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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Anthony R. Rowley

Boarisch – Boirisch – Bairisch. Eine Sprachgeschichte

Regensburg 2023, Friedrich Pustet, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Rüdiger Harnisch
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 18.10.2024

Wenn im Titel des besprochenen Buchs „Bairisch“ mit -ai- geschrieben wird, so darf das, wie Rowley gleich zu Beginn klarstellt, nicht mit „bayerisch“ in der Schreibung -ay- verwechselt werden. Es geht nämlich um die sprachliche Varietät des Bairischen (als Dialekt und regionale Schriftsprache), die zum einen, innerhalb des jetzigen Bayern, v.a. in jenen Gebieten gesprochen wird (und wurde), die man „Altbayern“ nennt (Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz), zum andern jedoch auch in Österreich (außer dem alemannischen Vorarlberg), in Südtirol und, über diese Gebiete hinaus, etwa auch in „bairischen“ Sprachinseln (z.B. Oberitaliens) oder inzwischen abgetrennten Randgebieten (wie dem Egerland). Umgekehrt werde in dem neuzeitlichen politischen Gebilde Bayern nicht nur Bairisch gesprochen, sondern auch – um nur die größeren Dialektgebiete zu nennen – Fränkisch und Schwäbisch. „Boarisch“ und „Boirisch“ im Buchtitel spielt auf dialektale Aussprachevarianten südlich bzw. nördlich der Donau an.

Rowley hat sein Buch explizit als eine Sprachgeschichte, so der Untertitel, angelegt. Im engeren fachwissenschaftlichen Sinne geht es dabei um die Entwicklungen, die eine Sprache auf ihren innersystemischen Ebenen (Wortschatz, Grammatik, Aussprache) durchmacht. Diese Prozesse stellt Rowley als Forscher, der selber Dialektwörterbücher (mit)geschrieben und dialektale Laut- und Formenlehren verfasst hat, natürlich dar. So beschreibt er z.B. die Verdumpfung des a im Rahmen der Ausführungen zur frühen Überlieferung des Bairischen (Kap. 4) oder die „Entwicklung der Flexion“ zur „Zeit der Donauschreibsprache“ ab Ende des 15. Jahrhunderts. Oft bindet er die Darstellung sprachlichen Wandels geschickt an historische Textproben, so wenn er in Bezug auf ein Dialektgedicht von 1650 (Der Bauernsohn in der Kirche) den sogenannten „Präteritumschwund“ behandelt (Kap. 7).

Sprachgeschichte ist aber nicht auf die Geschichte der Sprache als System beschränkt, sondern steht in mehrfachen Verbindungen zur Geschichte im Allgemeinen, ihren politischen Ereignissen, ihren sozioökonomischen, kulturellen oder rechtlichen Entwicklungen. In diesem Sinne gehören auch Einflüsse der ‚außersprachlichen‘ Geschichte auf die Sprache zum Gegenstandsbereich der Sprachgeschichte und kann die Sprachgeschichte der Geschichtswissenschaft Aufschlüsse über deren ureigene Gegenstände liefern, z.B. über Wander- und Siedlungsvorgänge, Kulturkontakte usw. Rowley berücksichtigt immer beide Perspektiven: Etwa insofern, als er zur Erklärung der Entstehung der sogenannten „gestürzten Diphthonge“ im Nordbairischen zuerst „[a]ußersprachliche Datierungskriterien“ heranzieht (Kap. 4), die „Auswirkungen des Buchdrucks“, der Reformation und der Gegenreformation auf die „Donauschreibsprache“ darlegt (Kap. 7) oder für das Bairische im 20. und 21. Jahrhundert die „Rolle der Städte für den Wortschatz“ und die Langzeitwirkung der historischen Territorien auf die Dialekträume darstellt. Auch die Zusammenhänge von Ethnogenese/„Stammesgeschichte“ mit der Herausbildung des bairischen Sprachraums (und Stammesnamens) werden aufgezeigt (Kap. 2).

