten vor. Ihm ging es um „das ,richtige‘ Sammeln und Präsentieren einer ,authentischen‘ ruralen Lebenswelt und um die Kontrolle des so angehäuften Wissens“ (130), die darin bestand, dass er die Interpretationen mitlieferte. Gut nachvollziehen lässt sich dies anhand einer Postkartenserie, deren Einzelmotive aus Objektfotografien und in Szene gesetzten Personen montiert wurden und mit der Spiegelhalder die Sachobjekte nach seinem Verständnis wie Genrebilder inszenierte. Die im Zusammenhang mit Expeditionen nach und kolonialen Besatzungen in China von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg entstandenen Fotografien und Publikationen bilden für Gisela Parak den Hintergrund für ihre Analyse von Lackalben als Medien der Erinnerungskultur aus dem Bestand des Deutschen Schifffahrtsmuseums Bremerhaven, die um 1900 aufkamen. Ihre Schmuckeinbände, die Motive der „Chinamode“ (148) der Zeit zeigen, geben diesen Fotoalben den Namen. „Die Lackalben als Produkte sind Ausdruck eines gewaltigen globalen Bilder- und Souvenirmarkts unter Beteiligung von Fotostudios in allen wichtigen Knotenpunkten entlang der Schifffahrtsrouten.“ (149) Sie bestehen aus privaten Fotografien der Seeleute der wilhelminischen Marine und aus Agenturfotos und „die darin enthaltenen Bildwelten belegen eine Eroberung und Aneignung der Welt mittels Fotografie“ (158).

Im dritten Themenblock geht es um „Strategien und Praktiken des Sammelns“. Angelika Merk und Sabine Zinn-Thomas stellen das Bildarchiv der Landesstelle für Volkskunde (neu: Alltagskultur) in Stuttgart vor, das ab den 1920er Jahren entstanden ist. Sie nennen Mengen, Materialien, Formate, Themen sowie Namen von Beteiligten. In der Vorkriegszeit sammelte der Leiter der Landesstelle, August Lämmle (1876–1962), Bilder von Autorinnen und Autoren der Zeitschrift der Landesstelle, von Laien, Vereinen und Behörden. In der Nachkriegszeit baute der neue Leiter, Helmut Dölker (1904–1992), das Bildarchiv aus und integrierte ein Pressearchiv. Im Unterschied zu ihren Vorgängern fotografierten die Mitarbeitenden der Landesstelle nun auch selbst und erweiterten den Bestand durch Ankäufe und Projekte. Trotz der vorhandenen differenzierten Dokumentationssystematik könne „von einer reflektierten Sammlungskonzeption [...] jedoch keine Rede sein. Vielmehr war die Auswahl dessen, was übernommen wurde, bestimmt von persönlichen Vorlieben, Vorstellungen und Gelegenheiten“ (170). Die Zukunft des noch wenig bearbeiteten Bestandes hängt nun von der Neukonzeption der Landesstelle überhaupt ab. Im Sorbischen Kulturarchiv in Bautzen bilden die Fotos neben anderen Objektgruppen eine Sammlung, die nach und nach aus Materialien verschiedener Vorgängereinrichtungen oder Besitzerinnen und Fotografen zusammengestellt worden ist. Annett Bresan stellt diese Geschichte detailreich dar, einschließlich der thematischen Schwerpunkte der Einzelbestände, begründet die physische Ordnung nach dem Provenienzprinzip und die durch Digitalisierung und Inventarisierung gewonnenen neuen Nutzungsmöglichkeiten. Bei der Erarbeitung der Metadaten spielt hier die Zweisprachigkeit eine große Rolle. Eine ausschließlich digitale Sammlung sind die „historischen Bilddokumente“, die seit etwa 15 Jahren Teil des Landesgeschichtlichen Informationssystems Hessen (LAGIS) sind. Sarah Griwatz und Lutz Vogel gehen auf Provenienzen und Auswahlkriterien ein, die zunächst auf eine große Themenvielfalt zielten, sowie die Kategorien der Metadatenerschließung. Sie interessieren sich für Fragen der Urheber- und Nutzungsrechte in Hinblick auf die Webpräsentation und erläutern Perspektiven sowohl für die thematische Weiterentwicklung des Bestandes als auch für neue Präsentationsformen. Etwa 800 Glasdiapositive, die ein Teilbestand der „Sammlung für Bergbaukunde“ der TU Bergakademie Freiberg sind und bis in die 1920er Jahre als Lehrmittel genutzt wurden, waren Gegenstand des Forschungsprojektes „Bergbaukultur im Medienwandel“, das Pilotcharakter für andere Bildsammlungen hatte, wie Andreas Benz, Karl Klemm und Gisela Parak schreiben. Neben ihrer Digitalisierung erfolgten aufwändige Objektbeschreibungen und Metadaten-Recherchen, die auch die Verluste der einst umfangreicheren Sammlung zu Tage brachten, sowie die physische Bestandssicherung nach heutigen konservatorischen Grundsätzen. Sichtbar werden soll die Sammlung über ein Medienportal der Bergakademie.