Oft allerdings stehen Kapitel, in denen Laut-, Formen- und Wortgeschichte(n) behandelt werden, und Kapitel, in denen auf die außersprachlichen Einflüsse eingegangen wird, relativ unverbunden nebeneinander. Die Praxis, jedes Großkapitel von 1 bis 8 mit einem Resümee abzuschließen, gleicht das allerdings wieder aus und gibt den Lesern gute Orientierung.

Einflüssen von andern Sprachen auf das Bairische gibt Rowley angemessen Raum. Mit der notwendigen Vorsicht, die Nachweisbarkeit aus bestimmten Sprachen betreffend, äußert er sich zum Baskischen, Keltischen oder einem anzunehmenden Alpensprachbund. Sicherer herleitbar sind dann die aus der Spätantike überkommenen romanischen und – im Zusammenhang der frühmittelalterlichen Mission – irischen und angelsächsischen Anteile (Kap. 3). An den „bairischen Kennwörtern“ (Kap. 2) diskutiert er die sprachlichen Indizien für Einflussnahmen auf die Germanisierung Baierns von außen durch die Franken- bzw. Gotenkönige.

Gleichermaßen für Sprach- wie Kulturkontakt interessant sind die Ausführungen Rowleys zu den „Beziehungen zu den Nachbarsprachen“ seit Beginn der Neuzeit (Kap. 6): Zum Französischen, mit dem das Bairische nur vermittelt über die eigene Aristokratie und nicht über direkte Nachbarschaft in Kontakt kam; zum Italienischen und Tschechischen jedoch als geographisch wirklich benachbarten Sprachen. Seiner Schilderung nach gibt es hier eine West-Ost-Drift, wie sie in der historischen Kulturgeographie auch sonst beobachtet wird: ein Nehmen v.a. aus dem Westen (hier Französisch), ein Geben v.a. an den Osten (hier Tschechisch), wenngleich von dort auch Wörter ins Bairische gelangen, vornehmlich aus dem Küchenwortschatz.

Die Beiziehung von Quellen ist für Rowley ganz wichtig. Aus ihnen wählt er die für die Auffindung der sprachgeschichtlichen Indizien wesentlichen und, wenn aus breiteren Beständen, immer sehr gut geeignete aus: u.a. Glossen und frühe volkssprachliche Textzeugnisse (etwa Wessobrunner Gebet oder Muspilli) für die althochdeutsche Zeit; Urkunden aus ständischen, oft städtischen oder klösterlichen, Schreibstuben (etwa die Eichstätter Spitalregel) für die mittelhochdeutsche Zeit; Rechtsbücher, Chroniken (wie die Bayerische Chronik von Veit Arnpeck) und, zunehmend, Texte von bekannten Einzelautoren wie Konrad von Megenberg oder Aventinus für die spätmittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Zeit. Doch auch instruktive Beispiele nichtprominenter Autoren werden herangezogen, etwa das Tagebuch der gebildeten Frauenchiemseer Nonne M. Haidenbucher oder die „Gäu-Predigten“ des Salzburger Pfarrers Ch. Selhamer.

Eine Sprachgeschichte ist dieses Buch, zusammengefasst, also 1. insofern, als aktuell gesprochene dialektale Laute, Formen und Wörter des Bairischen historisch hergeleitet werden („Einige Mundartbesonderheiten“ der Gegenwart werden in Kap. 9 beschrieben), sowie 2. auch, als regionale Merkmale in geschriebenen historischen Texten bairischer Provenienz nachgewiesen werden. Mündliches ist ja aus der Zeit, in der Tonaufnahmen noch nicht möglich waren, nicht überliefert; schriftliche Quellen wie z.B. Hexenverhörprotokolle, die Mündlichkeit wenigstens annähernd festhalten, sind noch nicht genügend ausgewertet. Man könnte also beim Buchtitel „Boarisch – Boirisch – Bairisch“ eine Abhandlung über den gegenwärtigen gesprochenen Dialekt erwarten, doch mit dem Untertitel „Sprachgeschichte“ wird man auf die historischen Schriftdialekte des bairischen Sprachraums geführt, der zwangsläufigen Schriftlichkeit der Quellen geschuldet sogar hauptsächlich.

Der bairische Schreibdialekt stand mit den Schreibdialekten anderer Sprachregionen in einem ständigen Kampf um die Vorherrschaft im deutschen Schrift-, später auch hochsprachlichen Sprech-Sprachraum, und tut das noch heute. Die Vergangenheit dieses Ringens kommt in den Abschnitten über das „Gemaine Deutsch“ und die „Rückzugsgefechte des Ostoberdeutschen – Gottsched gegen Parnassus Boicus“ zum Tragen (Kap. 6 und 7, Hervorhebung im Original), seine anhaltende Aktualität in den Abschnitten über das „Bayerische Deutsch“ und die Frage „Bairisch als Sprache?“ (Kap. 8). Bei ihr geht es um den Status als „Regionalsprache“ im Sinne der europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen, den sich das Niederdeutsche erkämpft hat. Da sich historisch und von den Bedingungen des Dialektgebrauchs her das Bairische und das Niederdeutsche nicht sehr unterscheiden, stünde dieser Status auch dem Bairischen zu, zumal es im Alltagsgebrauch sogar stärker verwurzelt ist. Umgekehrt wäre, wenn das Bairische nicht den Rang einer anerkannten Regionalsprache hat, auch das Niederdeutsche nicht berechtigt, diesen Titel zu führen. Rowley erklärt die Zurückhaltung der bairischen Akteure – die Landespolitik mit entsprechenden Initiativen und die Sprachgemeinschaft durch Dialektgebrauch in möglichst vielen situativen Domänen – so: „Was fehlt, ist offenkundig der Wille zum bajuwarischen Separatismus.“ (S. 216)

Was letztlich mehr brächte und alltagsrelevanter wäre als der Status-Titel einer „anerkannten Regionalsprache“, ist die Stärkung dessen, was Rowley „Bayerisches Deutsch“ nennt (Kap. 9) oder Ludwig Zehetner, so der Titel seines Wörterbuchs, „Bairisches Deutsch“ (Regensburg 2018). Das will gerade kein Dialektwörterbuch sein, sondern den Wortschatz versammeln, der einer regionalen, nämlich der im bairischen Sprachraum angesiedelten Variante des Standarddeutschen angehört. Das ist ein großer Unterschied. Zu oft werden nämlich regionale Unterschiede auf hochsprachlicher Ebene vorschnell als Dialektismen eingeschätzt – und gebrandmarkt. Anerkannt sind allenfalls nationale Varietäten des Standarddeutschen wie v.a. diejenigen Österreichs, der Schweiz und – nicht zu vergessen! – Deutschlands. Dessen Deutsch hat aber erstens gegenüber dem der andern Länder weder eine Vorrangstellung, noch setzt es eine Norm, von der die andern abweichen, sondern es stellt auch nur eine der Hochsprachvarianten dar. Zweitens ist das deutschländische Deutsch – kein Wunder bei dem großen Sprachraum – intern selber „plurizentrisch“, wie das die neuere Variationslinguistik nennt, und weist selber wiederum mehrere regionale Ausprägungen des Standards auf, so eben auch eine „bairische“, in der nichtwissenschaftlichen Lexikographie auch jetzt schon oft als „bayerisch-österreichisch“ gekennzeichnet, aber dadurch eben doch als „Abweichung“ von einer norddeutsch gedachten Standardnorm. Auch die Aussprache des Standarddeutschen mit bairischem ‚Akzent‘ oder etwa mit einem Zungenspitzen-r dürfte unter den Maßgaben der Plurizentrik dann nicht weiter diskriminiert werden.

Anthony Rowleys Sprachgeschichte des Bairischen deckt ziemlich alle Facetten des Themas ab. Sie ist zudem so geschrieben, dass sie nicht nur Sprachwissenschaftler, sondern auch Wissenschaftler anderer, v.a. historischer, Disziplinen und alle an Sprache interessierten Nichtfachleute erreicht.