Im vierten Themenblock „Bildarchive digital und online“ geht es um das Bildarchiv des ISGV, die Deutsche Digitale Bibliothek und Wikimedia Commons. Marsina Noll berichtet über den Relaunch des digitalen Bildarchivs des ISGV nach etwa 20 Jahren seines Bestehens und die ihm zu Grunde liegenden konzeptionellen Überlegungen sowie Maßnahmen einer Anpassung an heutige technische und gestalterische Anforderungen mit dem Ziel, „die Besonderheiten einer volkskundlich-kulturanthropologischen Sammlung in den Fokus zu rücken“ (218). Wichtig war dabei die Rekontextualisierung der Fotografien in die einstigen Forschungszusammenhänge, aus denen sie entstammen: Noll stellt drei Projekte vor und verweist auf die große Sachkenntnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ein großes Plus in regional ausgerichteten Archiven. Im Unterschied dazu spricht Sophie Rölle bei der „Deutschen Digitalen Bibliothek“ (DDB) von „digitalen Bilderfluten“ (227). Um die Plattform vorzustellen geht sie auf beteiligte Einrichtungen, Funktionsweisen, technische Anforderungen und Probleme, Ziele und Potentiale im nationalen und internationalen Raum ein. Wie das Bildrepositorium Wikimedia Commons im Kontext von Wikidata funktioniert, zeigen Christian Erlinger und Jens Bemme. Mit „Structured Data on Commons“ sei eine Basis für die strukturierte Beschreibung von Bildmedien geschaffen worden, die interessierten Institutionen erlaube, dort Digitalisate ihrer kulturellen Objektivationen zu veröffentlichen. Abschließend präsentiert Sabine de Günther ihr Forschungsprojekt über Gemälde aus der Frühen Neuzeit, die aus der im 19. Jahrhundert entstandenen kostüm- und kleiderwissenschaftlichen Sammlung des Ehepaares von Lipperheide stammen. Sie hat eine webbasierte Forschungsinfrastruktur geschaffen, in der interdisziplinär gearbeitet wird und dreidimensionale Digitalisate mit Informationen aus anderen Bildquellen, Textquellen und Realia angereichert werden.

Die Beiträge stellen eine Vielzahl von Foto- und anderen Bildsammlungen vor und präsentieren die Themen „Wissensordnungen – Arbeitspraktiken – Nutzungspotenzial“ auf vielfältige Weise. Die Autorinnen und Autoren, zu denen es auch Kurzbiografien gibt, arbeiten an ihren jeweiligen Beständen je unterschiedlich gelagerte Problem- und Fragestellungen aus und machen damit allen, die selbst ähnliche Sammlungen inventarisieren, kontextualisieren, digitalisieren und analysieren sowie digital veröffentlichen wollen, umfassende theoretische und praktische Angebote zum Transfer. Hilfreich sind die passend eingerückten Kästen mit Sachinformation zu fototechnischen und anderen Sachverhalten oder kulturwissenschaftlich-volkskundlichen Fachbegriffen. In der Publikation sind die Bilder auf einer zweiten Ebene mit ausführlichen Beschreibungen hinterlegt und Links direkt aufrufbar. Während hierin zweifellos Vorteile einer digitalen Veröffentlichung liegen, wäre der sorgfältig hergestellte Band noch besser zu lesen, wenn man ihn als gedrucktes Buch zur Hand zu nehmen könnte.